Großstadtgedanken

Herby

Beitragvon Herby » 21.10.2006, 20:17

Großstadtgedanken

Sinnend gehe ich durch eine große Stadt,
allein, nur einer unter vielen in der Menge.
Wo mögen all die Namenlosen bleiben,
wenn Nacht sich senkt? Niemand hat
Zeit zum Atmen, Zeit zur Rast,
und in der Menschenströme Enge
lass ich mich ziellos weiter treiben
im steten Wirbel teilnahmsloser Hast

auf lauten Wegen, die ins Nichts mich führen.
Ich blicke in versteinerte Gesichter,
Figuren, aufgereiht auf spröden Lebensschnüren.
Leere Münder, falsches Lächeln, nicht ein Wort,
große, hohle Augen ohne Lichter.
Ich fühl mich fremd an diesem kalten Ort,
inmitten all der Tausend
doch allein.*


*Den Schluss habe ich auf Gerdas Anregung hin geändert: letzter Vers gestrichen, Setzung des vorletzten Verses geändert.
Die ursprüngliche Fassung lautete:

inmitten all der Tausend doch allein.
Sag, wie kann ein Mensch so einsam sein?
Zuletzt geändert von Herby am 27.10.2006, 19:36, insgesamt 1-mal geändert.

Max

Beitragvon Max » 21.10.2006, 22:15

Lieber Herby,

das Grundgefühl dieses Gedichts kenne ich gut, ja es gab Zeiten, in denen ich die Großstadt gerade wegen dieses Gefühls aufsuchte.

Ich frage mich bei Deinen Zeilen, ob der reim dem Gedicht zuträglich ist oder ob nicht hier die freiere Form geeigneter wäre. Ich will ein Beispiel geben. In

Sinnend gehe ich durch eine große Stadt,
allein, nur einer unter vielen in der Menge.
Wo mögen all die Namenlosen bleiben,
wenn Nacht sich senkt? Niemand hat
Zeit zum Atmen, Zeit zur Rast,


finde ich den Reim in Zeile 4 (hat auf Stadt) sogar hinderlich. Die Zeile

Niemand hat Zeit zum Atmen, Zeit zur Rast

will doch eigentlich wegen ihres Inhaltes duchgelesen werden - in einem Rutsch sozusagen. Der Reim lässt nach dem "hat" eine - für mich - sehr künstliche Pause entstehen.

Liebe Grüße
max

Gast

Beitragvon Gast » 22.10.2006, 02:38

Lieber Herby,

Weihnachten, von J. v. Eichendorff beinhaltet im ersten V Z3:
Sinnend geh ich durch die Gassen...
daran musst ich zunächst denken... ;-)
Nun hier ein ganz anderes "Sinnen"
Wie schön auch das "sinnend" ist, so scheint es mir gar nicht recht zu passen, weil es einen so positiven Klang hat.
Das Wort gedankenvoll würde es vielleicht besser treffen, oder nachdenklich. Zugegeben keine besonders lyrischen Worte.

Ich finde dein Gedicht könnte mehr Verdichtung vertragen und wenn dabei die Reime geopfert würden, wäre dies m. E. gut für den Text.
Ich habe versucht, an dem Gedicht zu arbeiten, aber er sperrt sich mir ein wenig.
Ich glaube fast, lieber Herby, dass dies ein Text, für eine Kurzprosabetrachtung wäre.

Es fällt mir auf, dass ja nicht nur die anderen Menschen für dich fremd und namenlos sind, die möglicherweise kein Dach über dem Kopf haben, wenn die Nacht sich senkt, sondern du bist
im Grunde Namenloser unter Gleichen.
Mir ist das Gedicht zu allgemein und zu plakativ, ich glaube ganz ernsthaft, dass der Text sehr gewänne, wenn du ihn als Prosa schreiben würdest und dann z. B. auch konkret vom falschen Lächeln der blonden Frau, (als Beispiel) und den starren Augen des Mannes mit Bart o. ä. erzählen würdest.
Denn selbst wenn man mit diesem Gefühl der Einsamkeit durch eine Masse Menschen watet, sind es doch einzelne Gesichter, die einen nachdenklich stimmen und nicht die Masse an sich.
(Der Begriff die Menge oder Masse, die sich um den Einzelnen, das Individuum nicht schert, ist zu abstrakt, dabei verbraucht durch viele nichtssagende Äußerungen, dass der Mensch in der Masse einsam sei.

Das Gefühl der Einsamkeit als Einzelner in einer großen Menschenmasse, habe ich selbst auch schon erlebt.
Dein Gedicht trägt das Gefühl aber nicht so richtig an mich heran.

Liebe Grüße
Gerda

Herby

Beitragvon Herby » 23.10.2006, 19:48

Lieber Max, liebe Gerda

herzlichen Dank fürs Lesen, Nachdenken und Kommentieren.

Ihr geht beide auf die Reimform meines Textes ein, die Ihr kritisch seht. Ich habe 2005, als ich an dem Text arbeitete, versucht, meine Gedanken zunächst reimlos zu formulieren. Es war mehr als mühsam und mit dem Ergebnis war ich überhaupt nicht zufrieden. Ich erinnere mich noch gut, dass ich immer wieder in gebundene Sprache verfiel, wobei es dann letztlich auch geblieben ist. Die Reimform und Metrik meines Textes ist bewusst unregelmäßig, was auch für die Zeilensprünge und den von Dir, Max, angesprochenen Bruch in der ersten Strophe gilt.
Mir schien diese Unregelmäßigkeit ganz passend und unterstützend angesichts der Tatsache, dass auch eine Großstadt wenig Gleichmäßigkeit im Lebensrhythmus aufweist. Grundsätzlich glaube ich nicht, dass Gedichten zum Thema Großstadt Reime abträglich sind, doch bin ich mir unsicher, ob Du, Max, diesen Gedanken tatsächlich als eine Grundsatzüberlegung meintest oder ob er sich nur auf meinen Text bezog.

Liebe Gerda, der gute alte Eichendorff war mir damals definitiv nicht im Sinn, als ich über „sinnend“ sann. ;-) Ich bin auch noch unschlüssig, ob das Verb „sinnen“ tatsächlich einen so positiven Klang hat, wie Du schreibst. Die Alternativen, die Du aufzeigst, sind tatsächlich nicht besonders lyrisch, da gebe ich Dir völlig Recht. Ich frage mich aber noch, worin für Dich der Bedeutungsunterschied zwischen „sinnend“ und dem von Dir vorgeschlagenen „nachdenklich“ besteht. Den sehe ich noch nicht.
Über Deinen Vorschlag, das Gedicht zu einem Prosatext auszuarbeiten, denke ich gerne nach. Da Du ja weißt, dass ich mich mit Prosa noch schwer tue, wäre es eine reizvolle Herausforderung für mich. Mir fällt gerade ein, dass ich eventuell Motive aus meinem „Alten“ dafür verwenden oder umgekehrt Elemente aus diesem Gedicht in eine Neubearbeitung des „Alten“ einfließen lassen könnte.

Danke auch fürs Verschieben, Gerda! :eusa_angel:

Liebe Grüße in eine für Euch beide hoffentlich gute Woche!
Herby

Gast

Beitragvon Gast » 25.10.2006, 02:59

Lieber Herby,

es ist schon merkwürdig, wie einen ein einziges Wort an ein ganzes Gedicht erinnern kann...
(sinnend)
Ich kann es dir nicht erklären, aber das "sinnend" beinhaltet für mich halt abgesehen von der Posie, eben ausschließlich positive Gedanken..
"Grübelnd", endlich habe es, das wäre m. E. das treffende Partizip zu Beginn des Gedichts.
Deine Ideen bezüglich einer Erweiterung deines Prosatexts hören sich in der Tat interessant an, und ich bin schon gespannt.
Ich habe dein Gedicht unter den Aspekten, die wir neulich mal besprachen, jetzt erneut mehrfach gelesen.
Inzwischen bin ich so vertraut mit dem Text, dass ich ihn in seinen Brüchen mag.
Vielleicht könntest du dich entschließen, noch einmal über 2 Stellen nachzudenken:
Einmal: In der Menschenströme Enge/ hier gefällt mir die Kombination von Ströme/Enge nicht, vielleicht weil ungewohnt, Meeresengen sind geläufiger... Aber : "...in der Menschenmeere Enge"?
Da würd ich noch einmal überlegen und zum
Zweiten: Wie wäre es, die letzte Zeile zu streichen?
Dieser Ausruf hat etwas theatralisches, was sich nach der, doch eher sachlich nüchternen Beschreibung, für mich etwas gekünselt sentimental, ein wenig altbacken auch, anhört.
Vor allen Dingen, wen rufst du an?
(Ich vermute, dass das Gedicht hier nicht in einer Glaubensfrage enden soll)
Ich meine die vorletzte Zeile ist so stark, sie trägt den Schluss, man wird den "fehl." Reim nicht vermissen.
Mein Vorschlag für die Setzung:

inmitten all der Tausend -
doch allein.

Liebe nächtliche Grüße
Gerda
Vielen Dank auch für die guten Wünsche.

Herby

Beitragvon Herby » 27.10.2006, 19:28

Liebe Gerda,

ich danke Dir herzlich für Deine konstruktive Beschäftigung mit meinem Text. Zu Deinen Vorschlägen im Einzelnen:

a) Über „grübeln“ sinne ich noch ( oder grübele ich über „sinnen“? ). Das Wort will in meinen Ohren einfach nicht klingen, also werde ich mir damit noch Zeit lassen. Manchmal platzt der „Wortknoten“ viel müheloser, wenn man gar nicht mehr damit rechnet und daran denkt.

b) Was „der Menschenströme Enge“ angeht, so kannst Du dieses Phänomen hautnah erleben, wenn Du mal an einem Adventssamstag bei uns in Köln über die Hohe Straße gehst, :angst_2: sofern man das denn noch gehen nennen kann. Diese Stelle möchte ich gerne so belassen.

c) Deine Gedanken zum letzten Vers fand ich ebenso hilfreich wie überzeugend und ich übernehme Deine Vorschläge, auch was die Setzung betrifft, sehr gerne und dankbar!

Liebe Grüße
Herby


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