und plötzlich ohne metapher

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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birke
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Beitragvon birke » 20.11.2015, 10:27

2. version


und plötzlich ohne metapher


kommt die angst
um dich:
du, in der großstadt
wenn du ins stadion gehst
oder über den markt
und plötzlich
geht eine bombe hoch


(november 2015)



"daher" nach angst gestrichen.
titel erweitert. und wieder zurück geändert. ;)





1. version


und plötzlich hab ich angst um dich
so wie ich es nicht kenne
du, in der großstadt
wenn du ins stadion gehst
oder über den weihnachtsmarkt
durch die menschenmassen
und plötzlich
wie im krieg
geht eine bombe hoch
Zuletzt geändert von birke am 03.12.2015, 21:38, insgesamt 9-mal geändert.
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 20.11.2015, 11:26

Deine Aussagen sind zweifellos sehr aktuell und herzlich-direkt, ist mir das insgesamt allerdings zu schlicht. Vielleicht auch, weil ein paar - wie ich finde - überflüssige Erklärungen drin sind.
Und wäre nicht gerade die Angst besser lyrisch zu erfassen?

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birke
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Beitragvon birke » 20.11.2015, 12:33

danke für die rückmeldung, amanita.
aber gerade das schlichte, direkte und eindeutige ist hier das wesen des gedichts.
(siehe auch titel).
die reine nackte angst?
natürlich kann man diese auch metaphorischer verarbeiten, keine frage. nur eben hier explizit nicht. ;-)

(wo ich dir recht gebe, die zeile mit den menschenmassen ist vermutlich überflüssig.)

lg
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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 20.11.2015, 12:49

Die Schlichtheit, die auch mich erst etwas gestört hat - würde man die Zeilen hintereinander schreiben, wäre das Ergebnis nicht weit weg von etwas, was man im Alltag einfach mal dahin sagen könnte - wird m.E. deutlich dadurch vermindert, dass der Text sich des weitgehenden Fehlens subtilerer Ausdrucksmittel bewusst ist und das durch den Titel auch thematisiert. Dadurch wird die Schlichtheit nämlich selbst zu einem subtilen und für das Thema auch sehr passenden Ausdrucksmittel. Ich würde aber sagen, dass hier der Titel ein ungewöhnlich wesentlicher Teil des Textes ist, ohne ihn würde der Text seinen Charakter deutlich ändern.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 20.11.2015, 13:10

Ja, das stimmt, das Anliegen steht im Titel.
Mein Gedanke vorhin war (unter vielen anderen), dass man die Schlichtheit dann ausreizen müsste - denn das könnte die Tatsache, dass man in seiner Angst keine (großen) Worte findet, besser untermauern.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 20.11.2015, 13:13

Meine "Erklär-Bären", auf die ich eventuell verzichten würde, wären vor allem

so wie ich es nicht kenne

und

wie im krieg

- Bomben lassen ja eigentlich immer zuerst an Krieg denken?

Niko

Beitragvon Niko » 20.11.2015, 14:03

hallo diana,
nur allzu gut verstehe ich deinen ansatz, hier bewusst eine schlichtheit zu schreiben. schnörkellos - direkt.
den kommentierern ist es zu nah an einem tagebucheintrag. - auch das kann ich etwas nachempfinden. allerdings glaube ich, dass man beides verbinden kann. ich versuche mich mal an deinem text, mit möglichst wenig veränderungen. sieh es als ein persönliches experiment. ok?


so wie ich es nicht kenne:
du, in der großstadt
irgendwo. im stadion oder
auf dem weihnachtsmarkt
ich habe angst
um dich

in den menschenmassen

könnte eine bombe hochgehen
diese könnte-bombe
hat schon eine vernichtende wirkung
wir denken krieg
wir freunden uns mit der angst an


naja............doch umschweifiger geworden. aber vielleicht bringt es dir etwas?

liebe grüße - niko

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birke
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Beitragvon birke » 20.11.2015, 15:00

danke sehr, mnemosyne, ja, der titel ist wichtig!

@amanita: ich muss mal sehen, ob ich hier tatsächlich verknappen möchte...
es würde doch den charakter, den "erzählton" etwas verändern.
und irgendwie ist mir das wort "krieg" hier auch wichtig. und "erklär-bären", :smile: ich weiß nicht -
es sind alles aussagen, die zwar nicht unbedingt der information dienen, aber einer stimmung.
muss ich mal sacken lassen.

niko, herzlichen dank auch dir, auf jeden fall spannende assoziationen/ gedanken! (mir jedoch etwas zu "verschnörkelt" hier. ;))

lg
diana
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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 20.11.2015, 16:07

Ich mag die "könnte-Bombe". Eine schöne Formulierung dafür, dass die Möglichkeit bisweilen so wirksam wird, dass sie die Wirklichkeit verstellt.

aram
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Beitragvon aram » 22.11.2015, 09:06

liebe birke,

als blog-eintrag würde ich diesen text etwa so lesen: jemand drückt eine befindlichkeit aus, von der man annehmen kann, dass sie dieser tage zig-tausende (vorwiegend aber nicht nur) westliche stadt-menschen auf vergleichbare art erleben, eine regional gerade aktuelle kollektive angst und betroffenheit. hier wird nachvollziehbar und individuell darüber gesprochen. so weit, so gut.

den literarischen text lese ich anders. die thematik einer metaphernfreien lyrik finde ich spannend. mir kommt wolfgang bauers "flucht in die reinheit" in den sinn. "und plötzlich ohne metapher" scheint mir den versuch einer 'flucht in die reinheit' ganz im bauerschen sinn darzustellen - eine wie ich finde sehr interessante variation, da sie unter quasi umgekehrten vorzeichen erfolgt. während die ausgangslage bei bauer ein willens-kraft-akt ist, der dichtung die "gurrenden metaphern" auszutreiben, ist es hier ein unwillkürlicher verlust.
die metapher bleibt dem lyr.ich "plötzlich" aus.
warum? sie war wohl zu schwach. sie hält dem reality-check einer angstvollen betroffenheit nicht stand.

(resultiert bei bauer ein (ironisches) "so schön und einfach ist die welt / so heiter ist das leben / wenn die metapher fehlt", ist es bei birke ein "wie im krieg" - diametral anderes fazit auch als das bauersche *] "kurz vor deinem schrecklichen tode / werde ich noch / - ob du es willst oder nicht - / dichten mit dir, daß du schreist")

kritik: so beachtenswert der inhaltliche ansatz von "und plötzlich ohne metapher", so mangelbehaftet die konkrete umsetzung. dass der text vordergründig metaphernfrei ist, aber doch mit illustrativen beispielen wie "oder über den weihnachtsmarkt" arbeitet, und zum ende einen fetten vergleich ("wie im krieg") setzt, finde ich nicht überzeugend.
die parallelstellung von "plötzlich ohne metapher" zu "plötzlich geht eine bombe hoch" ist dick aufgetragen... als schwirrten im bewusstsein des lyr.ich ständig metaphern rum, die mit der detonation der bombe schlagartig ausbleiben.

für eine grundlegende schwäche halte ich, dass der text fundamental selbstreflexiv angelegt ist, eine reflexion darüber, dass die "bombe", die das lyr.ich um das lyr.du fürchten lässt, nur vorgestellt ist, jedoch tunlichst unterlässt. denn es ist ja etwas imaginiertes, das hier so real wirkt, dass "die metapher" ausbleibt - und eben gerade nicht das real erlebte.

ich fand es interessant, den text auf den verschiedenen ebenen auf mich wirken zu lassen. liebe grüße.



*] aus anderm text desselben bandes: wolfgang bauer: "das herz". gedichte. residenz verlag, salzburg 1981

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birke
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Beitragvon birke » 22.11.2015, 10:11

hallo zusammen,
danke sehr, aram, für deine ausführliche und interessante kritik.
ich muss wohl einsehen, dass der text nicht so wirkt, wie von mir beabsichtigt… die idee, die dahinter steht, die hast du wunderbar auf den punkt gebracht, aram, aber die durchführung ist wohl doch zu platt, wie auch aus den anderen kommentaren hervorgeht.
ob nun eine verknappung hilft? ich habe es mal versucht, siehe oben. habe den titel diesmal mit dazu gesetzt, weil er unbedingt zum text gehört.
besten dank euch!
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Eule
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Beitragvon Eule » 22.11.2015, 18:22

Nominiert ! Danke und herzliche Grüsse ! :book3:
Ein Klang zum Sprachspiel.

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birke
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Beitragvon birke » 23.11.2015, 12:21

:smile: merci, eule!
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 23.11.2015, 14:19

viiiiiel besser ;)

aber noch ein kleiner Wermutstropfen: Das

... daher/
um dich

finde ich nicht ganz glücklich. Eins von beiden würde ich weglassen.


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