So, ihr Lieben,
hier nun mein traditioneller Weihnachtstext für dieses Jahr. Wohl bekomm's.
I
Meister Li erwachte mit dem ersten Sonnenstrahl. Der Strahl fiel durch das einzige Fenster seiner kleinen Kammer, welches nach Osten wies, um nichts von der Gabe des Lichtes zu verschwenden. Er rollte die Bastmatte ein, die ihm als Nachtlager diente und ging zur rechten Wand seiner Kammer, in der sich eine kleine Einbuchtung mit Bildern seiner Vorfahren befand. An der dort brennenden Kerze entzündete er eine neue, die er gegen die alte austauschte. Dann trat er an die gegenüberliegende Wand, in der sich Bilder aus Reihe der Meister seiner Schule befanden und wiederholte dort den Vorgang. Anschließend trat er ins Freie und wusch sich mit dem eiskalten Wasser des Baches, der wenige Meter vor der Tür durch den Garten plätscherte. Eine Biene, die in den Wellen strampelte, schöpfte er behutsam heraus und setzte sie auf einer Blüte ab.
Danach begann er mit seinen morgendlichen Übungen. 50 Liegestütze auf Daumen, Zeige- und Mittelfinger der linken Hand, dann 50 mit der rechten. Er hob das rechte Bein, bis es mit dem linken nahezu eine gerade Linie bildet, griff mit beiden Händen über seinem Kopf seinen Fuß und blieb so 100 ruhige Atemzüge lang stehen, ehe er das gleiche mit dem linken Bein wiederholte.
Als nächstes begab er sich zu einem von zwei im Abstand von 2-3 Metern aufgestellten Holzpfählen, gerade groß genug, um auf den Zehenspitzen darauf zu stehen, erklomm ihn und sprang mit einem Salto zum zweiten und wieder zurück, und hin und zurück, einige Dutzend Male.
Er stieg vom Pfahl herunter, begab sich auf eine weitläufige, flache Wiese und durchlief die Formen, alle zwölf, zunächst sehr langsam, dann schneller, zuletzt in wechselndem Tempo, lange, ruhige, regungslose Atemzüge, gefolgt von einem blitzschnellen Wirbel von Sprüngen, Faust- und Fußstößen.
Schließlich setzte er sich auf einen flachen Stein, den Blick zur Sonne, zur Meditation nieder. Mit geschlossenen Augen saß er da, reglos, und indem er alles losließ, wurde er mit allem eins. Das Summen der Bienen, das Gezwitscher der Vögel, der große Atem des Windes – die Leere hob all das nicht auf, sie umfasste es.
Ein Laut brach in die Leere ein, ein fremder, eigenartiger Laut, der sich nicht recht in die Harmonie zu fügen schien. Li spürte dem Ton in Gedanken nach, bis ihm einfiel, dass es sich um sein Telefon handelte. Ein störendes Geräusch, lästig, doch nun war es vorbei. Li versuchte, es rasch zu vergessen. Ganz falsch, dachte er. Was man zu vergessen versucht, das hält man fest; die Kunst ist, es fallen zu lassen. Aber dazu gehörte eben auch, es nicht einmal fallen lassen zu wollen, es einfach sein zu lassen, erst recht aber nicht über diese Dinge nachzudenken oder gar darüber, dass man darüber nachdachte, obwohl man es nicht sollte. Tat man das, dann suchte man den Weg und wenn man den Weg suchte, war man weit ab vom Weg.
Li schlug die Augen auf. Bei dieser inneren Unruhe würde es nicht möglich sein, in die Meditation zurück zu finden. Nun fiel ihm ein, dass der Ton, den er gehört hatte, eine eingehende Nachricht anzeigte. Jetzt aber war es erst einmal Essenszeit: Wasser, ein Fladenbrot, Früchte. Er teilte das Brot, ein Stück für die Vorfahren, eines für die Meister der Schule, ein Stück für sich selbst, ebenso Früchte und Wasser. Dann breitete er die Speisen auf einem kleinen Holztisch aus, setzte sich davor auf den Boden und griff nach dem Wasserkrug.
Wie üblich begann er, sich ganz auf seine Mahlzeit einzulassen, sich der Einsicht zu öffnen, dass alles mit allem verbunden war: Im Brot schmeckte man die Kühle des Wassers, den fruchtbaren Schoß der Erde, die Kraft der Sonne. Jeder Bissen vollzog so die große Einheit. Um diese Zeit bekam er gewöhnlich keine Nachrichten. In der Frucht lag der Baum, lag die Blüte, lag die Biene, die die Blüte bestäubte, aber auch der Vogel, der den Samen weitertrug. Hatte es letzte Nacht geregnet? Im Wasser die Beständigkeit in der wechselnden Erscheinung, die immer eines war, ob sie als Eis fest und hart dem stärksten Schlag widerstand oder als unfassliche Wolke über den Himmel zog. Wenn es geregnet hatte, war das womöglich der Hausmeister, der ihm mitteilen wollte, dass wieder Wasser in die Halle gelaufen war. Mit der Konzentration war es vorbei. Betreten schluckte Li die Reste seines Frühstücks herunter. Wenn Wasser in der Halle stand, musste er rechtzeitig Bescheid geben, dass die Übungen heute wieder im Garten stattfanden.
Aber es war doch alles trocken. Li kramte das Telefon aus einer Schublade in seinem kleinen Schrank und runzelte die Stirn. Der Absender der Nachricht war ein gewisser „Luan“. Li hatte diesen Namen noch nie gehört. Der einzige Inhalt bestand aus einem Link, der zu einer großen Videoplattform führte. Kurzerhand klickte Li darauf.
II
Luan war ein zartes Kind gewesen. Noch mit zehn Jahren war er fast einen Kopf kleiner gewesen als die meisten seiner Klassenkameraden. Die anderen in seiner Klasse schubsten ihn herum oder ignorierten ihn. Bis auf Mailin. Der erging es wie ihm. Sie fand obszöne Zeichnungen von sich an der Tafel, Hundekot auf ihrem Stuhl. Sie fand ihre Schulbücher im Mülleimer. Und bisweilen auch sich selbst. Die Lehrer, die sonst streng auf die Disziplin achteten und auch für kleine Verstöße oft die ganze Klasse nachsitzen ließen, sahen darüber wort- und tatenlos hinweg. Sie befahlen einem Schüler, die Tafel zu wischen, sie tadelten Mailin wegen des Zustandes ihrer Bücher und Kleider („man will nicht wissen, wie es da zuhause zugeht!“); und als sie nach Anfang der Stunde hilflos neben ihrem beschmutzten Stuhl stand, da hatte der Lehrer sie scharf angewiesen, den Unterricht nicht zu stören und sich endlich hinzusetzen. Die Klasse hatte gespannt zugeschaut, viele hatten gekichert. Auch dann noch, als Mailin in Tränen ausgebrochen war. Mailin war eine Hui und auch, das wussten alle, auch wenn niemand so recht hätte sagen können, was das eigentlich hieß, war eines allen instinktiv klar: Die gehörte nicht dazu.
Luan wusste so wenig wie die anderen, was eine Hui war. Es kümmerte ihn auch nicht. Er wusste, dass Mailin ihm einmal aufgeholfen hatte, nachdem er wieder einmal zu Boden geschubst worden war, und mit ihm seine umherliegenden Schulsachen aufgesammelt hatte. Dafür war er einmal auf einen Baum geklettert, um ihr Kopftuch herunterzuholen. Und das hatte ihm genügt. Mit einem Ruck war er aufgestanden, hatte seinen Stuhl gegen den von Mailin getauscht und sich hingesetzt.
Das hatte ihm zweierlei eingetragen: den Spitznamen „Scheißkerl“ und etwas, was er bis daher nur aus Geschichten kannte: Freundschaft. Keine Freundschaft, bei der man zusammen Eis essen oder ins Kino ging. Mailins musste gleich nach der Schule nach Haus gehen; undenkbar, dass sie sich mit einem Jungen traf. Aber sie gingen oft ein kleines Stück ihres Heimweges gemeinsam und schmiedeten Pläne, zusammen durchzubrennen. Keiner dieser Pläne kam je auch nur in die Nähe einer Verwirklichung; aber sie gaben ihnen das, was sie brauchten: Hoffnung.
III
Ein Video öffnete sich. Li sahn einen Mann von Ende 20 mit einem Bürstenhaarschnitt und einem ärmellosen Hemd, das den Blick auf muskulöse Oberarme freigab.
„Ey Li, alter Kung Fu-Held!“ sagte der Mann. „Ich habe gerade ein bisschen was über dich im Fernsehen gesehen, und ich bin ja echt beeindruckt.“
Der Mann verschwand und stattdessen wurde eine Aufnahme eingeblendet, in der Li, die Hände auf dem Rücken, einem Boxer gegenüber stand, der sich vergeblich abmühte, ihn zu treffen. Jedem Schlag wich Li mit katzenhafter Geschmeidigkeit aus.
„Ein echter Albtraum für jeden Gegner, der Kerl.“ erklang es aus dem Off, „Der kann einen ja KO ausweichen. Komisch, dass man so etwas in der Box-WM oder den olympischen Spielen nie zu sehen bekommt. Aber das zeigt eben nur, wie krass der Typ ist.“
Nun war wieder das Gesicht des Mannes zu sehen; Li sah nun, dass „Luan's Channel“ über dem Videofenster stand. Vermutlich handelte es sich also um den Luan, der ihm die Nachricht geschickt hatte.
„Für die von euch, die sich jetzt fragen, wer dieses große Boxtalent ist und wo sie mal einen Kampf von ihm gesehen haben: Er nennt sich Li und ist ein Kung Fu-Meister in Xian. Und fürs Boxen hat der Typ einfach nicht viel Zeit, der kann nämlich alles!“
Nun sah man wieder Li, wie er, unbewaffnet und nur mit einem lockeren orangen Baumwollgewand bekleidet, den Angriffen eines Degenfechters in voller Schutzausrüstung auswich, schließlich mit einem Salto über ihn hinweg sprang und in seinem Rücken landete.
„Heftig, oder? Wie ein Jedi! Da muss man schon zu mehreren kommen, um gegen den eine Chance zu haben.“
Nun wurde Li gezeigt, der ganz allein mit einem Rugby-Ei über eine Wiese rannte, durch mehrere Reihen großgewachsener Männer in Rugby-Monturen hindurch, die sich vergeblich bemühten, ihn aufzuhalten oder einzuholen, ehe er die Ziellinie erreichte.
„Aber nicht mal das bringt etwas. Der Kerl ist wirklich mit allen Wassern gewaschen. Es gibt da nur ein kleines Problem...“
Hier machte Luan eine Kunstpause.
„...nämlich, dass das alles Fake ist.“
Der Schriftzug „Fake“ erschien in schneller Folge auf Bildern, auf denen Li mit dem Boxer, dem Fechter und auf dem Rugbyfeld zu sehen war.
„Schaut euch das einmal an!“ Hier sah man in Zeitlupe eine Wiederholung der Szene, in der der Fechter mit seinem Degen nach Li stieß. Die Spitze der Klinge war mit einem roten Kreis markiert. Wie man deutlich erkannte, befand sie sich etwa zehn Zentimeter von Li entfernt. „Der Kerl versucht nicht einmal, ihn zu treffen. Mit dem Boxer ist es übrigens dasselbe.“ Auch das wurde durch eine Wiederholung in Zeitlupe anschaulich belegt. Und was das Rugby-Team angeht...“ Hier wurde erneut eine Szene gezeigt, in der Li auf eine Phalanx auf drei bulligen Burschen zurannte und wie eine Schlange durch sie hindurch glitt. Nur langsamer, so dass man deutlich sah, wie sie knapp vor Lis Eintreffen eine Lücke bildeten und hinter ihm rasch wieder schlossen.
„Alle diese Aufnahmen sind gestellt.“ verkündete der Sprecher. „Das wäre natürlich nicht schlimm, wenn das ganze nicht gerade >Doku< hieße. Es ist ja nett, ein guter Schauspieler zu sein. Aber leider ist das nicht alles.“
Nun sah man Li im Profil. „Das Kung Fu ist über Jahrtausende bewahrt, entwickelt und perfektioniert worden.“ hörte man die Stimme eines Sprechers, die von dramatischer Musik unterlegt wurde, während die Kamera Lis Gesicht umkreiste. „Westlichen Spielereien wie Boxen, Fechten, Ringen, auch neueren wie dem Kickboxen oder den MMA ist es bei weitem überlegen. Wer es beherrscht, ist die perfekte Waffe.“ Dann hörte man Li sagen: „Gegen die Stärke, die im Kung Fu, liegt, hat die MMA-Technik nichts aufzubieten.“
Luan erschien wieder. „Habt ihr das gehört? Nichts aufzubieten. Da fragt man sich doch, woher er das weiß. Ich meine, wer so etwas sagt, hat doch bestimmt schon viel Erfahrung im Ring, gesammelt, oder? Und nun ratet mal, wie viele Treffer ich kriege, wenn ich nach >Meister Li Kampf< suche?“ Ein Tusch ertönte, und über Lis Gesicht wurde eine 0 angezeigt. „So ist es. Der Kerl hat noch keinen einzigen Kampf gehabt, behauptet aber, der Beste zu sein. Damit ist er übrigens nicht der einzige.“
Nun sah man einen älteren Mann in einer weißen Robe, der sagte: „Die wahre Macht liegt in der Konzentation des Chi. Durch meine jahrelange Übung kann ich jeden Kämpfer betäuben, ohne ihn auch nur zu berühren!“
„OK“ sagt nun wieder Luan, „hier ist, was ich davon halte: Li, Du bist ein Scharlatan, ein Möchtegern, dessen Kunststückchen dich im Ring allenfalls zum Pausenclown qualifizieren. Das Kung Fu ist wirkungsloser, mystischer Bullshit, der weder im Ring noch im richtigen Leben funktioniert.“ Er holte kurz Luft, ehe er fortfuhr: „Ich sehe schon eure Kommentare: >Lasst die doch spielen, wenn es ihnen Spaß macht. Es schadet ja keinem.< Denen, die so etwas schreiben wollen, will ich etwas sagen: Doch, es schadet. Diese Leute ziehen Leuten, die lernen wollen, sich zu verteidigen, das Geld aus der Tasche und lassen sie ihre Zeit mit völlig nutzlosen Kunststückchen verplempern.“
An dieser Stelle wurde eine Szene aus Lis Training gezeigt. Man sah Xin, eine Schülerin von damals sechzehn und heute siebzehn Jahren, wie sie sich mit mehreren Flic-Flacs durch die Halle bewegte, mit einem Salto abschloss und mit einem scharfen Kampfschrei im Spagat landete.
„OK, zugegeben, das mit dem gut Aussehen können sie.“ Dazu wurde ein Bildausschnitt herangezoomt, auf dem zu sehen war, wie sich Xins Brüste unter ihrem verschwitzten Sporthemd abzeichneten.
Dann kam eine Aufnahme, in der Xin dabei gezeigt wurde, wie sie eine mehrere Zentimeter dicke Holzplatte durchschlug. „Und wenn ihr mal was für den Ofen braucht und keine Axt habt, im Holzhacken sind sie auch echt gut!“
„Aber Spaß beiseite, denn das ist eben auch alles, was sie können. Sie denken, sie wären das hier:“
Nun sah man eine Szene aus einem Bruce Lee-Film, in dem der Filmheld mühelos ein Dutzend bewaffneter Gegner abwehrte.
„Während sie in Wahrheit das hier sind:“ Bruce Lee verschwand und wich einem Pudel, der einige Male über ein ihm etwa in Kniehöhe hingehaltenes Stöckchen sprang, anschließend Männchen machte und dafür ein Leckerli bekam.
„Also, außer der Sache mit dem Leckerli. Diese großen Kung Fu-Helden dürfen nämlich nicht mal vögeln. Das muss echt schlimm sein, bei so einem tollen Waschbrettbauch.“ Hier wurde eine Szene eingeblendet, wie ein Holzstab auf Meister Lis nacktem Bauch zerschlagen wurde. „Aber das eigentliche Problem, das ich mit diesen Typen habe, ist ein anderes: Sie sind Betrüger, und sie gefährden andere. Sie schicken leichtgläubige Deppen in dem Glauben in die Welt, sie könnten sich verteidigen, während sie einem echten Angreifer in Wirklichkeit allenfalls eine kleine Akrobatik-Vorführung bieten können. Und keiner merkt's, weil alle euren Quatsch glauben und sich deshalb keiner traut, euch anzugreifen und mal zu schauen, was ihr wirklich drauf habt. “ Er schnaubte verächtlich. „Jetzt juckt es bestimmt schon viele von euch in den Fingern, mir unter dieses Video zu schreiben, dass ich ja keine Ahnung habe und mir der Kerl ja sowas von in den Arsch treten würde, wenn ich mich trauen würde, ihm das ins Gesicht zu sagen. Und damit kommen wir zum Punkt, denn genau das mache ich jetzt:“ Die Kamera zoomte an ihn heran, so dass man nun nur noch sein Gesicht sah: „Li, deine Schule ist ein Haufen armer Irrer und deine Kunst ist wertlos. Du selbst bist ein Scharlatan, ein Möchtegern und ein Pausenclown. Ich werde aller Welt beweisen, dass Du das bist. Ich trainiere seit 10 Jahren MMA, Du seit 30 Jahren Kung Fu. Zeig mir, dass ich mir irre, wenn Du kannst. Ich fordere dich heraus. Mann gegen Mann. Du und ich. Sag mir Ort und Zeit. Ich komme, verlass dich drauf! Und dann werden wir sehen, was deine >Kunst< wert ist!“
In der letzten Einstellung sah man Luan von hinten, wie er, breitbeinig und die Hände in die Hüften gestemmt, auf eine Drachenfahne, das Symbol von Lis Schule, urinierte.
IV
Wenige Wochen nach Luans zwölftem Geburtstag war Mailin verschwunden. Als Luan in die Klasse kam, war dort, wo ihr Stuhl und Tisch gestanden hatten, nur noch ein Stück nackter Boden. Zu Beginn der ersten Stunde hatte Luan den Lehrer erwartungsvoll angeschaut. Der jedoch hatte mit keiner Regung erkennen lassen, dass irgendetwas Ungewöhnliches oder gar Erklärungsbedürftiges geschehen war. Er hatte einfach seinen Unterricht begonnen und die Schüler hatten sich ohne das geringste Anzeichen von Unruhe beteiligt.
In der dritten Stunde war Luan zu der Überzeugung gelangt, er müsse etwas wichtiges überhört haben. Es war ja einfach nicht möglich, dass alles seinen gewohnten Gang ging, während mitten im Klassenraum diese Lücke gähnte. Als der Lehrer nach den Lebensdaten des Konfuzius frage, hatte er daher aufgezeigt und, als er aufgerufen wurde, gefragt, wo Mailin sei. Die Antwort war ein Schlag mit dem Lineal gewesen, gefolgt von der Aufforderung, den Unterricht nicht mit seinem Unsinn zu stören. Ein anderer kam dran, sagte stolz „551 bis 479 vor Christus“ und erhielt ein Lob.
Nachfragen bei seinen Klassenkameraden erwiesen sich als ebenso unergiebig. Die wenigen, die ihn überhaupt dazu kommen ließen, etwas zu sagen, wandten sich ab, sobald Mailins Name fiel. Luan versuchte sogar, sich beim Direktor zu erkundigen, wurde aber gar nicht erst zu ihm vorgelassen.
Doch er gab nicht auf. Über eine Woche lang versuchte er alles, was ihm einfiel. Er rief die Nummer an, die auf seiner Klassenliste stand, erhielt aber nur die Meldung, die Nummer sei unbekannt. Er fuhr zu dem großen Miethochhaus, in dem Mailin wohnen musste, fand aber ihren Nachnamen dort auf keinem der Klingelschilder. Er begann, wahllos Leute im Hausflur zu befragen, erntete aber nur hochgezogene Augenbrauen und schließlich die Drohung mit der Polizei. In der Polizeiwache hatte man ihm barsch erklärt, man sei nicht die Auskunft und ihn des Gebäudes verwiesen. Schließlich hatte er Zettel geschrieben, die dazu aufforderten, ihn anzurufen, wenn man etwas über den Verbleib von Mailin oder ihrer Familie wisse.
Doch kein Hinweis war gekommen. Bis er, 9 Tage nach Mailins Verschwinden, auf dem Heimweg von der Schule in der Straße, in der er wohnte, das Auto bemerkt hatte. Eine schwarze Limousine hatte am Straßenrand gestanden, neben der zwei Männer in schwarzen Anzügen standen und sich unterhielten. Während er auf sie zugelaufen war – das Haus, in dem er wohnte, lag etwa hundert Meter hinter ihnen – hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, sich einzubilden, sie wären seinetwegen hier. In seiner Vorstellung war er ein Geheimagent, der einer Verschwörung auf die Spur gekommen war und nun von den Agenten des Feindes verfolgt wurde. Das würde ihnen nicht gut bekommen, sich mit Agent Luan anzulegen, dachte er. Er bemerkte, dass das Auto direkt vor einer der dunklen Gassen zwischen den Häusern geparkt war, in denen die Bewohner ihren Müll lagerten. „Bestimmt Müllmänner“ dachte er, während er die Männer passierte und wollte über seinen Scherz gerade lächeln, als sie ihn rechts und links packten und in einige Meter in die Gasse zerrten. Dort drückte der größere von beiden ihn an die Wand. „Wir haben gehört, Du suchst jemand.“ sagte der andere. „Stimmt das?“
Und Luan, verwirrt zwar und auch erschrocken, aber doch über die Aussicht erfreut, nun etwas zu erfahren, antwortete: „Ja, ich suche meine … Freundin Mailin. Sie ist seit letzter Woche versch...“
Weiter kam er nicht. Der Mann, der ihn fest hielt, ließ ihn unvermittelt los und grub ihm die Faust in den Magen. Luan knickte nach vorne, wo ihn ein Haken von unten ins Gesicht traf und ihn von den Füßen riss, so dass er rückwärts mit einem schmatzenden Geräusch in irgendetwas Unaussprechliches fiel.
„Falsche Antwort.“ gab der andere zurück, mit einer Stimme, die so ungerührt war, als habe er sich nach den Lebensdaten von Konfuzius erkundigt. „Die kann man nicht suchen. Die gibt es nämlich nicht, die wird es nie wieder geben und die hat es auch nicht gegeben. Die Frage ist...“ Der Mann griff unter seine Jacke und zog zu Luans Entsetzen Handschellen hervor. „Die Frage ist, ob es dich gibt. Denn nach jemand zu suchen, den es gar nicht gibt – das ist eigentlich so verrückt, dass es das gar nicht geben kann. Also -“, und damit trat er mit seiner stahlverstärkten Sohle auf die Finger von Luans rechter Hand, so dass Luan vor Schmerz aufstöhnte, „überleg es dir schnell. Gibt es dich?“ Und Luan, der verstand, dass es hier um sein Leben ging, mindestens um sein Leben ging, mindestens um sein Leben ging, schoss es ihm durch den Kopf, als ihm seine Eltern und seine Geschwister einfielen, antwortete gequält: „Ja.“
„Das freut mich aber.“ Der Druck auf seine Finger wurde etwas leichter. „Und suchst Du jemand?“ Wann immer Luan später an diesen Moment zurückdachte – und das geschah oft – hielt er sich etwas darauf zugute, dass er trotz allem, trotz der Vergeblichkeit jeder Rebellion, trotz der Angst um sein Leben und das seiner Familie, trotz der grausamen Schmerzen in seinen Fingern ein paar Sekunden gezögert hatte, ehe er hervor gequetscht hatte: „Nein, niemand.“ „Das wollte ich hören, Junge.“ Der Mann nahm den Fuß von seiner Hand. „Pass nur auf, dass Du es dir gut merkst.“ Damit klimperte er noch einmal mit seinen Handschellen, ehe die beiden Männer zum Auto gingen und davon fuhren.
V
Einige Zeit später stand Meister Li vor einem Schreibtisch, hinter dem ein Mann von Mitte 50 sich ihm als Han vorstellte. Er trug eine graue Krawatte zu einem schlichten Anzug. Nach einer knappen Begrüßung war er hinter den Schreibtisch getreten und hatte einige Unterlagen aufgenommen. Nun saß Li schon seit fünf Minuten vor dem Lesenden und wartete. Viel zu sehen gab es hier nicht. Die Wände waren weiß, der Schreibtisch bestand aus einer Glasplatte auf vier metallischen Beinen, deren silberne Färbung der des einzigen Möbelstücks, eines Aktenschrankes, entsprach. Fast fröstelte man vor kühler Funktionalität. Das einzige Fenster befand sich hinter dem Schreibtisch, eines von hunderten kleiner Augen, mit denen der Glasbetonbau in die Welt blickte. Was nicht hieß, dass einem beim Warten langweilig wurde. Auf dem Stuhl, auf dem Li jetzt saß war, wie auf den meisten Stühlen gleicher Art in diesem Gebäude, wohl selten jemand langweilig gewesen, der nicht verrückt war oder mit dem Leben abgeschlossen hatte.
Endlich blickte der Mann auf. „Sie sind Herr Li Chen, richtig?“
Meister Li bejahte.
„Ich fühle mich geehrt, einen solch bedeutenden Meister und Bewahrer unserer traditionellen Kampfkunst in meinem Büro begrüßen zu dürfen.“
Meister Li deutete eine Verbeugung an und wollte, wie es der Sitte entsprach, mit einer bescheidenen Floskel erwidern, doch der Mann ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Nun, es geht um ein Video, auf das wir heute Morgen aufmerksam geworden sind.“ Der Mann drehte ihm den Flachbildschirm seines Desktop-Computers hin. Das Bild zeigte das Ende des Videos, Luans Rücken vor der Drachenfahne.
„Kennen Sie es?“
Meister Li nickte.
„Nun, Sie sollen wissen, dass wir – wie jeder gute Bürger im Land – die hohe Kunst des Kung Fu und ihre großen Meister mit Ehrerbietung und Respekt betrachten und über diese abscheuliche Verleumdung tief empört sind.“
Wiederum wollte Meister Li etwas erwidern, doch der Mann fuhr fort, ehe er dazu kam.
„Sie lehren die Jugend Anstand und Disziplin. Sie regen die Bürgerinnen und Bürger zu regelmäßigen körperlichen Übungen an und leisten damit einen begrüßenswerten Beitrag zur Volksgesundheit. Zudem tragen Sie dazu bei, die Jahrtausende alte Tradition unsere großen Volkes in lebendiger Erinnerung zu halten. Wir wissen das zu schätzen.“
Ein Funken Hoffnung glomm in Meister Li auf. Vielleicht ging es der Verwaltung wirklich nur darum, ihm angesichts der erlittenen Beleidigung ihre Wertschätzung auszudrücken?
„Ich bin geehrt und gerührt.“ antwortete Meister Li. „Ich hätte mit soviel Anteilnahme der mit so vielen wichtigen Dingen beschäftigten Behörden nicht gerechnet.“
Augenblicklich schalt Meister Li sich einen Narren, doch es war zu spät. Han blickte ihn scharf über den Rand seiner Nickelbrille an.
„Unsere Behörde nimmt an allem Anteil, was in diesem Land geschieht. Kein Bürger, kein Ereignis ist für uns unbedeutend.“
„Gewiß“, erwiderte Meister Li, „ich zweifle nicht daran. Doch dass Sie sich die Zeit nehmen, mich eigens einzuladen, hier persönlich mit mir zu reden.“ Er hätte sich die Zunge abbeißen können. Nur hatte das ja wenig Sinn, wenn man bereits gesprochen hatte.
Die Miene des Mannes indes blieb ungerührt. Meister Li hatte den Eindruck, dass sein Mund eine Spur schmaler geworden war.
„Sicher sind Sie ein vielbeschäftigter Mann mit vielen wichtigen Aufgaben. Wir hoffen, dass wir Sie, indem wir Sie eingeladen haben, um Ihnen unsere Wertschätzung auszudrücken, nicht an etwas wichtigerem gehindert haben?“
Meister Li zwang sich, seinen Atem unter Kontrolle zu halten. Dieser Mann, das wusste er, war geduldiger als es die meisten anderen seines Schlages gewesen wären. Wenn er das Gebäude in absehbarer Zeit zu Fuß und durch die Vordertür verlassen wollte, musste er jetzt größte Vorsicht walten lassen.
„Natürlich nicht! Ich als ein Verwahrer, wie Sie sagen, der alten Tradition, staune nur immer wieder über die Größe und Güte unserer Behörden.“
Meister Li sah, wie sich die unbewegten Züge des Mannes etwas entspannten. Was natürlich unmöglich war. Immerhin half es ihm, sich etwas zu beruhigen, trotzdem daran zu glauben, dass er das sah. Was nicht schaden konnte.
„Achtung vor der Tradition und Sorge um die Zukunft sind die beiden Quellen, aus denen unsere Stärke in der Gegenwart entspringt.“ gab der Mann gemessen zurück. „Dass wir die Tradition in Ihrer Person achten, haben wir nun dargetan.“ Er schwieg einen Moment und Meister Li wurde jäh von dem irrwitzigen Gedanken befallen, das Gespräch könne damit vorbei sein. Schon neigte er den Oberkörper etwas nach vorne, unwillkürlich, in der Erwartung, bald aufzustehen, als sein Gegenüber doch noch fortfuhr: „Damit bliebe unser zweiter Punkt: Die Sorge um die Zukunft. In diesem Sinne fragt sich unsere Behörde, was Sie in dieser Angelegenheit zu unternehmen gedenken?“
Also doch. Jetzt kam alles darauf an, den richtigen Ton zu treffen. „Das erste, was ich – was wir unseren Schülern beibringen, ist, dass das Kung Fu eine Kunst ist und der Künstler hinter seiner Kunst zurückzutreten hat. Dazu gehört es, die Würde unserer ehrenwerten Tradition nicht zu beflecken, wie es etwa geschähe, wenn man die über Jahrtausende entwickelten Techniken unserer Schule wie auch die jahrelange Disziplinierung des eigenen Körpers dazu missbrauchen wollte, irgendeinen dahergelaufenen Dummkopf zu züchtigen, der einem ein Schimpfwort nachgerufen hat. Ganz im Gegenteil lehren wir für diesen Fall, dass die eigentliche Überlegenheit darin liegt, solche Beleidigungen als Ausdruck eines unreifen Charakters anzusehen, den man selbst durch den Weg des Kung Fu überwunden hat. Aus einem unbeherrschten Mund spricht bloße ungezügelte Natur und noch kein ganzer Mensch. Der Weg der Stärke ist es daher, so etwas nicht mehr Beachtung zu schenken als dem Geschrei eines Esels und den Betreffenden so darauf hinzuweisen, dass ein unbeherrschtes Handeln folgenlos verpufft. Der Weg der Größe hingegen ist es, den Unbeherrschten als einen Bedürftigen anzusehen und ihm darüber hinaus Belehrung und Hilfe anzubieten auf dem Weg zur Selbstbeherrschung, sprich: Ihn einzuladen, selbst Kung Fu zu lernen. Nun wurde dieser Klumpen mir über viele tausend Kilometer hinweg vor die Füße geworfen. Meine Absicht ist es also, das Gepöbel dieses jungen Mannes als das sichtbar werden zu lassen, was es ist, indem ich ihm keine weitere Beachtung schenke.“
„Sie gedenken also, nichts zu tun?“
„Tatsächlich denke ich, dass das das Beste ist, was ich tun kann.“
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Li sah, wie der Mann ihn musterte und sich dann in seinem Stuhl zurücklehnte. „Sie sind ein Meister der inneren Bildung. Wir schätzen das. Die Einstellung, die Sie beschreiben, trägt dazu bei, dass es in unserem Land zivilisiert zu geht und nicht jede unbedachte Äußerung gleich in eine Schlägerei ausartet. Leider liegen die Dinge hier etwas anders. Dieser Luan hat Sie nicht auf der Straße beleidigt, sondern im Internet, sichtbar für jedermann auf der Welt und schon oft gesehen von vielen auf der Welt, so sehr wir uns auch um Schadensbegrenzung bemüht haben. Damit ist das hier keine Sache bloß innerer Qualitäten; es ist nicht mehr nur eine Sache zwischen diesem Luan und Ihnen; vielmehr ist es eine Sache der Politik.“
Li horchte auf. Er war nun ehrlich neugierig.
„Sehen Sie, er hat ja nicht nur Sie persönlich angegriffen, sondern das Kung Fu gleich mit, das, wie wir uns ja schon einig sind, ein wichtiger Bestandteil unserer Tradition ist. Hier liegt also eine öffentliche Herabsetzung unserer ganzen Kultur vor, die wir schon für sich genommen nicht einfach tatenlos hinnehmen könnten. Allerdings gehen die Schwierigkeiten weit darüber hinaus. Ich will Ihnen nur einige Punkte nennen, damit Sie sich einen Eindruck davon machen können, worum es hier geht.“ Damit stand Han auf und begann, im Raum auf und ab zu laufen.
„Da wäre zum einen die Bedeutung des Kung Fu für unseren Export und die Verbreitung chinesischer Kultur im Ausland allgemein. Sie würden sich wundern, welchen Umsatz allein unsere Filmindustrie weltweit mit Kung Fu-Filmen macht. Weltweit lernen Menschen dadurch China als den Ursprung einer Disziplin anzusehen, die geradezu übermenschliche Kräfte verleiht. Abgesehen davon, dass Landsleute von uns überall auf der Welt davon leben, Kung Fu zu unterrichten, sorgt das dafür, dass chinesischer Kultur auch insgesamt mit Bewunderung und Respekt begegnet wird. Und mit unserer Kultur auch unseren Landsleuten selbst, was mich zum zweiten Punkt bringt: Die Vorstellung, Chinesen seien Kampfmaschinen, ist natürlich unsinnig, aber doch – nicht zuletzt dank der erwähnten Filme – verbreitet genug, dass die meisten es sich zweimal überlegen, ehe sie sich mit einem von uns anlegen. Man weiß ja nie. Die Erschütterung des Glaubens an das Kung Fu ist also zugleich eine Gefährdung der Sicherheit unserer Landsleute im Ausland – wie auch im Inland. Auch hierzulande hat der Glaube an die Kraft des Kung Fu eine zivilisierende Wirkung. Was mich zum dritten und letzten Punkt bringt: Nehmen wir einmal an, ein nennenswerter Teil unserer Bevölkerung gelangt zu der Ansicht, dass MMA dem Kung Fu überlegen ist – was dann?“
„Vermutlich würden viele von ihnen MMA lernen wollen.“ gab Meister Li zurück.
„Ganz recht! MMA würde sich auch in China verbreiten; Leute werden lernen, auf die Gesichter anderer Leute einzuschlagen, die auf dem Rücken liegen und auf deren Brustkorb sie sitzen. Sie werden lernen, bis zur Aufgabe oder Ohnmacht zu kämpfen. Sie werden in Arenen mit blutverschmierten Böden aufeinander einprügeln – und sie werden anderen dabei zusehen, die das tun. Sie werden sich daran gewöhnen, dergleichen zu sehen und dergleichen zu tun, bis es ihnen normal erscheint. Solche Barbareien sind unser großen Kultur unwürdig. Nicht umsonst haben wir den langen Weg von der Kriegs- zur Kampfkunst zurückgelegt. Unsere Kampfkunst verfolgt, wie Sie es selbst eben dargelegt haben, gerade das Ziel, die Gewalt in zivilisatorisch verträgliche Bahnen zu lenken: Unbeherrschte Schläger zunächst von der Nützlichkeit und Überlegenheit der Disziplin zu überzeugen – und ihnen dann eben diese Disziplin zu geben, womit sie aber aufhören, unbeherrschte Schläger zu sein. Mit einem Training und mit Wettkämpfen, die strenge Regeln und Respekt lehren, führen wir sie von der Gewalt weg und besiegen so die Gewalt selbst – während die MMA die Gewalt nur perfektioniert. Stimmen Sie mir da zu?“
Li nickte. Diesmal meinte er es sogar so. Er hätte es sicher etwas anders ausgedrückt, aber im Grunde sah er es genauso.
„Dann werden Sie auch einsehen, dass wir Ihrem Vorschlag, die Sache auf sich beruhen zu lassen, unmöglich folgen können?“
Li nickte, wenn auch widerstrebend. Sein Gegenüber lächelte. „Ausgezeichnet. Ich wußte, dass auf Sie Verlass ist. Wir werden ein Antwortvideo drehen, in dem Sie die Herausforderung annehmen. Bitte finden Sie sich dazu gleich morgen früh um 8.00 im Studio ein, Sie kennen es ja.“
Als Li das Gebäude verließ – gehend, durch den Vordereingang – war er erleichtert. Während er auf den weitläufigen Platz vor der Behörde hinaustrat, atmete er tief ein und genoss die frische Luft.
Doch schon nach einigen Minuten kamen ihm Zweifel. So machen sie es immer, dachte er. Sie reden auf einen ein, dass man für den Moment überzeugt ist; dann lässt man sich auf irgend etwas ein, und dann ist es zu spät.
In der Tat, Li kannte den Weg zum Studio. Es war gar nicht so lange her, dass er schon einmal dort gewesen war; vermutlich hatte er seine Lage genau diesem ersten Besuch zu verdanken. Damals waren Vertreter der Bezirksregierung an ihn heran getreten mit der Bitte, in einem Dokumentarfilm über chinesische Kampfkunst mitzuwirken. Li hatte zugestimmt, nicht zuletzt, weil vor den Dreharbeiten die ziemlich heruntergekommene Halle, in der das Training stattfand, renoviert werden sollte. Was dann auch geschah.
Die Dreharbeiten waren nicht einmal besonders fordernd gewesen. Sie hatten ein paar Mal sein Training gefilmt und ihn einige Übungen vorführen lassen. Dann war er mit verschiedenen Vertretern anderer Kampfsportarten zusammengebracht worden, um einige der Techniken zu demonstrieren, mit denen im Kung Fu auf verschiedene bewaffnete und unbewaffnete Angriffe reagiert wurde. Meister Li hatte sich gefreut, auf diese Weise vielen Menschen seine Kunst näherbringen zu können.
Bis er gesehen hatte, was aus dem Material geworden war.
Nein, dachte er, diesmal nicht. Jedenfalls nicht, ohne vorher noch einmal gründlich darüber nachzudenken.
VI
Hans Büro lag im fünften Stock. Zu hoch, um einen Gesichtsausdruck zu erkennen, doch noch nah genug am Boden, um die Leute unterscheiden zu können, die in einem ständigen Strom ein- und ausgingen. Von seinem Fenster aus sah er zu, wie Meister Li das Gebäude verließ, auf den Platz davor hinaus trat und allmählich im Gewimmel, das dort um die Mittagszeit herrschte, unsichtbar wurde.
Er bemerkte Tian erst, als er dessen Stimme direkt hinter sich hörte. „Und? Was haben Sie erreicht?“ Han erschrak, doch jahrelange Übung half ihm, nicht zusammen zu zucken. So machten es die Vorgesetzten nun einmal, sie kamen unbemerkt und unvermittelt herein; so ließ sich am Besten feststellen, ob alles seinen geordneten Gang ging. Er drehte sich um und verbeugte sich.
„Begeistert ist er gerade nicht, aber ich denke, dass er kooperieren wird. Ich habe ihm die Konsequenzen sehr klar gemacht, die eine andere Entscheidung hätte.“
„Gut.“ Tian hatte auf Hans Bürosessel Platz genommen und wies auf den Holzstuhl, der vor dem Schreibtisch stand. „Setzen Sie sich.“
Han verbeugte sich erneut, umrundete den Schreibtisch und ließ sich nieder. Mit Unbehagen bemerkte er, dass die Sitzfläche noch warm war.
„Sie haben sich, wie schon unzählige Male zuvor, als wertvoller Mitarbeiter unserer Behörde erwiesen. Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir Ihre Verdienste würdigen und Ihren Rat schätzen.“
Han deutete mit dem Oberkörper eine Verbeugung an, kam aber nicht dazu, etwas zu erwidern.
„Sagen Sie mir also einmal ganz offen, Han – was halten Sie von der ganzen Sache?“
Han erschrak. So eine Frage konnte allerlei bedeuten; vielleicht stand er vor einer Beförderung, vielleicht hatte ihn auch irgendwer wegen irgend etwas angeschwärzt und er stand kurz davor, degradiert oder entlassen zu werden – oder schlimmeres.
„Nun kommen Sie schon.“ sagte Tian jovial, als Hans Schweigen die Dauer einer gewöhnlichen Gesprächspause bereits um einige Sekunden überstieg. „Sie haben ihn gesehen, mit ihm gesprochen, das Material gesichtet, das wir über ihn haben, kurz – Sie haben einen Eindruck von ihm. Damit können Sie uns helfen, gute Entscheidungen zu treffen. Also: Was denken Sie?“
Nun half es nichts, er musste etwas sagen. „Er ist gewiss ein großer Meister unserer traditionellen Kampfkünste. Es steht außer Frage, dass wir eine solche Beleidigung nicht hinnehmen können, trifft sie doch unsere Tradition und damit uns selbst.“
Tian sah ihn kühl an. „Halten Sie, ehrenwerter Han, mich für ungewöhnlich vergesslich? Immerhin bin ich ein viel älterer Mann als Sie und dazu mit vielen Dingen zugleich beschäftigt.“
Han beeilte sich, zu verneinen.
„Dann haben Sie, ehrenwerter Han, gewiss einen anderen Grund dafür, mir das gleiche zu erzählen, was ich Ihnen gestern Abend erklärt habe und was auch in Ihren Unterlagen zu dieser Sache steht.“
Auf Hans Stirn bildeten sich Schweißperlen. „Es diente wohl dazu, mir die Bedeutung dieses Falles selbst in Erinnerung zu rufen, damit ich etwas Richtiges sage.“
„Gewiss, ganz jung sind Sie auch nicht mehr, und auch Sie haben vielerlei bedeutende Aufgaben. Es ist also gut, dass Sie Ihre Gedanken an eine Angelegenheit sammeln, ehe Sie uns dazu Ihren Rat geben, auch dann, wenn Sie erst vor wenigen Minuten in dieser Sache tätig gewesen sind. Ist Ihre innere Vorbereitung nun abgeschlossen?“
„Natürlich, natürlich.“
„Sehr gut. Selbstverständlich schätzen wir Ihr gewissenhaftes Vorgehen; da warten wir gerne einige Minuten mehr, auch wenn ich in nur einer Viertelstunde ein Treffen mit dem Herrn Minister habe, was Sie natürlich nicht wissen konnten. Seien Sie nun also bitte so gut, mich von Ihren Ansichten in Kenntnis zu setzen.“
Hans Gesicht, eine ausdruckslose Maske, verriet mit keiner Regung seinen Kampf mit der aufsteigenden Panik. Kurz erwog er, zu erklären, die Entscheidung des Ministeriums sei die einzig richtige gewesen, verwarf diesen Gedanken aber gleich wieder. Anzudeuten, dass die Beschlüsse des Ministeriums seiner Zustimmung bedürften, wäre eine gefährliche Anmaßung gewesen. Er griff nach dem ersten Strohhalm, den er finden konnte.
„Tatsächlich gibt es eine Sache, bei der ich dankbar wäre, wollten Sie die Zeit entbehren, mir trotz meiner unbedeutenden Stellung damit zu helfen. Ich frage mich, was für den Fall vorgesehen ist, dass Li den Kampf verliert.“
„Ein interessanter Gedanke. Sind Sie also auch der Ansicht, unsere traditionelle Kampfkunst sei der neuen aus Amerika unterlegen?“
„Sicher nicht!“ beeilte sich Han zu versichern. „Umso mehr, als, soweit ich diese Dinge verstehe, dieses MMA, wie der Name schon sagt, ein Gemisch ist, dessen Techniken zu großen Teilen gerade der Tradition entstammen, gegen die sie sich jetzt wenden. Wie könnte aber das Blatt stärker sein als die Wurzel?“
Das war nicht ganz richtig, und Han hoffte inständig, dass Tian nicht genug von der Sache verstand, um es zu bemerken. Die meisten MMA-Kämpfer hatten ihre Schlag- und Tritttechniken entweder aus dem Thaiboxen oder aus dem Kickboxen, das sich seinerseits aus dem Karate entwickelt hatte. Die Würfe, Hebel und den Bodenkampf wiederum stammten meist aus dem BJJ, einer brasilianischen Abart des Jiu-Jitsu. Traditionelle asiatische Kampfkünste waren das durchaus, nur stammten sie eben nicht aus China, sondern aus Thailand, oder, was weit schlimmer war, aus Japan.
„Ich verstehe. Sie meinen also, dass man unsere traditionellen Techniken im Westen jetzt besser beherrscht als hierzulande?“
„Ganz sicher nicht! Wie könnten sie! Es fehlt ihnen ja, wie dieses Video sehr deutlich zeigt, an jedem Gespür für die tiefere Bedeutung der Kampfkunst. Aber dennoch ist es doch möglich, denke ich – ich meine, ich verstehe wirklich nur wenig von diesen Dingen, für mich ist so ein Kampf nur ein ganz undurchschaubar schnelles Geprassel von Schlägen ehe einer zu Boden geht, und da, nun, also, vielleicht irre ich mich ja auch, aber ich habe mich ein wenig nach diesem Luan erkundigt; er scheint ein außerordentlich erfolgreicher Kämpfer zu sein, und wenn er nun durch einen unglücklichen Zufall mal einen guten Treffer landet und unseren Mann damit verletzt... Man wird dann kaum vermeiden können, dass Aufnahmen davon verbreitet werden, was unseren Zielen doch ganz und gar nicht dienlich wäre. Da ist doch die Frage, ob wir uns diesem, wenn auch kleinen, Risiko aussetzen wollen.“
Sein Gegenüber legte die Fingerspitzen aneinander. „Sie sind ein vorsichtiger Mann. Das gefällt mir. Sicher besteht auch die theoretische Möglichkeit, dass Meister Li im Ring plötzlich einen Herzinfarkt erleidet oder dergleichen. Aber bitte bedenken Sie folgendes: Wir arrangieren morgen keinen Kampf. Wir drehen morgen ein Video, das die dreiste Anmaßung dieses Burschen zurückweist.“
„Aber wird es nicht Teil der Aufnahme sein, Zeit und Ort für einen Kampf bekannt zu geben?“
„Gewiss. Aber dieser Luan wohnt in einer Provinz, die von unserer mehrere tausend Kilometer entfernt liegt. Da er sich schon in der Vergangenheit des öfteren nicht ehrenwert verhalten hat, ist es ihm nicht gestattet, Flugzeuge, Züge oder Busse zu benutzen. Ein Auto hat er nicht, und selbst wenn er sich irgendwie eines beschafft, hätte er fast 30 Stunden Fahrt vor sich. Wie wahrscheinlich ist es also, dass er den weiten Weg auf sich nimmt? Zudem wird er für die Reise eine Genehmigung brauchen, und wir werden die Zeit so wählen, dass es fast unmöglich sein wird, die rechtzeitig zu bekommen – zumal die dafür zuständigen Beamten uns wohlgesinnt sein werden.“
„Aber wird er dann nicht öffentlich verkünden, dass wir seine Teilnahme an dem Kampf verhindert haben?“
„Vielleicht. In diesem Fall werden die Medien ihn als Drückeberger darstellen, der nun Ausreden dafür findet, dass er sich vor dem von ihm geforderten Kampf feige zurückgezogen hat. Wahrscheinlicher ist es aber, dass er die ganze Sache einfach vergisst. Vermutlich diente dieses Video ohnehin nur dazu, Aufmerksamkeit auf seine Schule zu ziehen, um Schüler zu gewinnen. Wir werden also mit viel Presse – auch internationaler - und viel Kameras vor Ort sein, um sein Nichterscheinen umfassend zu dokumentieren. Meister Li wird sich enttäuscht zeigen, eine Vorführung seiner Fähigkeiten geben – und damit ist die Sache erledigt.“
„Wenn er aber doch kommt?“
„Auch in diesem Fall wird uns das Schicksal gewogen sein. Der Zeitpunkt des Kampfes liegt von seiner Zeitzone aus gesehen mitten in der Nacht; und wenn er rechtzeitig da sein will, wäre es ihm kaum möglich, seine Fahrt für längere Pausen zu unterbrechen. Wenn er ankommt, dann als übermüdetes Häuflein Elend mit einem flauen Magen. Er wird von hunderten von Zuschauern umgeben sein, die seinen Gegner favorisieren, was ihn entmutigen wird. Der Kampf wird mit Boxhandschuhen ausgetragen werden, was es ihm fast unmöglich machen wird, Li zu greifen oder zu werfen. Wir werden sagen, dass das nötig ist, um Luan vor der Wucht von Meister Lis Schlägen zu schützen, mit denen er bekanntlich Holz und Stein zertrümmern kann. Die Regeln werden so gewählt sein, dass er einen großen Teil seiner gewohnten Techniken nicht einsetzen darf - beispielsweise werden wir den Bodenkampf verbieten – und unser Ringrichter wird Regelverstöße seinerseits mit Punktabzügen ahnden, in schweren Fällen mit Disqualifikation. Dagegen werden die Techniken des traditionellen Kung Fu allesamt gestattet sein, und wie Sie wissen, schlägt und tritt Meister Li mit einer Geschwindigkeit, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen ist. Selbst wenn der ehrenwerte Meister also einmal aus Versehen an eine Stelle schlagen sollte, an die zu schlagen nach den Regeln verboten ist, hat der Ringrichter ja keine Möglichkeit, das zu erkennen.“
„Aber wenn die Kameras es aufnehmen und es sich jemand in Zeitlupe anschaut?“
„...stellen wir ihn als jemand hin, der das Ergebnis nicht anerkennen will und nun nach Ausflüchten sucht. Im Übrigen hat unser ehrenwerter Ringrichter jederzeit die Möglichkeit, den Kampf zu unterbrechen und die Teilnehmer neu aufzustellen, sollte unser Mann in die Defensive geraten. Unter diesen Bedingungen, mit einem übermüdeten Würstchen als Gegner, das nicht instinktiv reagieren kann, weil es kaum etwas von dem, was es gelernt hat, benutzen darf und einem Ringrichter, der Sie, wenn es brenzlig wird, rettet – da könnten selbst Sie den Kampf gewinnen, mein lieber Han. Und natürlich werden wir unsere Presse dazu anhalten, angemessen und wahrheitsgetreu über den Kampf zu berichten.“
VII
Als die Männer fort waren hatte Luan noch lange dagelegen, allein im Schmutz der dunklen Gasse. Anfangs hatte er geweint, doch dann waren Schmerz und Wut und Tränen etwas anderem, neuem und mächtigerem gewichen. „Nie wieder“ hatte er immer wieder zu sich gesagt und die schmerzenden Finger zur Faust geballt.
Am nächsten Tag hatte er sich in einer der örtlichen Kung Fu-Schulen angemeldet. Danach trainierte er dort fast täglich, oft mehrere Stunden.
Das Training hatte Wirkung gezeigt. Er war schneller geworden, wendiger und stärker. Er hatte gelernt, dass das, was er bisher für seine naturgegebenen Grenzen gehalten hatte, durch harte und anhaltende Arbeit verschoben werden konnte, erneut und immer wieder erneut verschoben, bis er Grenzen im allgemeinen als nur noch vorläufig anzusehen begann. Und die Übungen hatten noch einen weiteren Effekt: Immer wieder übte er mit wechselnden Partnern die Bewegungsabläufe, bei denen ein gewisser Angriff – ein Tritt, ein Schlag, auch ein Versuch, ihn festzuhalten oder zu würgen – mit einer festgelegten Technik gekontert wurde. Natürlich griffen seine Trainingspartner ihn nie wirklich in der Absicht an, ihn zu verletzen; und immer nur auf die je vorgegebene Weise. Natürlich wussten sie, mit welcher Technik ihnen begegnet würde und fielen stets widerstandslos auf die vorgesehene Weise in die vorgesehene Richtung. Natürlich wusste er all das, und doch: Die vielen Dutzend Male, die er jede Stunde jeden Angreifer zu Fall brachte, viele Stunden täglich, jeden Tag in der Woche, über viele Monate hinweg erweckten in dem jungen Geist allmählich den Glauben an seine unbezwingbare Stärke. Ohne die geringste Furcht hatte sich Luan in die verrufensten Gegenden der Stadt gewagt, hatte ältere und größere Schüler, die ihm den Weg versperrten, einfach zur Seite gerempelt, hatte keine Kränkung, von wem sie auch kam, mehr unwidersprochen gelassen, alles in der Gewissheit seiner Überlegenheit.
So hatte der inzwischen Siebzehnjährige nur mitleidig gelächelt, als ein neuer Schüler auf seine Schule gekommen war, der einen blauen Gürtel in Jiu-Jitsu hatte. Jiu-Jitsu! Er hatte davon gehört. Die sogenannten Kämpfer klammerten sich aneinander fest und wälzten sich auf dem Boden herum. Und so einer wollte ein Kämpfer sein, ein Kämpfer wie Luan, der mit seiner bloßen Faust Steine zertrümmern konnte! Lächerlich.
Er hatte aus seiner Meinung keinen Hehl gemacht. Immer wieder hatte er Bo, so hieß der andere, vor möglichst vielen anderen verspottet und ihm erzählt, gegen einen Kung Fu-Kämpfer könne er sich keine zehn Sekunden halten. Bis Bo eines Tages den Umstehenden bedeutet hatte, Platz zu machen und Luan aufgefordert hatte, seinen Worten Taten folgen zu lassen.
Der Kampf hatte tatsächlich nur wenige Sekunden gedauert. Solange hatte Bo gebraucht, um unter Luans Kick durchzutauchen, sein Bein zu greifen und ihn auf dem Boden zu fixieren. Luan hatte noch ein wenig gezappelt, doch ohne zu wissen, was er da eigentlich tat – er wusste nichts vom Bodenkampf, außer dass man eben nicht auf dem Boden landen durfte! Nach ein paar Augenblicken hatte er in einem festen Hebelgriff gesteckt und aufgegeben. Da Luan nicht bereit gewesen war, den Ausgang zu akzeptieren, hatte sich das ganze noch zweimal wiederholt, ehe Luan aufgestanden war, seinem Gegner die Hand gereicht und sich für seine Vorwürfe entschuldigt hatte.
Dass er seine Niederlage so eingestehen konnte, änderte freilich nichts an seiner Verwirrung und Bestürzung. Bos Angriffe waren von einer Art gewesen, der er im Training noch nie begegnet war. Offenbar hatte er noch viel zu lernen.
In seiner nächsten Trainingsstunde hatte er seinem Trainer von dem Vorfall erzählt, der aber nichts davon hatte wissen wollen. Ein Kung Fu-Kämpfer beflecke seine Würde nicht damit, auf dem Boden herumzurollen, hatte er erklärt, und als Luan gefragt hatte, was man denn machen solle, wenn man nun einmal auf dem Boden lande, entgegnet: „Man landet nicht auf dem Boden, wenn man es richtig macht. Damit man es richtig macht, muss man üben.“ und ihn wieder in die gewohnten Übungen geschickt.
Schon am nächsten Tag hatte er die Adresse der Schule in Erfahrung gebracht, in der Bo trainierte und sich dort angemeldet. Wie sich herausstellte, wurde hier aber nicht nur Jiu-Jitsu unterrichtet. Es gab auch Kurse im Boxen, im Kick- und Thaiboxen, im Ringen. Und es gab jene neue Disziplin, die die Techniken all dieser Richtungen in einer Disziplin vereinte: Die „Mixed Martial Arts“, die MMA. Was es hier an Techniken zu lernen gab, hatte Luan regelrecht eingeatmet.
Vor allem aber hatte er begonnen, zu kämpfen. Wirklich zu kämpfen, mit Gegnern, die ihn nicht auf ein Zeichen hin auf eine zuvor verabredete Art angriffen, sondern plötzlich und auf jede Weise, die ihnen vorteilhaft erschien, je überraschender, desto besser. Die nicht darauf warteten, dass er einen verabredeten Konter einsetze und die nicht daran dachten, zu fallen, solange sich ihnen noch irgendein Ausweg bot.
VIII
Um Punkt 17 Uhr betrat Meister Li die Halle, in der seine Schüler bereits in einer langen Reihe nebeneinander Aufstellung genommen hatten. Bei seinem Eintreten strafften sie ihre bereits kerzengerade Körperhaltung noch ein wenig mehr, Schultern wurden zurückgezogen, Hände flach an die Beine gelegt, Blicke nach vorne gerichtet. Li durchquerte die Halle gemessenen Schrittes zur Hälfte, dreht sich dann zu den Wartenden um und verbeugte sich, was die Schüler erwiderten.
Dann rief er „Besinnung!“ und ließ sich – erste das rechte Bein, dann das linke – auf die Knie nieder. Die Schüler, von den erfahrensten am linken Rand der Reihe – Xin, die schon seit acht Jahren trainierte und Juan, der nur ein paar Wochen nach ihr angefangen hatte – bis zu Chang, einem Knaben von sechs Jahren, der nun seit sieben Monaten dabei war.
Meister Li freute sich über den festen Stand des Jungen, seinen konzentrierten und entschlossenen Blick. Er strahlte gespannte Ruhe aus. Als er zu ihnen gekommen war, war er ein ängstlich schlotterndes, dürres Bürschlein gewesen, mit blutig gekauten Fingerspitzen, der kaum vom Boden aufsehen mochte und zu weinen angefangen hatte, als sein Vater, nachdem er ihn beim ersten Training abgeliefert hatte, die Halle verließ. Von seinen Klassenkameraden, so hatte Li erfahren, wurde er verspottet und herumgeschubst; bei seinen Lehrern aber galt er als etwas zurückgeblieben, da er auch auf die einfachsten Fragen kein Wort herausbrachte. Der Vater, früher selbst einer von Lis Schülern, hatte ihn zu ihm gebracht, um zu lernen, sich gegen die Übergriffe der anderen Kinder zu behaupten.
Li hatte seine liebe Not mit dem Kind gehabt, das vor anderen Kindern, besonders den größeren, Angst hatte, das sich nur schwach und kraftlos bewegte, als könne jede entschlossene oder schnelle Regung jemandes Zorn auf sich ziehen. Anstelle eines Kampfschreis brachte er nur einen schwachen Hauch heraus. Dennoch fand er unter Meister Lis Schülern, die gelernt hatten, dass sie alle, und selbst ein Meister, Lernende waren und gleich viel zählten, freundliche Aufnahme. Schon nach wenigen Wochen hatte er seine Scheu ihnen gegenüber abgelegt. Nach zwei Monaten hielt er mit sichtbarem Stolz beim Formenlauf mit und nachdem er bei seinem Bruchtest erfolgreich mit der Faust ein kleines Brett durchschlagen hatte, das Xin und Juan ihm hingehalten hatten, fand er auch seine Stimme und stieß fortan bei seinen Schlägen und Tritten, die er mit immer größerer Sicherheit ausführte, seinen Kiai, seinen Kampfschrei aus, ein hohes, starkes „Hep!“.
Die Übergriffe in der Schule hatten bald aufgehört. Nicht etwa dass der kleine Chang sich mit den Rabauken siegreich geschlagen hätte. Derlei war ihm fremd und er hätte wohl auch gegen die fünf, die ihn gewöhnlich gemeinsam quälten, wenig Aussichten gehabt, Schlagtechnik und Kampfschrei hin oder her. Doch hatte sich herumgesprochen, dass er in Lis Schule ging, was allein schon genügte, damit er fortan mit einem gewissen Respekt, einer gewissen Vorsicht betrachtet wurde. Auch war seine schlaffe und verhuschte Körperhaltung, in der jeder Grobian ein einladendes Zeichen der Schwäche erblickt, einem geraden und kraftvollen Gang gewichen, der den Willen zeigte, es mit jedem aufzunehmen, der ihm Unrecht trat, ob siegreich oder nicht. Mit dem Herumgeschubse war auch die Hänselei verschwunden, damit auch seine Furcht vor den anderen, und als er seine Schläge mit seinem „Hep! Hep!“ zu unterstreichen begann, da löste sich auch in der Klasse seine Zunge und es zeigte sich, dass er bei weitem nicht der Dummkopf war, für den so mancher Lehrer ihn gehalten hatte.
Nachdem auch Chang sich hingekniet – erst das rechte Bein, dann das linke – und die Hände flach auf die Oberschenkel gelegt hatte, schlossen Li und seine Schüler die Augen. Sie begannen die traditionelle Meditation, mit der die Lernenden den Alltag und alles außerhalb der Halle hinter sich ließen, um sich ganz auf das Kung Fu zu konzentrieren. Li begann, tief und konzentriert zu atmen und alle seine Gedanken auf den Atem zu richten.
Mystischer Bullshit!“ rief eine Stimme in seinem Kopf in die Stille hinein. „Scharlatan! Möchtegern! Pausenclown!“
Li ließ den kurz aufflackernden Impuls, dem frechen Zuruf zu widersprechen, sofort fallen; die Stimme perlte an ihm ab wie Wasser an einem Lotus.
Stille.
„Nenne mir einen Ort und eine Zeit. Ich komme, verlass dich drauf!“
Stille.
„...ziehen den Leuten das Geld aus der Tasche, indem sie ihnen einreden, sie könnten ihnen beibringen, zu zaubern!“
Stille.
„Verbrecher. Schicken leichtgläubige Deppen in dem Glauben in die Welt, sie könnten sich verteidigen, während sie in Wirklichkeit...“
Meister Lis Atem geriet aus dem Takt. Viel zu früh schlug er die Augen auf und schaute auf die Reihe seiner meditierenden Schüler. Ihm fiel auf, dass Frieda, ein Mädchen aus der Mitte, unruhig mit den Schultern hin und her wackelte, während Chang, leicht aber doch merklich, mit den Fingerspitzen auf seinen Oberschenkeln trommelte und sogar ab und zu blinzelte.
Plötzlich öffnete Xin die Augen und fing seinen Blick auf. Meister Li fuhr innerlich zusammen, als sei er auf frischer Tat bei einem Verbrechen ertappt worden. Hatte er ihnen nicht immer und immer wieder erklärt, dass die Meditation als Sammlung des Geistes keine Vorbereitung eines bloß körperlichen Trainings sei, sondern der vornehmste, und darum nicht umsonst erste, Bestandteil des Kung Fu? Hatte er nicht schon Schüler aus dem Training verwiesen, weil sie während der Meditation gelangweilt in der Halle umher geschaut hatten?
Fast war er erleichtert, als Xin ihm zuvor kam und beschämt die Augen niederschlug. „Auf!“ rief Li, um die Situation zu retten, was das Ende der Meditation anzeigte. Die Schüler schlugen die Augen auf. Vielen war ihr Erstaunen über dieses frühe und plötzliche Ende deutlich anzusehen. Sie standen auf.
Nach dem gewohnten Aufwärmtraining – Laufen, Liegestütze, Kniebeugen, Dehnungsübungen – kündigte Li die Übungen der heutigen Stunde an. Es wurden Pratzen verteilt und die Schüler fanden sich paarweise zusammen, wobei jeweils einer das Schlagkissen hielt, während der andere die Technik ausführte, die heute geübt werden sollte: Ein einfacher seitlicher Fußstoß für die Anfänger, ein hoher Tritt mit Drehung für die Fortgeschrittenen, eine gesprungene doppelte hohe Tritttechnik für die Erfahrensten. Binnen kurzem war die Halle erfüllt vom Klatschen der Tritte und dem vielstimmigen Chor der Kampfschreie.
Meister Li ging zwischen den Schülern umher, korrigierte hier einen Stand, dort die Haltung der Pratze, machte die Techniken bisweilen noch einmal vor und lobte, wenn sie darauf besser als zuvor ausgeführt wurden. Doch heute war es ihm, als sei dem gewohnten Klang des Trainings noch ein weiterer, neuer, störender Ton beigemischt, ein verstohlenes Wispern und Flüstern, das überall zu sein schien außer dort, wo er gerade hinsah. Auch schienen ihm das Geräusch der Tritte schwächer, die Kampfschreie leiser als sonst.
Schließlich ein lauter Ruf: „So ein Unsinn!“ hörte er Chang so laut, dass es jeder in der ganzen Halle hören musste. „Der ist nichts als ein Angeber. Der Meister würde ihm in ein paar Sekunden den Hintern versohlen, wie er es verdient!“
Alle hielten inne und schauten zu Meister Li. Eine derartige Verletzung der Trainingsdisziplin konnte unmöglich ohne Folgen bleiben.
„Aufstellung!“ rief Li und die Schüler legten rasch die Pratzen ab und liefen zur Hallenmitte, wo sie sich nebeneinander aufreihten – in der Kürze der Zeit allerdings nicht in der gewohnten Ordnung. Die Gesichter hatten sie Meister Li zugewandt, doch wanderten ihre Blicke immer wieder zu Chang herüber, der mit gesenktem Kopf und trotziger Miene in der Mitte stand.
„Chang!“, bellte Meister Li, „Wie lautet unser erster Grundsatz?“
„Unser wahrer Feind sind wir selbst, wenn wir das falsche tun.“ presste der Junge hervor und biß sich auf die Lippen.
„Und der zweite?“
„Keine Macht ist wichtiger als die über uns selbst.“
„Gut.“ sagte Li . Trotz seines Verstoßes wollte er den Knaben nicht zu hart angehen. „Setze dich für den Rest der Stunde hin und denke darüber nach.“
Chang waren sein Erstaunen und sein Ärger deutlich anzusehen. Gewiss, er hatte gegen die Regeln verstoßen, aber – er hatte doch die Partei des Meisters ergriffen, gegen Aang nämlich, der gemeint hatte, Luan sei ein sehr starker Mann, der schon viele Kämpfe gewonnen habe. Und nun wurde er bestraft anstelle dieses Verräters? Ihm stiegen die Tränen in die Augen, als er die Reihe verließ und zur Bank an der Seite der Halle ging. Plötzlich aber ballte er die Fäuste, drehte sich mit einem Ruck um, schrie: „Aber es stimmt doch! Sie sollten es ihm zeigen!“ - und rannte er aus der Halle.
Li betrachtete die verbliebenen Schüler, unter denen erneut ein verstohlenes Gewisper und Umherschauen ausgebrochen war. „Er ist ein kleiner Junge“ sagte er, „der noch viel zu lernen hat. Ist aber einer unter euch, der seine Ansicht teilt, so möge er bitte vortreten.“
In den zehn Atemzügen, die Li daraufhin schweigend wartete, rührte sich niemand. Stattdessen aber rief Jan: „Er hat euch beleidigt, Meister! Und er hat das Kung Fu beleidigt!“
Unter den Schülern erhob sich zustimmendes Gemurmel.
„Das ist wahr.“ entgegnete Meister Li ruhig. „Und nun? Habe ich euch beigebracht, euch mit jedem, der euch etwas nachruft, auf eine Schlägerei einzulassen? Ist das Kung Fu dazu da?“
Schweigen. Die Schüler sahen betreten zu Boden.
„Noch einmal. Wie lautet unser erster Grundsatz?“
„Es gibt keinen größeren Feind als uns selbst, wenn wir falsch handeln“, hallte es im Chor zurück.
„Sehr gut. Und der zweite?“
„Keine Macht ist wichtiger als die über uns selbst.“
„So ist es.“, gab Li zurück. „So sollt ihr handeln, und so soll auch ich handeln. Und darum werde ich den Mann, von dem ihr redet, das sein lassen, was er ist - ein im Internet umherschimpfender Grobian – und weiter das meine tun.“
Das schien zu genügen. Niemand widersprach. Meister Li nahm das Training wieder auf.
Doch das Gewisper verstummte nicht.
IX
Als Meister Li die Halle verließ, war es bereits dunkel. Die Straße war nur spärlich erleuchtet; der Ausgang der Halle aber, aus dem Li trat, lag in völliger Finsternis. Er sah sich um.
Im Licht einer Laterne auf der anderen Straßenseite saß Xin auf den Drahtstühlen der Bushaltestelle vor der Halle und tippte auf ihrem Telefon herum. Ihr Bus kam, soweit Li wußte, in zehn Minuten. Außer ihr war niemand zu sehen.
Doch. Aus dem Schatten eines Hauseinganges trat jemand in den Lichtkreis des Wartehäuschens. Es dauerte einige Augenblicke, bis Li ihn erkannte: Xu, ein stadtbekannter Taugenichts, der immer wieder durch Vandalismus und Schlägereien auffiel. Er war ein paarmal in Lis Training gewesen, hatte sich aber mit der dort herrschenden Disziplin so wenig abfinden können, dass Li ihn herausgeworfen hatte.
Meister Li beobachtete, wie Xu breitbeinig auf das Wartehäuschen zu schlenderte und sich vor Xin an die Seitenwand lehnte, wodurch er Li nun den Rücken zuwandte. Er trat ein paar rasche Schritte vor ins Licht, so dass Xin, die nun von ihrem Telefon aufschaute, ihn sehen konnte, und warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie bemerkte ihn, schüttelte aber kaum merklich den Kopf. Also beschloss Li, vorerst nicht einzugreifen. Der Kerl würde nur wiederkommen, sobald Li gegangen war. Xin aber war mit Abstand seine beste Schülerin; wenn der Kerl aufdringlich wurde, konnte sie ihm womöglich eine weit nachhaltigere Lektion erteilen als Li es vermocht hätte. Nahm die Sache aber einen ungünstigen Verlauf, war er mit ein paar Schritten bei ihr.
„Hi!“ sagte Xu und schaute auf Xin herunter. „Hi.“ erwiderte Xin, den Blick nun wieder auf ihrem Telefon.
Xu beugte sich vor. „Was machst Du denn da?“ Xin reagierte nicht.
„Hey, ich rede mit dir!“ Xu trat einen halben Schritt vorwärts. Er stand nun so nah vor Xin, dass ihr Telefon fast seine Knie berührte. „Was Du da machst, hab ich gefragt!“ Er hatte die linke Hand noch immer an der Seitenwand des Wartehäuschens abgestützt; nun legte er die rechte an die Rückwand, wodurch sein Körper Xin wie ein Käfig einschloss.
„Schreiben.“ entgegnete Xin knapp.
„Wem schreibst Du denn?“ Xin gab keine Antwort.
„Schreibst Du deinem Freund?“ Xin schwieg.
„Vielleicht willst Du ihm ja das Video zeigen. Du bist ja jetzt richtig berühmt. Zeig doch mal her!“ Mit einem raschen Griff riss er Xin das Telefon aus der Hand.
Xin schnellte von ihrem Sitz hoch. „Gib es zurück!“ schrie sie mit einem Ton, mit dem ein Feldwebel seinen Rekruten ihre Liegestütze vorzählt.
Xu riss instinktiv seine Arme vor das Gesicht und stolperte einige Schritte rückwärts, fing sich aber schnell wieder. „Oho!“, sagte er mit gespielter Angst, „die Kung Fu-Heldin wird wütend. Willst Du mir jetzt ein paar Kunststückchen vorführen? Mach ruhig. Von mir kriegst Du sogar ein Leckerli!“ Xu grinste anzüglich. „War übrigens ein richtig guter Film. Jetzt weiß ich, dass eure ganze Akrobatik einen Scheiß wert ist. Und du sahst übrigens auch richtig gut aus.“ Er schaute unverhohlen auf ihre Brüste.
„Es reicht!“ bellte Xin, „Gib das Telefon zurück!“
Statt einer Antwort schaute Xu auf das Display. „Hi Hao! Super gern!“, las er vor, „Herzchen. Heute Abend bei mir?“ Dann schaute er Xin an. „Der Hao? Ist ja niedlich. Was macht ihr denn so, wenn ihr euch trefft? Händchen halten? Eigentlich bist Du viel zu heiß für so einen Schlaffi.“
Xin trat vor und schlug ihm das Handy aus der Hand. Mit einer raschen Bewegung packte Xu sie am Arm. „So stürmisch, wie Du bist, musst Du es ja echt nötig haben. Dann zeig doch mal, was Du hast.“ Damit streckte er die andere Hand nach ihrem Ausschnitt aus.
„Zäpp!“ stieß Xin hervor, sprang vor und schlug Xu die Faust ins Gesicht. Xu taumelte zurück, fand aber bald wieder in seinen breitbeinigen Stand zurück. Er wischte sich über die Nase; an seinem Handrücken blieb eine Blutspur zurück. Xus Augen verengten sich kurz zu schmalen Schlitzen. Dann setzte er ein breites Lächeln auf.
„Ach, Du willst vorher noch tanzen?“ Er hob die Fäuste. Xin nahm die Grundstellung der Schlangenform ein.
Eine gute Wahl, dachte Meister Li. Er ist viel größer als sie, und in dieser tiefen Stellung kann er kaum treffen außer durch Tritte – und die könnte sie fangen, darin ist sie gut.
Xus überlegenes Grinsen verlor etwas von seiner Glaubwürdigkeit. Meister Li konnte deutlich erkennen, wie Xu in einer unwillkürlichen Rückzugsbewegung das Gewicht auf das Hinterbein verlagerte und zögerte. Offenbar war er von der Unwirksamkeit der zu erwartenden Gegenwehr doch nicht restlos überzeugt. Xin nutzte ihre Chance. Sie schoss vor und fegte Xu mit einer gekonnten Wirbelbewegung das Standbein weg. Die Technik war sauber ausgeführt, aber nicht stark genug, um jemand von Xus Gewicht umzuwerfen. Immerhin schwankte er und ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, wodurch er seine Deckung aufgab. Xin schnellte hoch, holte in einer vollen Körperdrehung Schwung und schmetterte Xu den linken Fuß gegen den Kopf. Xu stürzte zu Boden und fluchte.
Als er sich nach einigen Sekunden wieder aufrappelte, hielt er sich die Wange. In seinem Gesicht rangen Scham, Wut und Schmerz um die Vorherrschaft.
„Es ist genug jetzt, Xu!“ sagte Meister Li ruhig, gerade laut genug, dass es auf der anderen Straßenseite zu hören war. Das genügte. Xu warf noch einen Blick zu Li herüber, als wolle er seine Chancen abschätzen. Dann rannte er ohne ein weiteres Wort davon.
Am nächsten Tag traf Meister Li pünktlich um 8.00 im Studio ein.
X
Noch zehn Stunden bis zum Beginn des Kampfes. Noch 800 Kilometer. Luan umklammerte das Steuer seines Mietwagens so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er war seit 21 Stunden unterwegs und hatte seine Fahrt fast nur zum Tanken unterbrochen. Und er würde sie auch nicht mehr unterbrechen, bis er am Ziel war. Nach dem Kampf würde er sich auf die Rückbank legen und erst einmal ein paar Tage durchschlafen. Wenn sie ihn nicht vorher einkassierten, weil er seine Provinz ohne Genehmigung verlassen hatte. Aber jetzt fuhr er. Wenn sie glaubten, dass 3000 Kilometer staubiger Landstraßen ihn aufhalten konnten, würden sie bald eine unangenehme Überraschung erleben.
Er schaute auf sein Smartphone, das ihm als Navigationsgerät diente. Zufrieden stellte er fest, dass er auf dem richtigen Weg war. Die geschätzte verbleibende Fahrtzeit betrug neun Stunden. Das war zu schaffen. Nebenbei registrierte er die Meldung, dass sein Herausforderungsvideo an Li seit seinem letzten Aufruf 156 neue Kommentare erhalten hatte. Nun, die würde er ein anderes Mal lesen müssen. Von den über 10.000, die es bereits gab, kannte er auch nur einen Bruchteil, auch wenn er auf ihre Lektüre nicht wenig Zeit verwendet hatte. Er erinnerte sich noch gut. Viele hatten ihm zugestimmt. Weit mehr hatten ihn als Verräter und Feind der chinesischen Kultur beschimpft und ihm mit allem möglichen gedroht. Sogar Drohmails an seine Eltern und Geschwister hatte es gegeben. Andere hatten ihm rasches Ende im Ring vorhergesagt. Nun, das war zu erwarten gewesen. Wer in einer Lüge lebte, hatte es eben nicht gern, wenn man diese Lüge auf den Prüfstand stellte. Aber da hatte es noch einen weiteren Typ von Kommentar gegeben, einen, der Luan zu denken gegeben hatte, so sehr, dass er einige davon noch fast wörtlich im Kopf hatte:
„Toll, wie da ein Scharlatan einen anderen Scharlatan einen Scharlatan nennt. Ohne ihren Zahnschutz, Tiefschutz, ihre Handschuhe, ihre schönen weichen Böden und den Schiedsrichter-Papa und die Ringarzt-Mama, die aufpassen, dass ihnen nichts passiert, trauen diese Möchtegerns sich nicht in den Ring!“ hatte einer geschrieben, und viele zustimmende Reaktionen erhalten:
„Genau. Keine Fingerstiche, keine Angriffe auf die Augen oder zwischen die Beine, keine Tritte zum Kopf, wenn jemand liegt – die MMA ist ein Witz!“
„Das war mal eine gute Sache, aber spätestens mit der Einführung von Gewichtsklassen ist es derselbe Scheiß wie überall. Es sollte darum gehen, wer der Beste ist. Wer schwach und klein ist, muss eben bessere Technik lernen, und wer das nicht kann, kann halt nicht kämpfen. Meine Meinung.“
„Auf der Straße greifen einen eh nicht einer von vorne, sondern drei von hinten an und die haben Schlagringe und Messer und Pistolen und schlimmeres. Ich wohne in der Bronx, da würden diese Weicheier NIE bestehen.“
Es war nicht zu leugnen: Die MMA hatte sich verändert seit den ersten Wettkämpfen vor etwa 40 Jahren, bei denen Vertreter der verschiedensten Disziplinen – Ringer und Boxer, Straßenschläger und Jiu-Jitsu-Kämpfer, Judoka und Karateka, Aikidoka, selbst Sumo-Ringer – gegeneinander angetreten waren. Um keine Technik zu benachteiligen und möglichst realistische Bedingungen zu schaffen, waren die Kämpfe anfangs fast regellos gewesen. Sie hatten bis zum KO oder bis zur Aufgabe gedauert. Nicht einmal Gewichtsklassen hatte es gegeben oder die Verpflichtung zum Tragen von Schutzausrüstung. Damals waren Zähne durch den Ring geflogen nicht selten war es zu Knochenbrüchen oder noch schwereren Verletzungen gekommen, selbst einige Todesfälle hatte es gegeben. Diese Zeiten waren vorbei. Tritte zum Kopf eines liegenden Gegners waren verboten, ebenso Fingerhebel oder Stiche in die Augen. Es gab Runden von festgelegter Dauer, Ringärzte und Gewichtsklassen, Handschuhe, Zahn- und Tiefschutz, es gab Ringärzte und Ringrichter, die die Verantwortung dafür trugen, den Kampf rechtzeitig abzubrechen. Luan selbst hatte all diese Entwicklungen selbstverständlich als Fortschritt betrachtet. Doch es war nicht zu leugnen, dass diese neue MMA mit ihren Regeln, ihrem Kodex, ihrem Oktagon damit zunehmend etwas Ritualhaftes bekam. Würde sich die MMA mit der Zeit auch zu dem entwickeln, was er kritisierte? Einer leeren Form, in der Fantasten sich großtaten und der jeder Bezug zur Wirklichkeit fehlte? Schon möglich. Vielleicht war das Kung Fu wirklich einmal eine große Kampfkunst gewesen, damals, als es von Leuten gelernt wurde, die in den Krieg zogen und sich täglich miteinander maßen. Vielleicht hatte es so angefangen, ehe es zur Tradition erstarrt war, einer hohlen Konvention, aufrecht erhalten durch Einschüchterung und Lügen. Und vielleicht würde auch die MMA sich einmal in diese Richtung entwickeln. Dann würde eben wieder jemand wie er kommen müssen, der das ganze wieder auf die Füße stellen.
Aber wenn das andere ein Fortschritt war, war das dann nicht ein Rückschritt? Möglich. Andererseits lag etwas in den kunstvollen Darbietungen dieser Kung-Fu-Meister mit ihren wohlchoreographierten Sprungtritten, Hebelketten, mit ihren Crescendi von Schlägen und Blocktechniken, was ihm zutiefst widerstrebte. Es fühlte sich an wie ein Händeschütteln, ein „Guten Tag, wie geht's“, eine Floskel, deren Bedeutung längst vergessen war, die Worte, die echte Anteilnahme zum Ausdruck bringen sollten, vernutzte und entleerte und nur eine seelenlose Hülle zurückließ. Im Kampf war etwas echtes, ursprüngliches; etwas, das keine Illusion und keinen Selbstbetrug stehen ließ. Darin gerade lag seine Größe.
Überall liefen die Menschen herum und bildeten sich etwas ein. Sie hielten sich für klug, gut, gebildet. Sie meinten, weil sie irgendwo geboren waren und irgendeine Sprache und irgendeinen Glauben gelernt hatten, seien sie besser als die, die anderswo geboren waren und eine andere Sprache sprachen und etwas anderes glaubten. Sie glaubten, was ihnen half, sich gut zu fühlen. Sie glaubten, dass man potenter wurde, wenn man die gemahlenen Knochen seltener Tiere schluckte, weil sich das besser anfühlte als älter und schwächer zu werden. Sie glaubten, man könne einen Kampf gewinnen, indem man durch etwas Gefuchtel eine magische Kraft, das „Chi“, gegen seinen Gegner werfe, ohne ihn auch nur zu berühren – weil es sich gut anfühlte, zu glauben, dass man diese Kraft besaß. Der Schutzschild um diese Wahngebilde war das, was sie „Zivilisation“ nannten. Man solle einander achten, hieß es, was bedeutete: Die Lügen des anderen nicht zu erschüttern. Und so lebten alle fantasierend in den Tag hinein, stets darauf bedacht, den Wahn aufrecht zu erhalten, und rotteten Tierarten aus und ließen Menschen verschwinden und vergaßen es gleich wieder.
Nur der Kampf, der bot einen Ausweg aus dem Wahn. Der Kampf war unerbittlich. Allen Glauben an die eigene Stärke stellte er gnadenlos infrage. Wer den Kampf suchte, der strebte nicht nach Sieg, sondern nach Wahrheit. Hundert mal aufsteigen, immer wieder zu Boden geschlagen werden. Immer wieder glauben, man könne etwas, und immer wieder von harten Tritten und würgenden Händen dazu gezwungen werden, die eigene Nichtigkeit zu sehen.
Er würde es ihnen zeigen, diesen Parteisekretären mit ihren zurückgegelten Haaren und ihren Anzügen. Und auch diesen angeblich unbesiegbaren Glatzköpfen in ihren orangen Kostümen, die ihre Zeit damit verbrachten, herumzusitzen und mit geschlossenen Augen blasiert zu schauen. Was es auch immer war, worin sie sich da versenkten, was immer sie da fanden, mit entrücktem Gesicht sonore Beschwörungen brummend, die Wahrheit war es sicher nicht. Die Wahrheit war kein besinnlicher Singsang. Die Wahrheit war eine Faust, die einen ins Gesicht traf, einem die Nase brach und einen in den Dreck schleuderte. Und diese Wahrheit würde er ihnen bringen.
Als Luan viele Stunden später in die Halle stürmte, eine halbe Stunde vor dem geplanten Beginn des Kampfes, sah er als erstes einen geschniegelten Typen im Ring stehen. Das sei nun bedauerlich, dass sie vergeblich gekommen seien, erklärte er gerade vor den versammelten Kameras, aber andererseits auch nicht überraschend. Maulhelden hielten eben selten, was sie versprächen und als Kampfsportler wisse dieser Luan ja sehr gut, was ihm blühte, wenn er sich mit einem Meister des Kung Fu auf einen Kampf einließ. Damit die Damen und Herren von der Presse, den Rundfunkstationen, dem Fernsehen und auch das verehrte Publikum – es hatten sich immerhin einige Hundert Zuschauer eingefunden – die lange Anreise nicht ganz umsonst auf sich genommen hätten, sei Meister Li freundlicherweise bereit, ihnen eine Demonstration seines Könnens zu geben.
„Das wird nicht nötig sein.“ sagte Luan so laut, dass sich die Schar der Reporter ganz instinktiv ihm zuwandte. „Denn jetzt bin ich ja da.“ Damit stieg er in den Ring.
XI
Der Gong ertönte und Meister Li ging zur Mitte des Ringes, wo sein Gegner ihm in einer Geste, die einen Gruß anzudeuten schien, die rechte Hand mit dem Boxhandschuh entgegen streckte. Offenbar wollte sein Gegner ihm auf eine ihm nicht geläufige Weise Respekt erweisen. Da er nicht wusste, wie er reagieren sollte, führte er nach traditioneller Sitte rechte Faust und linke Handfläche vor dem Bauch zusammen und verneigte sich.
Ein erschrockener Aufschrei ging durch das Publikum. Erst als Li den entgeisterten Blick seines Gegners durch dessen nun zur Deckung erhobene Fäuste sah, begriff er: Der Kampf lief bereits, und er hatte sich gerade ohne jede Deckung einem vernichtenden Schlag seines Gegners ausgeliefert! Nun, noch war nichts verloren. Im Gegenteil konnte man seine Geste als Zeichen von Furchtlosigkeit und Souveränität auslegen, wenn er es nur richtig anfing. Doch als er das rechte Bein seines Gegners zucken sah, erschrak er und stolperte unbeholfen zurück. Sein Gegner, der offenbar befunden hatte, dass es nun reichte, schnellte hinterher.
Im nächsten Moment saß Meister Li auf dem Boden. Blut schoss aus seiner Nase. Verwirrt schaute er auf. Da flog die nächste Faust von schräg oben auf ihn zu. Li kannte ein Dutzend Manöver, um vom Boden aus blitzschnell in jede Richtung auszuweichen und aufzustehen, doch er tat nichts davon. Er war wie erstarrt.
Plötzlich wurde er umgerissen und etwas kullerte über ihn. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, dass es der Ringrichter war, der Luans Schlag im letzten Moment abgefangen und den Kampf unterbrochen hatte. Schläge gegen einen liegenden Gegner waren verboten, aber wie ein sitzender Gegner zu bewerten war, war wohl Auslegungssache. Allzu oft kam dieser Fall vermutlich nicht vor.
Der Ringrichter drängte Luan in seine Ecke des Ringes zurück und schaute zu Li herüber. Es musste ihm zumindest gelingen, mit Anstand aufzustehen! Man konnte, was da geschehen war, zur Not noch als einen unglücklichen Zufall abtun, infolge eines Missverständnisses, vielleicht sogar eine Schandtat seines Gegners darin sehen – doch ab jetzt musste er eine bessere Figur machen. Li zog die Beine an, um aus der Rückenlage in den Stand aufzuspringen, eine Bewegung, die er fast täglich trainierte. Doch in seiner Verwirrung über den Schlag sprang er zu kurz, rutschte aus und fiel wieder um. Beschämt und gedemütigt stand er auf und ging in seine Ecke zurück. Blut tropfte aus seiner Nase auf sein weißes Hemd und bildete dort hässliche Flecken.
Ein Ringarzt kam heran und bemühte sich, das Nasenbluten zu stillen. Als das nicht gelang, stopfte er ihm kurzerhand eine Tamponade in das blutende Nasenloch. Währenddessen stand Luan, die Beine überkreuzt und einen Ellenbogen auf den Eckpfosten des Ringes gestützt, da und schaute mit betont gelangweilter Miene in die Kameras. Ab und zu hob er den linken Arm, als schaue er auf eine nicht vorhandene Armbanduhr. Vom Publikum aus warf ihm Han einen Blick zu, der nichts Gutes ahnen ließ.
Der Gong ertönte, zum Zeichen, dass der Kampf nun fortgesetzt wurde. Li straffte seinen Körper. Er durfte sich nicht verunsichern lassen. Er war überrumpelt worden, das war alles. Seine Fäuste konnten Bretter durchschlagen und Steine zerschmettern. Er musste sie nur benutzen. Als der Ringrichter den Kampf freigab, schnellte er vor und ließ einen Schlaghagel auf Luans Deckung niedergehen. Luan ließ die Deckung oben; doch statt zurückzuweichen, bewegte er sich mit kleinen Schritten auf Li zu und nahm ihm so den Raum, den er brauchte, um auszuholen. Li machte einen kleinen Schritt rückwärts, um den richtigen Abstand wiederherzustellen, doch Luan folgte ihm umgehend nach, während Lis Schläge nahezu wirkungslos auf seine Deckung prasselten.
Nach etwa zwei Minuten war Li mit seiner Armkraft am Ende. Die Tamponade in seinem Nasenloch behinderte seine Atmung. Er keuchte. Als er merkte, dass seine Schläge langsamer und schwächer wurden, nahm Luan die Deckung herunter und sah Li herausfordernd an. Der setzte seine Attacke fort. Völlig ungehindert schlug er nun auf Luans ungedecktes Gesicht ein, doch seine Fauststöße waren nur noch schwache Püffe. Luan ließ seinen Kopf mit den Schlägen hin- und herbaumeln und schnitt mit jedem Treffer wechselnde Grimassen ins Publikum, aus dem nun Gelächter zu hören war. Als der Effekt sich abgenutzt zu haben schien und das Lachen leiser wurde, nahm Luan die Deckung wieder hoch, deutete einen Schlag mit der rechten an, trat aber zugleich mit aller Kraft mit dem linken Bein nach der Wade von Lis Standbein, so dass Li erneut zu Boden ging. Diesmal brauchte es kein Eingreifen des Ringrichters. Luan trat zurück, zuckte mit den Schultern und schaute, während Li sich hochrappelte, wieder auf seine nicht vorhandene Armbanduhr.
Li, der kaum noch Kraft in den Armen hatte, beschloss, nun alles auf eine Karte zu setzen. Als Luan erneut auf ihn zukam, sprang er hoch, wirbelte in der Luft um 180 Grad und traf Luan mit dem rechten Fuß am Kopf, blieb dort aber irgendwie hängen und spürte im Fallen erleichtert, dass auch sein Gegner zu Boden ging. Li rollte sich ab und stand auf. Auch Luan hatte sich rasch vom Boden erhoben. Der Ringrichter ging zu ihm hin und zählte mit den Fingern vor seinen Augen bis zehn, zur Prüfung, ob er in der Lage war, den Kampf fortzusetzen.
Es war offensichtlich, dass das nur der Kameras wegen geschah. Niemand, der Luan sah, konnte daran zweifeln, dass der Tritt ihn zwar überrascht und von den Füßen gerissen, ihm aber nicht ernstlich zugesetzt hatte. Als der Kampf wieder aufgenommen wurde, trat Luan auf Li zu, schlug ihm zwei gerade Fäuste ins Gesicht und trat ihm mit den rechten Bein die Beine weg, so dass Li erneut zu Boden ging. Er stand noch einmal auf, wurde aber sofort von einer weiteren Faust getroffen, die ihn zurück und in die Seile taumeln ließ. Dort blieb er hängen, während Luan mit kräftigen Schlägen auf seinen Kopf einprügelte, bis erneut ein Gong ertönte, der Ringrichter dazwischen ging und den Kampf für beendet erklärt.
Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Li sich soweit erholt hatte, dass er zur Bekanntgabe des Ergebnisses in der Ringmitte stehen konnte; selbst dabei musste ihn einer der Ringärzte stützen. Nur verschwommen nahm er war, dass sich ein weiterer Ringarzt an Luans Seite aufgestellt hatte, den dieser unwillig, aber vergeblich loszuwerden versuchte. Dann erklang die Stimme der Schiedsrichter aus den Lautsprechern. Da keiner der beiden Kämpfer einen KO erreicht habe, hieß es, sei der Kampf nach Trefferpunkten entschieden worden. Da beide Seiten zahlreiche Treffer hätten landen können, ende der Kampf unentschieden. Während die Menge applaudierte, ergriff der Ringrichter die Händer der neben ihm stehenden Kämpfer und riss ihre Arme in die Höhe, zum Zeichen, dass beide gewonnen hatten.
XII
Als Li vom Weckton seines Smartphones erwachte, war es schon taghell. Sein erster Blick galt dem Telefon. 11965 Kommentare. Das waren 20 mehr als vor dem Einschlafen. Er rollte sich von seiner Matte zur Seite, machte ein paar Liegestütze. Dann stand er auf. Er fühlte eine bleierne Müdigkeit. Es war spät geworden gestern, bis weit in die Nacht hinein hatte er im Internet Video um Video angeschaut, in dem sein Kampf mit Luan gezeigt und besprochen wurde. Es waren die immer gleichen Aufnahmen, er kannte sie längst, und doch sah er sie sich immer und immer wieder an, ehe er sich, oft stundenlang, in den endlosen Bart von Kommentaren vertiefte, der jeder davon rasch gewachsen war. Selbst das Fernsehen hatte berichtet, fast zehn Minuten lang in einer Sportsendung mit einem Beitrag, den er sich seit Wochen beinahe stündlich ansah. Vielleicht konnte etwas Kaffee ihn munter machen. Er setzte Wasser auf, und während es kochte, ließ er den Bericht laufen.
Der Film begann nach einer Erläuterung der Hintergründe des Kampfes in dem Moment, in dem Li sich vor Luan verbeugte. Li schien es, dass die Zeitspanne zwischen der Verbeugung und Luans erstem Schlag technisch verkürzt worden war. Es machte den Eindruck, als hätte Luan ihn mitten in der Verbeugung angegriffen, was sicher nicht stimmte. Dennoch tat das Bild auch bei Li seine Wirkung: Selbst er, der es doch besser wusste, war von dem, was er sah, empört. „Der MMA-Kämpfer greift den Meister während der Begrüßung völlig unvermittelt an, um überhaupt eine Chance zu haben.“ erklang die Stimme des Sprechers. Dann wurde der Sprungtritt gezeigt, bei dem Li und sein Gegner gestürzt waren. Der Schnitt war raffiniert: Man sah Lis Angriff, dann sah man Luan in einer Nahaufnahme in Zeitlupe fallen. Von Lis eigenem Sturz war nichts mehr zu sehen. „Der Kung-Fu-Meister bringt den MMA-Kämpfer mit einem Sprungtritt zu Boden.“ - hier wurde gezeigt, wie der Schiedsrichter vor Luans Augen zählte - „Der MMA-Kämpfer ist für einige Zeit benommen. Wäre der Kampf an dieser Stelle nicht unterbrochen worden, wäre es vorbei gewesen.“ Nun sah man Lis zweiminütige Faustattacken, denen auszuweichen Luan nicht für der Mühe wert befunden hatte. „Durch den Tritt geschwächt kann der MMA-Kämpfer sich kaum noch verteidigen. Um seinen fast wehrlosen Gegner nicht zu sehr zu verletzen, beschränkt sich der ehrenwerte Meister Li auf Schläge aus kurzer Distanz. Zum Glück für den MMA-Kämpfer endet der Kampf, ehe er unter dem Angriff zusammenbricht.“ An dieser Stelle hörte man eine Glocke. Nun sah man, wie der Schiedsrichter Luans und Lis Arme nach oben riss. „Da die Kampfzeit den MMA-Kämpfer knapp vor einem KO gerettet hat, wird der Kampf nach Punkten entschieden. Dabei zählen die Treffer, die der MMA-Kämpfer durch die listige Attacke zu Beginn gelandet hat“ – hier sah man erneut, wie Li nach der Verbeugung geschlagen wurde, diesmal kam Li die Zeit noch kürzer vor - „so dass der MMA-Kämpfer mit einem unverdienten Gleichstand nach Hause fahren kann.“ Zuletzt sah man, wie Luan über die Entscheidung lachte. „Die Sache ist noch einmal glimpflich für ihn ausgegangen. Er hat allen Grund, seinem Glück und der Zurückhaltung des ehrenwerten und gütigen Meister Li zu danken.“
Natürlich gab es auch Aufnahmen, die einen deutlich anderen Verlauf zeigten; und natürlich verbreiteten sie sich im Internet, zumindest in den USA und in Europa. Hier aber waren die Behörden bisher sehr erfolgreich darin, sie zu blockieren. Kaum ein Video, das den Kampf in voller Länge zeigte, war in China verfügbar; und wer es trotzdem kannte, tat zumindest gut daran, es nicht zuzugeben.
Der Kaffee war fertig. Li stellte die Tasse auf seinen Tisch, setzte sich und las die neuen Kommentare:
„Leg dich nicht mit Kung Fu an, Milchbubi!“
„Scharlatan in your face!“
„Was für ein Quatsch! Schaut euch mal den echten Kampf an. Der Kung Fu-Typ war voll fertig. Wenn der Gong nicht drei Minuten zu früh geläutet hätte, wäre der sowas von KO gewesen! Hier könnt ihr sehen, wie es wirklich war:“ Darauf folgte ein Link, der aber nur zu der Mitteilung führte, unter der angegebenen Adresse sei nichts zu finden. Es gab einige Antworten auf diesen Kommentar, doch ehe Li sie ansehen konnte, war auch der Kommentar verschwunden.
„Respekt, dass er so fair geblieben ist. Wenn einer mir so käme...“
Als Li seinen Kaffee ausgetrunken hatte, war es bereits Zeit, ins Training zu gehen.
Etwas später stand Li in der Halle und wartete. Nach und nach kamen die Schüler herein und nahmen Aufstellung. Li fiel auf, dass Chen, die sich in der letzten Woche entschuldigt hatte, um die Hochzeit ihrer Schwester zu besuchen, nun schon zum dritten Mal fehlte. Ob sie noch einmal auftauchen würde? Auch Lu, Phui und Zhang waren schon seit einiger Zeit nicht mehr erschienen. Wenn Li einen davon auf der Straße traf, hatten sie nächste Woche eine wichtige Prüfung, oder plötzlich unerklärliche Schmerzen im Fuß, oder waren gerade erkältet, bedauerten, gerade nicht kommen zu können und versicherten, dass sie in der nächsten Woche aber ganz gewiss kommen würden. Aber sie kamen nicht. Von denen, die Meister Li vor drei Monaten unterrichtet hatte, war nur noch knapp die Hälfte da. Juan und Xin waren gekommen, wie immer standen sie am linken Rand der Reihe, die auf der anderen Seite mit Chang endete, der zu Boden schaute und an seinen Nägeln kaute. Als Li zum Zeichen, dass das Training begann, in die Hände klatschte, schrak er zusammen.
Nachdem die Meditation geendet hatte, kamen zwei Nachzügler herein und reihten sich wie selbstverständlich in das Aufwärmtraining ein. Ich muss mit ihnen reden, dachte Li, das ist jetzt schon das dritte Mal; doch um das Training nicht zu stören, beließ er es einstweilen dabei, ihnen die Übung anzusagen, die gerade auszuführen war. Beim Laufen trabten die meisten nur lustlos vor sich hin. Liegestütze und Kniebeugen schienen nur diejenigen zu machen, die sich gerade von Li beobachtet glaubten. Auch das anschließende Pratzentraining verlief ohne rechten Schwung.
Auf Lis Korrekturen reagierten sie nur zögerlich, ja beinahe widerwillig. Fast schienen sie die Tritte nur zu spielen als sie wirklich auszuführen. Einer schaute sogar zwischenzeitlich auf sein Telefon und maulte, als Li ihm das energisch verbat.
Als das Training endlich vorbei war und die Lichter gelöscht und die Halle abgeschlossen hatte, trat er auf die Straße, wo es inzwischen abendlich dämmerte. Er verabschiedete sich von Xin, die vor der Halle stand und telefonierte. Im Davongehen hörte er sie sagen: „Papa? Ich bin es. Wir sind fertig. Kannst Du mich abholen?“
ENDE
Kampf und Kunst
O Mnemosyne,
juhu, wunderbar, dass du dein Ritual pflegst. Danke für das tolle Weihnachtsgeschenk.
Eine großartige zeitgeistige Thematisierung der "Wahrheit", in einem Rutsch gelesen. Schön auch, dass du dem Widersacher, dem Antagonisten einen Hintergrund gibst und ihn nicht nur böse machst, er wie alle Täter und Opfer ist. Selbst die Arme der Autokratie haben ja im Grunde lautere Absichten (Hans, danke für das Spiel)...
so speckig hatte ich mir den Meister gar nicht vorgestellt
*whow großartig, da steckt so viel drin, auch über "die Wahrheit"... und schön, nein genial, die Zeitschnitte vom Endkampf angelegt.
aber sie hatte zuvor doch schon den Blick zum Telefon aufgegeben? Hat mich irritiert.
fand ich perspektivisch auch schräg
also von dem Wasserquell des Schoßes der Erde und des Lebens der Anfangsszene zum schnöden Kaffee ist doch eine etwas zu heftige Entwicklung?
Viel Grüße
Nifl
juhu, wunderbar, dass du dein Ritual pflegst. Danke für das tolle Weihnachtsgeschenk.
Eine großartige zeitgeistige Thematisierung der "Wahrheit", in einem Rutsch gelesen. Schön auch, dass du dem Widersacher, dem Antagonisten einen Hintergrund gibst und ihn nicht nur böse machst, er wie alle Täter und Opfer ist. Selbst die Arme der Autokratie haben ja im Grunde lautere Absichten (Hans, danke für das Spiel)...
wie sich Lis Brüste unter ihrem verschwitzten
so speckig hatte ich mir den Meister gar nicht vorgestellt
In der letzte Einstellung
Wann immer Luan später an diesen Moment zurückdachte –und das geschah oft –hielt er sich etwas darauf zugute, dass er trotz allem, trotz der Vergeblichkeit jeder Rebellion, trotz der Angst um sein Leben und das seiner Familie, trotz der grausamen Schmerzen in seinen Fingern ein paar Sekunden gezögert hatte, ehe er hervor gequetscht hatte:
*whow großartig, da steckt so viel drin, auch über "die Wahrheit"... und schön, nein genial, die Zeitschnitte vom Endkampf angelegt.
erwiderte Xin, ohne den Blick von ihrem Telefon zu nehmen.
aber sie hatte zuvor doch schon den Blick zum Telefon aufgegeben? Hat mich irritiert.
Dann schaute er Xu an.
fand ich perspektivisch auch schräg
ich denke, er hat keinen? Und wieso hat die Staatsmacht nicht wie angekündigt erschwerend interveniert?Luan umklammerte das Steuer seines Wagens so fest, dass seine Knöchel weiß
Viele hatte ihm zugestimmt.
Als Li seinen Kaffee ausgetrunken hatte, war es bereits Zeit, ins Training zu gehen.
also von dem Wasserquell des Schoßes der Erde und des Lebens der Anfangsszene zum schnöden Kaffee ist doch eine etwas zu heftige Entwicklung?
Viel Grüße
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)
Lieber Nifl,
vielen Dank für deinen Kommentar und deine guten Hinweise!
Die Tippfehler habe ich schon korrigiert, an den inhaltlichen Punkten feile ich die Tage - da habe ich einfach mit einer etwas zu heißen Nadel gestrickt, um bis Heiligabend fertig zu werden. (Abgesehen vom Kaffee, die Entwicklung ist zwar heftig, aber das soll sie auch sein. Das Gleichgewicht zwischen "zu subtil" und "zu plakativ" ist delikat...)
Viele Grüße und noch schöne Feiertage!
Merlin
vielen Dank für deinen Kommentar und deine guten Hinweise!
Die Tippfehler habe ich schon korrigiert, an den inhaltlichen Punkten feile ich die Tage - da habe ich einfach mit einer etwas zu heißen Nadel gestrickt, um bis Heiligabend fertig zu werden. (Abgesehen vom Kaffee, die Entwicklung ist zwar heftig, aber das soll sie auch sein. Das Gleichgewicht zwischen "zu subtil" und "zu plakativ" ist delikat...)
Viele Grüße und noch schöne Feiertage!
Merlin
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