Der Tag als Monsieur Morgenrot und ich im Dichterwald waren:

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Louisa

Beitragvon Louisa » 29.07.2006, 23:30

Lieber Leser, auf Grund von geringer Nachfrage habe ich es mir nicht nehmen lassen Sie nun mit der zweiten Monsieur-Morgenrot-Geschichte zu belästigen. Ich befürchte sie ist um einiges länger geworden als die letzte. Wenn sie Vorschläge haben wie sie vielleicht Ihr Interesse wecken könnte, kontaktieren Sie mich einfach! "Monsieur Morgenrot: Klappe die Zweite!" Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit :blumen: !

An diesem anbrechenden Frühlingstag fand sich Monsieur Morgenrot im dichten, dichten Wald seines Lebens wieder. Um ihn sprossen die Birken aus dem Boden wie riesige Dalmatinerbeine. Ab und zu sah er vergilbende Erinnerungen in kleinen Astgabelungen, die er zwar nicht mit den Händen erreichen konnte, da sie viel zu weit über seinem schlauen Haupt hingen, doch aber von fern immer wieder grüblerisch betrachtete.

Die Vögel hatten bereits seit vier Stunden angefangen ihre Artgenossen musikalisch zu bezirzen (man hörte einen Specht, der sich und seiner Liebsten ein Baumhaus zu Recht hackte)...Nur die Eulen, denen man schon immer nachsagte weise zu sein, blieben stumm.

Dies wiederum, schlussfolgerte Monsieur Morgenrot, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Weisheit an sich tagsüber schweigt und erst nachts, wenn auch der Letzte sein Nachttischlampenknöpfchen gedrückt hatte, ihren Schnabel öffnete.
Während Monsieur ein welkes Blatt vom morgenrot-roséfarbenen Hemdsärmel strich, bestaunte er eine der braunen Eulen, die auf einem starken Ast schlummerte.
-Er beschloss sein Schweigen fort an zu intensivieren...

Er schlenderte seinen Pfad entlang und es war als ob seine (in höchstem Maße verführerischen) Beine nur in der Lage waren sich nach vorn zu bewegen, doch wenn er sich umwandte war dort eine lange Linie seiner Fußspuren, die bis an den Anfang des Weges führte, von dem er nun kaum noch die Umrisse wahrnahm...ein weißes Licht brannte dort, er hatte es einmal im Traum ganz nah vor sich gesehen und eine behagliche Wärme auf der Haut gespürt.

Für Monsieur Morgenrot schien der gelaufene Weg hinter ihm jeden Tag aufs neue zu verwildern, er war überwuchert von seltenem Gestrüpp seiner Vergangenheit und an mancher Stelle sah er nicht einmal mehr seine eigenen Spuren auf fernen Abschnitten...

Sie waren ihm heute ganz fremd geworden und um sich nicht zu verlaufen, blickte er schnell wieder nach vorn auf die ebene, gerade Fläche vor ihm, auf der noch keine Gräser wucherten und auf die er in jeder Stunde neue Spuren legte....bis er am Ziel war. Doch was dieses Ziel war, wie es aussah...
Vielleicht wartete dort ein zahmes, gesatteltes Reh, dass mit mir über die Wolken reiten könnte, stellte er sich vor. Oder ein weiser Gärnter, der meinen Weg für die, die nach mir kommen freischlagen wird...vielleicht hätte dieser Gärtner Gummistiefel aus Sonnenlicht und einen Strohhut aus meinen geflochtenen Gedanken, den er zum Gruß nach oben nahm...

-Monsieur Morgenrot seufzte vor lauter Unwissen. Er verfolgte seinen Weg, den niemand mehr nach ihm einschlagen würde zusammen mit den 6,519 Milliarden Mitmenschen auf fremden Pfaden, die mit ihm auf der kreisenden Erde nach vorn irrten...


Er atmete plötzlich ganz befreit die Waldluft ein, die angefüllt war von einem erloschenen Lagerfeuer der letzten Nacht, Veilchendüften und Holzspänen. Die langen, geschmeidigen Äste der Birken pendelten sanft im Wind hin und her wie blassgrüne Halstücher...

-Schnitt-

Ca. zwei Kilometer nördlich wartete ich in einem Sumpfgebiet auf ein Wunder oder auf Monsieur Morgenrot (was im Grunde dasselbe ist). Vor mir lag das tiefschwarze Moor, die Luft war feucht und stickig. Es brodelte wie die Höllenglut und um mich herum wuchsen seltene Moorpflanzen wie grüner Schlangenwurz, violetter Blutweiderich oder (das war noch viel schlimmer) der neidgelbe Gewöhnliche Gilbweiderich-

Ein Teichfrosch lugte aus dem finst´ren Gewässer hervor und ich betrachtete die stillen Krähen und gespannten Tauben um mich herum, denn sie waren es, die mich zu diesem erschreckenden Ort geführt hatten.

Plötzlich fing das Moor an bedrohlicher zu brodeln und die allseits gefürchtete, letztverbleibende Moorhexe tauchte aus den düst´ren Tiefen ihrer eigenen Seele empor...
Sie erhob ihre beschwörende Stimme:

...Willst Du ein Gedicht verstehen
So trage allertage den Sezier-Kittel!

Schütze Dich vor jeder Emotion
Und erforsche zunächst die Stilmittel!

Auch befolge stets das rechte Zitieren
Hör bloß auf zu fliegen oder zu schwelgen

Denn
nie wollen wir den Verstand verlieren
Am Rad der Vernunft sind wir die Felgen!


-Ich sah mich erschaudert und angewidert um. Doch ich hörte nur krähende und gurrende Zustimmung.
Plötzlich tippte mir eine zarte Hand auf das Schulterblatt. Immer noch leicht schockiert und von der hypnotisierenden Nüchternheit der Moorhexe gelähmt wandte ich mich um.
Ich sah ein fremdes, aber doch merkwürdig vertrautes Frauengesicht.

Günther? fragte ich ungläubig.

Ich habe es gehasst damals so genannt zu werden. Was kann der Mensch für seinen Nachnamen?

-Ich traute meinen Augen kaum und dachte schon alles wäre einer meiner frei erfundenen Träume, aber dann erkannte ich ganz deutlich die weichen Gesichtszüge, das braune zusammengebundene Haar, das beige Kleid aus dem 18. Jahrhundert , die großen, asch-blauen Augen...
-Ja, es war tatsächlich Karoline von Günderrode in diesem Wald.

Was machst Du denn hier? Haben Dich auch die Tauben gerufen?

Leichte Bande sind mir Ketten
Und die Heimat wird zum Kerker.
Darum fort und fort ins Weite
Aus dem engen dumpfen Leben.
erwiderte sie mit leichtem Stolz.

Aha. fügte ich hinzu. Und, was gibt´s sonst noch Neues?

Ein Kuß im Traume-
Es hat ein Kuß mir Leben eingehaucht,
Gestillet meines Busens tiefstes Schmachten,
Komm, Dunkelheit! mich traulich zu umnachten,
Daß neue Wonne meine Lippe saugt.

Im Traume war solch Leben eingetaucht,
Drum leb' ich, ewig Träume zu betrachten,
Kann aller andern Freuden Glanz verachten
Weil nur die Nacht so süßen Balsam haucht...


Ja, gut.meinte ich verständnisvoll und aus Sympathie gegenüber einer scheinbar Gleichgesinnten hielt ich ihr die flache Handfläche vors Gesicht. Sie lachte und schlug kraftvoll ein.

Hat dieser Arzt sich nichts dabei gedacht, als Du ihn gefragt hast, welche Einstichstelle zum sofortigen Tod führt?

-Als er anfing darüber nachzudenken trieb meine Leiche schon im Rhein.

Oh- Hast Du noch immer Kopfschmerzen?

-Nein, im Himmel verteilen die Aspirin.

Auch Rachen-Drachen?

-Sie sah mich verständnislos an.

[i]Weißt Du, vielleicht bin ich doch kein gutes Vorbild für Dich...
meinte sie noch nachdenklich und verpuffte in einer kleinen Rauchwolke wie eine Wunderkerze.

Blubb-Blubb-Blubb-Blubb-Blubbwar das einzige, was man noch von der Moorhexe vernahm, wahrscheinlich hatte sie sich verschluckt.
-Das war die Gelegenheit!-dachte ich mir und spannte meinen unsichtbaren Bogen (für sie sah es aus, als ob ich einen nicht vorhandenen Kaugummi kunstvoll in die Länge zog) und der transparente (etwas weißliche) Windpfeil traf sie mitten ins Herz (prallte jedoch sofort ab, da es aus reinem Granit bestand).

-Schnitt-

Monsieur Morgenrot wurde es zur selben Zeit ziemlich unheimlich. Der Weg wurde immer stiller, er hörte keinen einzigen Vogel mehr und auch der Specht hackte kein Baumhaus. Das einzige was er hörte, waren die knisternden Schritte und das Geräusch zerbrechender, alter Baumrinde unter seinen (in höchstem Maße gepflegten und erotischen) Füßen.

Um das Unbehagen in sich etwas zu verdrängen fing er an Beethovens Freude schöner Götterfunken zu summen. Doch auch das wollte nicht recht helfen.

Auf einmal erschrak er fürchterlich, denn auf einem der nun immer dunkler werdenden Äste saß eine dürre, schwarze Gestalt mit zwei kleinen Gewitterwolken an Stelle der Augäpfel. Er fühlte den fauligen, kalten Atem dieser Gestalt an seine Wangen schleichen und sah wie sich das Wesen die Hände rieb und ihn finster anlächelte.

-Schnitt-

Ich versuchte nun schon den zehnten Pfeil auf die Moorhexe abzuschießen, doch es war eine nutzlose Mission. Aber meine Hartnäckigkeit war stärker: Ich nahm meinen besten Pfeil aus der Rückentasche, der wohl jedes Ungetüm auf der Welt besiegen würde, denn er bestand aus reiner Hoffnung.

-Ich spannte meinen Bogen bis zum Anschlag und-

O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
schrie mich Annette Droste Hülshoff von hinten an.

Ich erschrak derart, dass ich mich aus Reflex nach links in ihre Richtung drehte und den letzten, besten Pfeil verschoss.

-Schnitt-

Kennen wir uns nicht vom ersten Tag an? Zischelte das Wesen auf dem Baumstamm und Monsieur Morgenrot schaute voller Furcht zu ihm hoch. Es war so dunkel, dass er nur noch den Wald rechts und links, nicht aber den weiteren Verlauf des Weges erkennen konnte.

-Er konnte sich keinen Reim auf dieses -aber Moment- Er war bekanntlich Meister darin sich einen Reim auf dieses oder jenes zu machen und fragte sich plötzlich, ob der Weg denn heute zu Ende sei. Ob die 6,519 Milliarden Menschen genau dieses Wesen am Ziel erwartet. Ob es dann so dunkel wird, dass man seinen Pfad kaum noch sieht und nur noch ins Nichts irren kann, ohne etwas Greifbares finden zu können. Ohne den Weg unter sich zu spüren und ohne die Rinde brechen zu hören, geschweige denn den Grillgeruch vom alten Lagerfeuer auf der Zunge zu schmecken.

Als das Wesen sich gerade zum Sprung auf den Boden neben ihm bereit machte (ohne dabei vom Hände-Reiben abzulassen), schoss ihm der Hoffnungspfeil direkt durch den Kopf.

Eine weiße Wolke drang durch die Baumkrone und man hörte die Überbleibsel des Pfeils noch mit dem Wind hauchen: Es geht weiter.

-Der Weg lichtete sich wieder und Monsieur Morgenrot atmete auf. Zwar war der Pfad jetzt holprig und manchmal fing Monsieur sich Splitter in seine (bereits erwähnten) Füße ein und da die Sonne unterging fröstelte er auch ziemlich stark. Aber das Wesen war erst einmal besiegt und er spürte ganz fest den Weg unter sich.

-Schnitt-

Ich schluckte tief und hatte ab diesem Zeitpunkt keine Lust mehr. Die Nase war so voll vom Moorgeruch, dass ich mich aufmachte Monsieur Morgenrot zu suchen.

Zuerst lief ich meinen Weg in gemächlichen Schritten, aber plötzlich sah ich die Zeit an mir vorbei rennen. Sie war wie ein Blitz. Man konnte sie nur durch eine Zeitlupe sehen (die ich zufällig unter einem Fliegenpilz fand).

Sie hatte ein altes, zerfurchtes Gesicht, das von Gewissenlosigkeit und Alltag gekennzeichnet war. Wäre sie langsamer gelaufen, ich hätte sie ohrfeigen können, nach allem, was sie angerichtet hat. Aber so-

Ich konnte sie kaum noch sehen, so schnell bewegte sie sich davon. Alles um mich herum schien zu verwelken, verderben und zu sterben, aber irgendwo in diesem großen Lebenswald mussten sich doch die Wege von Monsieur Morgenrot und mir kreuzen, hoffte ich und die Verzweiflung haftete wie die dünnen Reste eines Bastelklebstoffs an meiner Haut.

Nun fing auch ich an zu rennen, weil das Scheppern eines eiskalten Metallwagens hinter mir immer lauter wurde und darauf ganz sicher meine hungrige Angst die Zügel ausschlug in der Erwartung mich zu verspeisen.

Ich rannte und rannte und rannte immer schneller meinen Weg nach vorn und malte mir den Tag aus, an dem ich endlich (für eine kurze Begegnung) an unserer Kreuzung ankommen würde. Das Ankommen war alles, was ich noch wollte und ich dachte an diesen Ort unseres Treffens wie an eine Lichtung im dunklen Wald.

Es war schon Nacht geworden und ich blieb atemlos stehen. Da sah ich dieselbe Eule, die Monsieur Morgenrot am Vormittag dort bewundert hatte. Sie war hellwach und in ihren großen, gelben Augen spiegelte sich für einen kleinen Augenblick genau diese Lichtung, von der ich träume.

-Schnitt-






Gestrichen:

Bist Du blöde? Der letzte Pfeil! Der allerletzte!schnauzte ich (was eigentlich ungewöhnlich war) die neue vertraute Dame an.

Ich dachte das passt hier her.

-Ja, aber doch nicht jetzt!

-Was für ne Stimmung hier unten, meine Güte! Da kommt man extra von seinem Stern hier runter gesprungen und dann. Pah, ich geh wieder hoch!


-Das hatte ich nicht gewollt. Also reichte ich der erzürnten Dame eines der Veilchen, die auch neben mir blühten.

Sie sah das Sträußchen für eine kurze Weile sehr abfällig an, zerriss es plötzlich und rief mir im Hochflug hinterher:


Blumentod! Blumentod!
Wie sind meine Finger so grün,
Blumen hab' ich zerrissen;
Sie wollten für mich blühn
Und haben sterben müssen.
Zuletzt geändert von Louisa am 31.07.2006, 16:39, insgesamt 10-mal geändert.

Louisa

Beitragvon Louisa » 31.07.2006, 18:09

Hallo lichel!

Vielen Dank! Sollte es vielleicht (das erscheint mir bei genauer Betrachtung logischer) nicht ein "Förster" am Ziel sein?

-Ich werde, was du bemerkst, morgen ändern! Jetzt ist es zeit für mich zu gehen! An einen äußerst wundersamen Dichterort :smile: ...

Morgen, morgen, nur nicht heute...sagt:

louisa

Und hier noch für die nacht: :blumen: :blumen:

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 01.08.2006, 15:47

Ich bin schon gespannt!

(Aber, in Betreff des Försters... müssen wir denn hier die Logik bemühen? Ich hoffe, das hat dir nicht die böse Moorhexe - oder, wiewohl das natürlich weit angenehmer wäre, die blaue Salondame, die zuweilen ja auch eine gewisse Bildlogik zitiert - ins Ohr getröpfelt. Ich finde, gerade weil er nicht ganz in den Wald passt, ist mir der Gärtner noch lieber als der Förster... ein Wald-Gärtner eben (damit verbinde ich auch eher Weisheit und Fürsorglichkeit). Aber du weißt selbstverständlich am Besten (oder vielleicht zweitbesten) was dein Monsieur sich wohl so denkt, wenn er sich sein Ziel vorstellt.)

Danke auch für die abendlichen Blumen! :smile:

lichelzauch

Morgen, morgen, war gestern schon: heute!

aram
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Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 02.08.2006, 00:38

liebe louisa,
wie du vielleicht schon weißt -

ich habe ja zu deinem m. morgenrot text nr 1 eigentlich nur einen satz geschrieben - weil ich ihn wirklich so berührend finde.

text 2 ist dann märchenhaft verspielter und ganz anders, nicht so persönlich, das geht aber auch nur einmal.

und dann ist es total schön wie du erzählst, ich bin sofort eingetaucht.

hab schon lang keine märchen mehr gelesen - stimmt gar nicht, ich habe viele märchenbücher - aber die meisten sind eben nicht besonders, und was ich eigentlich sagen wollte: ich hab schon lang keine so schöne märchengeschichte gelesen, in die ich so eintauchen konnte.

danke!

Louisa

Beitragvon Louisa » 02.08.2006, 00:43

Hallo laram :smile: !

Das lese ich hier zum zweiten mal, aber ich möchte mich gern noch einmal bedanken! Es ist sehr nett von Dir!

-Ich dachte dieses persönliche, unpersönliche Märchen muntert ein bisschen auf. -Mich hat es schon aufgemuntert (auch eine Form der Selbstbefriedigung :smile: )

Vielen Dank :blumen: und eine traumreiche Märchennacht! louisa

PS: Ich muss es doch erst Morgen (oder schon heute...) überarbeiten...Tagesplanung fehl geschlagen.


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