Prosalog

Hier ist Raum für gemeinsame unkommentierte Textfolgen
Nifl
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Beitragvon Nifl » 23.07.2007, 18:09

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Foto A.P. Sandor et moi


Prosafluss - Geheime Nachrichten - Flüsterpost - Prosapool - ungebunden - verbunden - Prosadialog - Prosakette - Prosa rhei - ungebunden - verbunden - Prosa - Blitzlichter - Prosalog - Wort zu Wort Beatmung - Prosafolge - ungebunden - verbunden


Hier handelt es sich um einen Faden, in dem ihr euch prosaisch zurücklehnen könnt. Lasst euren Gedanken freien Lauf. Erzählt von euren Träumen, eurem Ärger, euren Problemen, euren Sehnsüchten, euren Beobachtungen, euren Wünschen, euren Phantasien, euren Ideen, eurem Kummer, eurer Wut, eurem Tag, euren Spinnereien … "Die Wahrheit" spielt dabei selbstverständlich keine Rolle.
Fühlt euch frei.

Lasst euch von bereits verfassten Texten inspirieren, greift das Thema auf, oder schreibt einfach "frei Schnauze"… alles ist erlaubt.

Ich bin gespannt!




Kleingedrucktes:

Damit eure Kostbarkeiten behütet bleiben, müssen folgende Regeln beachtet werden:

Bitte keine Kommentare
Keine direkten Antworten (zB. Gratulationen, Beileidsbekundungen, Nachfragen etc.)
Keine Diskussionen
Kein Smalltalk oder Talk überhaupt

Geht immer davon aus, dass alle Texte Fiktion sind.



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Zuletzt geändert von Nifl am 04.08.2007, 09:08, insgesamt 1-mal geändert.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.06.2010, 16:05

Grauer Kaffee

Rühre ich weiße Farbe in einen Topf mit schwarzer Farbe, möchte ich mittendrin innehalten. Dieses faszinierende Ineinandergreifen festhalten, dieses Als-Ob, diese Schlieren, mal zart vermischt sich grau andeutend, mal strahlend noch das Weiß oder das Schwarz. Wer gewinnt die Oberhand. Diesen vielversprechenden Beginn trocknen und für die Ewigkeit sich manifestieren lassen.
Rühre ich weiter, wird alles Grau und langweilig wie Kaffee.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 19.06.2010, 20:43

Die Verspätung der Streicheleinheiten
(Träume XY)

"Du legst alle Gewalt in dein Fett und steckst deine Fistelstimme wie einen Korken oben drauf!", sagte ich zu dem grünhäutigen, fettleibigen Mann mit der Sopranstimme. Seine getrübten Augen schauten mich gebannt, also mit einer kräftigen Plötzlichkeit aber ohne Überraschung an.
Wenn ich den Korken ziehe, wird er den Kopf so tief und total hängen lassen, dass er einfach in ihn hineinsinkt, sizierte ich. Und wenn ich dann seinen fettigen Rücken poliere, wird er sich klaren und zwischen den Falten werden mich seine Augen weiter anschauen. Ins Fettkristall wird er gefallen sein und ich bin froh, dass ich zu tun haben werde in diesem Traum. Dass ich es hier sein werde, die ihn anschaut. Ich muss mich im Schlaf gewendet haben ...

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eva
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Beitragvon eva » 19.06.2010, 21:19

Ich muss mich im Schlaf gewendet haben und bin wohl dabei versehentlich auf die Bremse gekommen. Ein Schlag, ein Ruck wie bei einer alten Straßenbahn, ein Quietschen und dann blieb es stehen. Umgehend war mir kotzübel, die Gehirnflüssigkeit schwabte über, ich hielt mich krampfhaft am Gestänge fest - wartend, dass die Rotation wieder einsetzt. Aber es stand wie einbetoniert, keine einzige meiner gewohnten Bewegungen brachte es zum Zittern, nichts lief mehr. Jetzt war ich völlig desorientiert - was macht man so ohne Antrieb, ohne stressige Drehmomente, ohne atemlosen Dauertrab? Ich versuchte, es mental in Schwung zu bringen mit so kraftvollen Schmierwörtern wie Steuer2009 oder Mückennetzinstallation, aber es tat keinen Mucks. Auch das stolze Angebot Zweckverbandverkehrsüberwachungseilsache brachte nichts in Gang. Ich muss wohl den besten aller Mechatroniker anrufen: Hamsterrad kaputt, bitte kommen. Inzwischen mache ich mir es in seiner Mitte gemütlich und versuche mich daran zu erinnern, wie man einen Roman liest.
Zuletzt geändert von eva am 20.06.2010, 20:59, insgesamt 2-mal geändert.
Jetzter wird's nicht. D. Wittrock

Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.06.2010, 00:15

Die sich nie wendete

Man hat so viel über sie geschrieben, über ihren Wahn. (Wie lautet der Plural von Wahn, denn sie hatte viele, wird geschrieben). Jeden Tag ließ sie ihre Taille, ihre Waden, ihre Oberschenkel, ihre Knöchel messen. Mehrfach am Tag wurde sie gewogen und alles akribisch notiert. (Sie war bestimmt Bulimikerin. Dass sie Borderlinerin war, steht für mich außer Zweifel.) Ihr wahnsinnig langes Haar wurde einmal in der Woche gewaschen. Diese Procedur soll den ganzen Tag gedauert haben. Und sie legte sich zu Bett wie eine steife Puppe, ließ ihr Haar um sich herum drappieren, legte den Kopf auf ein hartes Stück, damit das Haar am Hinterkopf sich nicht eindrückte. (Das muss ganz schön wehgetan haben. Außerdem ist es extrem unbequem). Sie legte sich auf den Rücken, kerzengerade der Kopf, die ganze Nacht. (Wie sie wohl die Kinder gezeugt hat?) Und sie wendete sich nie!
Wenn ich morgens aufwache, hat sich meine Bettdecke mindestens zehn Mal mit mir gedreht.
Kaiserin werde ich niemals werden.

walden

Beitragvon walden » 20.06.2010, 12:34

Gleich wird sie erscheinen, ich schaue aus dem Fenster, Da ist sie. Die Frau im bunten Kjleid, den grauen Haaren und der weißen Bluse. Sie geht so schnell, doch ohne Eile. Sie hebt den Kopf, ohne dass es hochnäsig aussieht, streckt die Brust vor und wirkt doch nicht aufreizend, vielleicht ein wenig stolz. Gerne schaue ich hin, nie sieht sie zu mir. Ob sie weiß, dass es mich gibt? Ich bin zu weit seitlich, sie müsste sich drehen, um hierher zu schauen, das passte so wenig zu ihr, dass ich es nicht einmal erwarte. Ihr Gang gleicht einem Tanz, vor meinen Augen. Pensioniert soll sie sein, sie geht jeden Tag vorbei, jeden Tag um zwei. Und wohin? Ich weiß es nicht. Soll ich ihr einmal nachschleichen, ihre Welt ergründen und mir gemein machen, die mir doch, so unbekannt, eher adelig ist
Da, was ist das? Sie bleibt stehen, nie blieb sie stehen, sie wendet sich mir zu. Zwei Jahre lang, jeder Schritt von ihr, immer auf denselben Stein, ich verpasste kaum einen Tag, mich ihrem kurzen Tanz zu widmen, und nun sieht sie dort hinauf, legt eine Hand als Sonnenschutz an die Stirn. Sie dreht sich, beobachtet sie einen Vogel? , nun steht sie still, als sei das Vögelchen aus ihrem Blickfeld entschwunden und sie sieht weiter auf die Stelle, wo sie es zuletzt erblickte. Sie senjt den Kopf. Sieht mich an. Ich lächle

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 20.06.2010, 19:58

Wie lautet der Plural von Wahn
(oder Kreise um die eigene Betroffenheit ziehen)

Wähne. Darin sind sie Künstler. Innen. In jeder Flocke ein Zeichen. In jedem Zeichen eine Blase. Auf der Oberfläche ein Regenbogenfilm. Sie wähnen sich wund. Bis sich das Herz zum Schmerz dehnt. All das Ausgeatmete, Aufgeblasene und nichts mehr darin, was ihnen lebensnotwendig scheint. Eine feine Haut legt sich über ihre Gesichter. Eihäute, Seifenblasen, Bilder, die untergehen wie Öl. Der Körper begehrt. Sie fühlen ihn. Beinahe. Jenseits der Gedanken.

Mutterpusten. Dass es sich im Schrei gebiert, öffnet zum Licht hin, was auch der Tod sein könnte. Ein Blinzeln, Flaumhaare, in den Worten der Duft der eigenen Babys, fehlt. Ihre Hände, altersfleckig, ausgelaugt. Sie operieren, dekorieren, schneiden Fensterbilder aus. (Scherenschnitte legitimieren Schwarz.) Was sich in den Ecken sammelt, saugen sie ein. Dies saubere Dröhnen schluckt ihre Tränen. Es gibt Mittel, die den Geruch des Lebens löschen und Geschirrspülmittel mit konzentrierter Öllösekraft. Aufgeräumt.

Auf dem Meer schaukelt ein Teppich, der sich über die Dinge (im Namen der Ästhetik muss man Dinge sagen!) legt. Wie Erde auf einen Sarg fällt. Nur lautloser. Es wird in aller Munde geschehen. Das Sterben ... Das Werben. Das reimen sie leise vor sich hin, füllen ihre Augen. So legen sie sich an den Strand und warten im weißen Muschelsand, bis sie bei ihnen ankommt, diese schimmerweiche Welle. Sie schwappt über ihre Köpfe hinweg, wie man mit einer Vorstellung in eine Wolke fliegt. Sie leiden. Mit jedem Vogel, jedem Halm. Wähnen Flügel. Es finden sich immer Flügel unterm klebrigen Schwarz! Da käme jemand! Zur Rettung. Sanftgelockt durchs Binsengras.

Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 26.06.2010, 20:37

12 Störche/Kindheit

Auf den Wiesen seh ich sie, wieder da, niedergelassen.
Ich kenn sie nur so, wie ich sie jetzt seh: 12 an der Zahl, gehend, grasend, manchmal ein Stück gleitend; ich muss sagen: weise.
Wie viele sie gewesen sind, als sie aufbrachen, wissen (wenn) nur sie.

So müsste man es zeichnen können, will man beschreiben, wie es sich mit der Kindheit in einem verhält. Ja! Meine Kindheit: diese 12 Störche.

(War etwas fort? Ging etwas verloren? Die Arbeit von Flügelschlägen in einem Schwarm. Die angenommene Umrundung.)

Max

Beitragvon Max » 04.07.2010, 11:48

Frühstück am Domplatz. Ein Spalier aus Flaggen. Maltesische erinnere ich mich nach einigem Nachdenken. Entweder eine Invasion (ja, mit Malta hatten wir nicht gerechnet) oder der Orden der Malteser begeht eine Feier. Eine Prozession nähert sich. Menschen mit Hellebarden. Ich schaue zweimal. Doch, Hellebarden. Wie Karneval. Dann Ordensmitglieder mit dem Malteserkreuz. Dahinter der Bischof im Kardinalspurpur (Hochstapler). Die Gläubigen dahinter singen das Tantum ergo. Hinter mir hält Queen mit Too much Love will kill you dagegen. Gott, wenn es ihn wirklich gäbe, wo wäre er jetzt. Wahrscheinlich säße er in dem Café zwei Plätze weiter beim Frühstück und müsste grinsen. Oder würde seinem Fahrrad einen wütenden Tritt verpassen, weil er sich einen Platten gefahren hat. Über den Dom ziehen zwei Störche. Ein Handy neben mir vervollständigt die Lautkulissse.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.07.2010, 00:43


Der Blick einer Fremden

In all dem Getummel wurde mir heute etwas bewusst. Es war dieser Blick, ein ganz kurzer, kleiner Blick von ihr, der mir Großes offenbarte. Für mich etwas sehr Bedeutsames. Seit 16 Jahren habe ich etwas verloren und verliere es auch weiterhin jeden Tag. Doch gerade das Verlorene hat mich heute gewinnen lassen. Dieser Blick geht mir nicht aus dem Sinn. Er hat mir keine Tür geöffnet, sondern eine Welt. Eine neue Ich-Welt. Und das aus einem winzigen Blick einer mir eigentlich Fremden.
Heute war ein guter Tag!

Klara
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Beitragvon Klara » 14.07.2010, 23:26

Regina

Doch, ich fänd das schön, wenn er uns abholt.
Hab lange gezögert, darum zu bitten, und als ich mich endlich überwinde, streikt dreimal hintereinander die Technik, oder mein Mailprogramm verweigert mir die Auskunft, ob ich etwas abgeschickt habe und wenn ja was. Dann dachte ich: Okay, ein Wink des Schicksals, Bedeutung: „Lass es!“ Und rekonstruiere trotzdem, schriftlich, was ich geschrieben hätte. Meine Bitte. Das übliche schüchterne Gestammel, das stumme Schreien nach einem Strohhalm, das so forsch und mit allerlei selbstironischen Absicherungen nach links und rechts daher kommt, dem andern jede Möglichkeit offen hält, so dass die Abweisung nirgendwo anders spürbar wäre als in meiner Vorstellung (denn habe ich es nicht gewusst?): Holst du mich ab? Du musst nicht, du wirst nicht wollen – aber… vielleicht ja doch?

Stundenlang gehorche ich dem spontanen Versagen Technik, der Dysfunktionalität, will niemandem zu nahe treten, bis in den Abend, bis ein Glas Wein mich mürbe macht, und weich, zugleich scheinbar scharfsinnig, und noch bedürftiger, und ich schicke nochmal meine konstruierte Bitte, meine Hoffnung, meine sachliche Sehnsucht in die gleichgültige Unendlichkeit meines Computers, denn man sollte wohl zumindest so nah rangehen, dass man sieht, wie weit man gehen kann.

Das ist jetzt fünf Minuten her. Ich „checke meine Mails“, wie man so sagt, doch da gibt es nichts zu checken: Er antwortet nicht. natürlich. Er, Gott, oder der Mann, den ich gebeten habe, obwohl ich weiß, dass man Männer nur im Notfall um etwas bitten sollte, das man auch alleine erledigen könnte, sitzt gerade nicht am Computer, (ab wann ist es ein Notfall?) und falls er so einen tragbaren hat, so ein allzeitbereites, omnipotentes „internetfähiges Mobiltelefon“, ist er vielleicht so fähig, das auch mal auszuschalten. Hoffe ich jedenfalls, doch ich habe die Neigung, Leute zu überschätzen. Die Männer noch mehr, an die glaubt man so gern, glaubt mit voller Kraft gegen die Wand. Also sitze ich und „checke“ nicht eintreffende Antworten, genannt „Mails“. Luftbuchungen, wenn man so will.

Es ist ohnehin viel zu kurzfristig – morgen schon! Möge er uns abholen. Bat ich. Damit jede Ausrede zählt. Damit der Hieb nicht so hart trifft. Das Nein. Ich würde ihm natürlich Geld fürs Benzin geben, schrieb ich, obwohl Geld die Dinge nur schwieriger macht, die pure Erwähnung davon, die Tatsache als solche, die Ungleichheit, die diktatorische Gleichsetzung von Münzen und deren Seiten, Kopf oder Zahl, Medaillen für Leistungen, je weniger desto Verlierer; das Mannesritual: höher, weiter, größer, stärker, Geld; das unsachlichste aller Zahlungsmittel, das jede Beziehungsbewegung zwischen Menschen abfälscht, weil man „nichts schuldig bleiben“ darf. Niemals! Das hab ich gefressen. Dabei ist man das sowieso: schuldig. Auf Teufel komm raus. Auch das hab ich gefressen.

Es wird ihm zu weit sein, passt nicht, keine Zeit, keine Lust, und er wird die Angst haben wie jeder andere, den ich näher in den Blick nehme (womöglich ein Spiegel der meinen: Sie haben nicht Angst vor mir, sondern vor meiner Angst vor mir, denn Angst wirkt ansteckend wie Geld wie Gier).

Er hat ohnehin eine Freundin, aber mein Gott, darum geht es hier gar nicht. Es geht um etwas viel Größeres: meine Rettung. (Ich kann das alleine nicht: mich retten.) Es geht nicht um Liebe, sondern um Not (obwohl ich noch keine Verliebtheit gekannt habe, die nicht aus einem Mangel heraus entstanden wäre). Und es geht um Freude, um jene allgegenwärtige Angst, die ihr die Luft, die sich zu viel Raum nimmt. Das ist doch kein Leben! (Ich fahre kaum noch Auto, habe eine Höllenangst davor, andere Leute zu gefährden, in der Hauptangelegenheit schuldig zu werden. Deshalb überlasse ich diese Verantwortung anderen und nehme den Zug. Deshalb muss mich jemand abholen.)

"Regina kann dich abholen", hatte meine Mutter vorgeschlagen, bevor ich mich gezwungen sah, ihn zu bitten. Ach… Regina? „Nein!“ Diesmal bin ich erwachsen, diesmal reagiere ich schnell: „Dann nehme ich lieber einen Zug später.“ Ich kenne Regina nicht, weiß nur: Regina ist die neue Nachbarin meiner Mutter und zurzeit ihre beste Freundin, eine rasante Entwicklung. Erfahrungsgemäß kann sich die Situation schon in ein paar Wochen rapide ändern. Kann sein, dass Regina tatsächlich „total nett“ ist, „interessant“, „gebildet“, „unkonventionell“, aber die Erinnerung steckt mir zu tief im Hals: an zu viele Leute, die übergriffig wurden, damals, und derer meine Mutter dann irgendwann überdrüssig wurde, die aber, bis es so weit war, notgedrungen zu meinem Leben zu gehören hatten, als hätte ich sie mir ausgesucht (meine Mutter machte da kaum einen Unterschied: ihre Freunde sollten meine Freunde sein). Rasch komme ich mir auf die Schliche, „checke“, was da läuft in meinem Gehirn, doch das ändert nichts an meiner Abwehr. Unter der Regina nun leiden müssen wird: Ich werde sie anmuffeln, grantig sein, distanziert oder völlig abwesend. So habe ich es gelernt – Leute vor den Kopf stoßen als Überlebenstraining, schlechte Laune meine Lebensversicherung. Ich werde sie in ihre Schranken weisen. Auf keinen Fall lächeln. Ich werde so eklig sein, dass ich mich selbst nicht ausstehen kann. Ich werde ihr zeigen, dass sie bei uns nichts zu suchen hat - („bei uns“, was denke ich denn da, ich bin doch kein Kind mehr!) - bei meiner Mutter… - bei mir bei meiner Mutter!

Von Regina weiß ich nur, dass sie nach drei Tagen Aufenthalt im Heimatort meiner Mutter entschied „Hier ziehe ich hin.“ Die beiden hatten sich vorher noch nie gesehen, auch hatte Regina das Dorf nie besichtigt. Das kann man spontan nennen, entschlussfreudig, bedürftig, überstürzt oder völlig durchgeknallt, jedenfalls hat sie es dann getan, hat sich das Auto meiner Mutter geliehen, um ein paar Sachen von der Stadt, in der sie bis dahin lebte, ins Dorf zu schaffen, hat sich einquartiert in einer rasch gemieteten Wohnung, einen Job gesucht, und ist offenbar nun ständiger Gast bei – nicht bei uns, bei meiner Mutter. Und die freut sich, dass sie mit jemandem reden kann, obwohl sie sich am Anfang sehr skeptisch zeigte, mir gegenüber (wiederum per Mail), von Regina zunächst im Ton präventiver Genervtheit sprach, diese in einer „manischen Phase“ wähnte (und damit u.U. gar nicht mal falsch lag, aber was heißt das schon. Ich werde es erfahren, spekulieren oder ignorieren, morgen schon vermutlich. Hallo Regina…)

Ich fürchte mich, mehr als sonst, wenn ich im Begriff stehe, meine Mutter zu besuchen, und untersuche mich selbst: Warum versetzt mir das Vorhandensein einer Regina so einen AngstSchlag in die Magengrube, bevor ich sie überhaupt gesehen habe? Woher meine Vorbehalte? Warum werde ich unvermittelt wütend auf meine Mutter, als sie mir vorschlägt, Regina könne mich vom Zug abholen (eine Wut, die ich umgehend mit Schuldgefühlen unterdrücke – gelernt ist gelernt!)? Ist doch nett! Aber ich meine solche Angebote von früher zu kennen: Sie sind nie kostenlos, und die Kosten bestimme im Zweifelsfall nicht ich, sondern kaufe die Katze im Sack. Regina, die Königin der Sackkatzen. Ich dagegen bin für Volksherrschaft, und das Volk bin ich. Frei diesmal, geheim und wählend: instinktiv. (Mündig?)

Diese Leute, die da früher übergriffig wurden, als ich Kind war, die meine Mutter behelligten, amüsierten, herausforderten, waren Alltag. "Übergriffig“ meint nichts Sexuelles, nur die ständige Andeutung davon, auch die offensive Bedürftigkeit der Andern, die eigene Unwichtigkeit, und die daraus folgende Notwendigkeit des Mich-selbst-WegstellenIch habe das Gefühl, dass ich mich selbst ins Eisfach gelegt, mich eingefroren habe, mich aber nicht allein wieder auftauen kann. Die Kälte schützt mich nicht mehr, sondern schwächt, schränkt mich ein, be-hindert, und meine Umgebung verhält sich behindertengerecht: distanziert. Ich bin es leid! Ich möchte mir endlich erlauben, jemanden zu brauchen! Das habe ich noch nicht gelernt.

Ich erwäge, Regina Regina sein zu lassen, doch allein ihr Name löst einen Schutzreflex aus, den ich nicht steuern kann, nur nachvollziehen, auch wenn meine Interpretation vermutlich voll mit kindlichen Unterstellungen ist: Meine Mutter lässt wiedermal einen Menschen so nahe an sich ran, dass er sie ausnutzen wird, das ist die eine Angst, und ich muss damit irgendwie umgehen und gleichzeitig (vergeblich! mühsam!) versuchen zu verhindern, dass sie sich ausnutzen lässt, das ist die andere Angst, denn sie hat ja sonst keinen: das eigene Gefordertsein, und das notwendige Scheitern meiner Bemühungen. Meine Mutter hat nur mich und ihre immer neuen alten Fehler, hat immer nur sich, im Grunde. Darin sind wir einander gleich. Das ist die Hauptangst: das Gleichsein. Ich will anders sein dürfen. Und deshalb werde ich Regina willkommen heißen – auch wenn ich ja diejenige bin, die kommt. Ich nehme mir vor, Regina zu benutzen für mein Lernen. Es ist ein Trick, auch wenn das jetzt blöd klingt. (Es geht hier nicht darum, wie es klingt, sondern ob es wirkt. Das Aufschreiben kommt später, wird sich anschließen an diesen Katzensommer der Königinnen.)

Wenn sie, Regina, mir unerträglich wird, aufdringlich oder zu nah, kann ich sie immer noch anbrüllen. Steht mir doch jederzeit frei, die Ziege zu geben. Damit immerhin habe ich keine Probleme: Fremden pampig zu kommen. Aber es ist ja vielleicht, rede ich mir selbst gut zu, nicht unbedingt notwendig, schon bei der Begrüßung die Fäuste zu ballen. Vielleicht läge es im Bereich des Möglichen, also: im Bereich meiner Möglichkeiten, ihr eine Chance zu geben? Und mir?

Doch ich kralle mich an meinem wackligen alten Handy fest, als wäre es ein Teddybär, als könne es mich retten mit seinem Brummen, mit einer Nachricht oder so, von ihm oder von Gott, denn immerhin hat mindestens einer von beiden meine Nummer (ich bin ein Kind, das immer „ich“ schreibt, schreit, sogar, wenn es ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es sich so verhält. Als wüsste es das nicht! Wer mich kennt, weiß, dass ich ganz anders bin. Weniger – relevant als behauptet. Aber mich kennt ja keiner. Dafür sorge ich schon. Und auch diese Behauptung wäre nur ein Betteln um Aufmerksamkeit, um Zuwendung, denn natürlich bin ich genauso egozentrisch, wie ich sicherheitshalber behaupte.)

Doch, ich fänd’s schön, wenn er uns abholt morgen.

Aber jetzt, nach 15 Minuten, hat er noch nicht geantwortet, also gehe ich mal nicht davon aus. Man sollte nie zu viel hoffen, blablabla, dann wird die Enttäuschung nicht so groß. Wer hat mir eigentlich diesen Mist eingetrichtert? Warum sollte die Enttäuschung kleiner sein, wenn man sie vorwegnimmt? Wer hat das verfügt? Gott kann es nicht gewesen sein, oder? Die Große Solidarität, die wir mit ihm anstreben sollen, funktioniert nicht mit prophylaktischer Hoffnungslosigkeit - oder?

Antworte mir, Mann! Schick mir eine Mail, eine SMS oder irgendeine andere Nachricht, die ich verstehen kann. Ich würde sogar ans Telefon gehen, wenn du mir vorher Bescheid gibst, dass du es bist, der da ruft! Schick mir etwas, das ich interpretieren kann, einen Text! Eine Hoffnung! Ein Bild! Das ich auslegen kann wie die heilige Schrift. Bitte! Rette mich vor mir selbst und vor Regina! Man wird doch wohl noch hoffen dürfen – oder? Nur ein klitzekleines Bisschen? Und noch am Ende des Tages mit der unsterblichen Hoffnung ins Bett gehen.

Louisa

Beitragvon Louisa » 31.07.2010, 20:18

Was man sonst noch erwarten kann, wenn man den Rest überspringt:

Da war es genau 8.36 Uhr und das Schiff sollte ablegen. Es war kein besonders großes Schiff, aber auch kein besonders kleines. Die Besatzung tat das, von dem ich mir vorstellte, was sie zu tun hatte: Man drückte die Knöpfe, man kontrollierte die Lämpchen, man sah auf das Wasser, auf die Taue, den Motor, die Rettungsboote, man zählte die Mannschaft, man drückte die Tasten, man schwenkte das Ruder, man lenkte das Frachtgut, man befolgte Befehle, man erteilte dieselben, man grüßte sich, man sprach in sein Handy und schickte noch schnell eine Mail an die Mutter, man gab mir das Zeichen um irgendetwas dergleichen - zu tun.

Daraufhin sprang der Motor des normal großen Schiffes an und es stach in See. Ich sah wie mein kleiner Rassehund hinten von Deck ins Wasser fiel. Da das Schiff noch langsam war, sprang ich ihm nach. Ich griff nach dem zappelnden feuchten Fellknäuel und hievte ihn mit letzter Kraft zurück auf das Schiff. Immer im Bewusstsein: "Denn du bist ja schließlich Rettungsschwimmerin!" - (Das denke ich sogar, wenn ich einen Marienkäfer aus der Badewanne hole.)

Aber wie sollte ich nun zurück an Deck kommen? Das Schiff fuhr schon langsam schneller, der Motor brummte bedrohlich vor mir auf. Ich fasste ein Seil des Rettungsbootes, das am Schiff befestigt war, und zog mich ebenso an Deck (neben den Hund). Als ich aber hinter mich blickte, bemerkte ich, dass das Rettungsboot vom Schiff ins Wasser gefallen war. Ich wollte also wieder zurück ins Wasser springen - diesmal um das Rettungsboot zu retten, denn was tut man nicht alles als Rettungsschwimmerin!?

Leider fuhren wir zu schnell davon und traurig schaute ich dem einsamen Rettungsboot nach, das ungleichmäßig im Hafenbecken schwankte. So ging ich denn zum Kapitän!

Der Kapitän war ein ruhiger, rauer und roher Mann. Sein Gesicht war vom Saufen ganz rötlich und fertig, seine Hand voller goldener Ringe, sein Haar weder blond noch braun, aber strähnig. Er sah mich selbstbewusst an.
"Entschuldigen sie, es tut mir sehr leid, aber als ich meinen Hund aus dem Wasser gerettet habe ist mir leider das Rettungsboot ins Meer gefallen. Ich würde gerne die Erlaubnis einholen, ins Wasser springen und es an Bord zurückholen."
Er sah mich nachdenklich an und bemerkte mit leichter Ironie: "Das ist ja eine wahrhaft heldenhafte Tat! Das würde ich ja sehr rühmen, wenn es nicht unmöglich wäre, meine Dame! Wir werden jetzt umkehren, das Rettungsboot holen und dann den gewohnten Kurs einnehmen."
"Alles klar. Es tut mir sehr leid."
"Na, na - mein Mädchen, ist ja nicht so tragisch. Mit der Crew - mit der Crew muss ich jetzt aber schon mal reden."
"Aha!"

Er machte eine Lautsprecheransage an die Crew. Missmutig und meckernd nahm die gesamte Mannschaft an Bord den Weg vom Bug zum Heck auf. Wieso wir alle zum Heck liefen wollte ich gar nicht wissen, aber jeder tat es - selbst der Kapitän - Es schien für die Rückfahrt sehr wichtig zu sein.

Während wir zum Heck liefen fragte ich den Kapitän: "Warum sehen denn plötzlich alle so ärgerlich aus?"
"Na, meine Liebe, das konnten sie ja nicht wissen, aber durch den Zeitaufwand und den Treibstoffverbrauch dieser einen Rückfahrt verdient jedes unserer Besatzungsmitglieder nun 200 Euro weniger im Monat!"
"Tatsächlich! Das tut mir ja furchtbar leid! Das konnte ich ja nicht wissen!"
"Nein, das konnten sie nicht wissen, aber sie müssen ja bedenken: Der Zeitaufwand -"
"Der Zeitaufwand!"
"...und der Treibstoffverbrauch!"
"...und der Treibstoffverbrauch! Es tut mir so leid!"

Eines der Besatzungsmitglieder, eine kleine brünette Frau mit blauen Glubschaugen kam zu mir: "Wir verdienen jetzt 200 Euro weniger im Monat! Wegen dem Treibstoffverbrauch! Hast du kapiert?"
"Ja! Aber ja doch! Und das tut mir ja so furchtbar Leid mit dem Treibstoffverbrauch! Meine Güte!"
"Ja, ey."
Der Kapitän schmunzelte.

- Unwichtige Sequenzen werden in solchen Geschichten dann immer übersprungen. Wichtig ist nur, was irgendwann später passiert - so als könnte man das im wahren Leben genauso machen: Alles Langweilige, Nervenaufreibende, Schmerzhafte - das überspringt man einfach und geht weiter zur nächsten Überraschung, die angenehme Ablenkung vom Alltagstreiben verspricht - so geschieht es hier:

Wir hatten unser Ziel erreicht! Ich ging eine lange grüne Wiese entland. Die Wiese formte sich zu einer langen Landzunge, die immer noch begrünt und mit einzelnen schönen namenlosen Bäumen versehen, zu beiden Seiten den Blick auf ein klares, hellblaues Meer freilegte. Auf der Wiese sah ich einige Menschen liegen, spielen und sehr viele von ihnen angelten. Allesamt waren sie nackt und sie angelten mit dicken Bambusrohren. Ein oder mehrere meiner Freunde waren um mich herum verstreut. Mal waren sie da, mal waren sie verschwunden. Es hörte mir auf jeden Fall immer jemand zu, wenn ich etwas sagte.
"Ich will auch angeln! Ich will auch so ein Bambusrohr!"
Niemand hatte ein Bambusrohr für mich übrig. Ich beobachtete eine schlanke, rotblonde Frau Mitte 40, die zuerst Yoga machte und dann ihre Bambusangel ins Meer auswarf. Ich staunte. Das musste ein Fest sein. Es konnte ja nur so sein, das wir, unsere Schiffsmannschaft hier her Proviant, Spiele und andere Dinge, die zur Festlichkeit dienen, hier her gebracht hatten. Also war es ein Fest!

Ich ging über das Fest und beobachtete einige weiße Festzelte. Es gab Menschen die zuschauten, Menschen die vorführten, Menschen die aßen, Menschen die kochten, sprachen, tanzten, spielten, sangen, sich kennen lernten, sich trennten, es gab Menschen über Menschen - was genau sie da taten entsprach dem, was ich mir unter einem Fest vorstellte - ohne genauere Angaben.

Jemand schenkte mir ein schwarzes Netz. In diesem Netz waren lauter Spiele. "Weil du keine Angel bekommen hast!" sagte er und verschwand. Es gab darin ein Federballspiel, ein Klebestreifen-Abriss-Ball-Spiel, dessen Namen ich nicht einmal kenne, ein Tennisball, ein Gummiball, ein Tischtennisball, ein Kricket-Spiel, ein Wasserball -

Zu einem Freund, zu Aram, sagte ich: "Aram, lass uns das jetzt mal spielen!"
und er meinte nur: "Nein, ich will nicht! Ich will das jetzt nicht spielen!"
"Aber wieso denn nicht? Wir haben doch alles hier! Federball, Klebe-Abriss-Ball, Cricket! Ja sogar Kricket haben wir hier!"
"Nein, ich will das nicht spielen. Die Bälle sind mir zu hart!"
"Was?"
"Ja, die Bälle sind mir zu hart."
"Aber die sind doch gar nicht hart! Es gibt doch hier, den Federball und sieh doch mal, den Tennisball! Sieh doch mal hier, der weiche, weiche Tennisball!"
"Nein, der ist mir auch zu hart."
Ich hielt Aram den Tennisball vor die Nase. Er lehnte ab. Na gut, wenn Aram nicht mit mir spielen will, dann muss ich mir eben jemand anders suchen - und: Wir überspringen wieder und springen gleich ins Präsens dazu!

Da spreche ich mit einem großen, kräftigen, älteren Mann. Er hat einen hauchdünnen, dunklen Schnurrbart wie man sie als Reicher in 60-iger Jahre Filmen getragen hat. Wie Clark Gable sieht er aus - nur dicker. Ich frage ihn, ob wir spielen wollen und schon spielen wir stunden- ja wenn nicht tage- gefühlte wochenlang "Kricket" ! Ich weiß gar nicht wie das geht und spiele es hervorragend! Wir spielen und spielen Kricket! Wir spielen mit unseren Holzschlägern den Ball in die kleinen Holztore, wir jubeln! Ich habe lange weiße Strümpfe an und ein rotes Stirnband! Ich sehe schon aus wie ein Kricket-Nationalspieler - da hören wir auf zu spielen und sitzen auf einer Bank.

"Du?"
"Ja?"
"Ich muss dir unbedingt etwas erzählen."
"Was denn?" (Ich kenne seinen Namen nicht und starre auf seinen Schnurrbart, der mir eigentlich nicht gefällt.)
"Hier ist ein ganz wichtiger, ein ganz herausragender Kirchengemeindevorsteher zu Gast! Hier auf diesem Fest! Und es ist so erfüllend und schön, was er den Leuten gibt! Hast du jemals eine seiner Reden gelesen? Sie sind von einer so tiefen inneren Religiosität durchzogen, von einer solchen Gelassenheit und einem solchen Gottvertrauen, das ich wünschte ich könnte auch einmal dem beiwohnen, was er hier den Leuten vorstellt. Kennst du seine Texte?"
"Nein."

(Das er den Namen dieses Menschen nie erwähnt fällt mir gar nicht auf - )

Ich gebe "Clark Gable" einen Kuss auf die Wange obwohl ich seinen Schnurrbart nicht mag. Ich finde ihn auch ein bisschen blöd, aber - da überspringen wir wieder!

Wir stehen vor der Bühne des großartigen Kirchenvorstehers. Menschen drängen sich vor einem weißen Zelt. Hübsche Frauen geben Ansagen durch Lautsprecher durch.
"Da ist er! Da ist er! Siehst du ihn?"
"Wo denn? Ach das!"

Ich sehe einen leicht irre blickenden Mann Anfang 60 mit weißem längerem Haar und schwarzem Anzug. Er wirkt wie jemand aus Amerika - aus Las Vegas könnte er stammen. In den Armen hält er einen Berg grüner und roter Äpfel und wirft diese ohne jedes Konzept und ohne in seine Wurfrichtung zu sehen in die Menge. Begeistert fangen die Menschen die Früchte auf und schreien: "Er hat mir einen gegeben! Er hat ihn mir zugeworfen! Danke dir! Ich danke dir!"
Clark Gable steht mit mir in der Menge. Er sieht traurig aus.
"Ich werde niemals so eine Frucht fangen. Es ist aussichtslos. Bei diesen Menschenmassen. So was Dummes."

Ich betrachte sein trauriges Gesicht und danach das Gesicht des Wahnsinnigen auf der Bühne, der über ein Headset Sätze in die Menge sagte wie: "Geht nicht unter!" oder: "Bleibt bei euch!" oder: "Fangt noch etwas auf! Ja!"

Ohne mich anzusehen pfeffert der irre Priester einen grünen Apfel in meine Richtung. Ich fange ihn und gebe ihn teilnahmslos Clark Gable, der fast einen Herzstillstand vor Freude erleidet. Wir setzen uns mit dem Apfel an den Rand des Geschehens auf eine Bank. Clark Gable ist überglücklich. Ich beobachte wie die Leute durchdrehen, sich schubsen und hoch springen um einen Apfel zu fangen. Währenddessen bringen die hübschen, lächelnden Damen mit den Lautsprechern immer wieder neue Körbe mit Äpfeln zu dem wahnsinnigen Priester, der sie ohne zu danken in Massen aus den Körben greift und wie besinnungslos in die Menge pfeffert.

Abseits davon beobachte ich eine Frau wie sie still und heimlich blaue Teller, Tassen und anderes Geschirr von einem Stand klaut. Sie sieht sich angstvoll um, nimmt etwa zehn Untertassen, versteckt sie unter ihrem Mantel und geht rasch davon. Nach wenigen Augenblicken kommt sie wieder und entwendet neues Geschirr. Als sie gerade dabei ist vier Tassen aufeinander zu türmen und sich umzusehen stoße ich Clark Gable in die Seite und sage wie in Trance:

"Guck mal, die Frau." Zu diesem Zeitpunkt habe ich das Gefühl als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt, der diese Frau wahrnimmt ohne das sie selbst es weiß.
"Was? Oh, da ist ja Caroline!"
"Wer ist denn Caroline?"

Es ist die Frau von Clark Gable. Sie steht plötzlich vor uns. Sie trägt den gleichen dunkelblauen Anzug und dasselbe schwarze Hemd wie er selbst. Ihr ist es nur ein bisschen zu groß. Abschätzig sieht sie mich an und "holt ihren Mann ab" - wie sie es selbst formuliert.

Da sitze ich nun auf meiner Bank und das Fest neigt sich dem Ende.

"Hey, es gibt draußen im Garten ein Lachsfrühstück für dich! Es gibt draußen im Garten ein Lachsfrühstück! Hallo?"

Da ist es Aram, der mich auf die Wiese führt, wo sie wieder essen, kochen, sprechen, tanzen, spielen, singen, sich kennen lernen, sich trennen, es gibt Menschen über Menschen…

Fin

Mucki
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Beitragvon Mucki » 31.07.2010, 23:38

Nicht zu fassen

Zeit. Halt inne. Dass ich ihn erhaschen kann. Den so flüchtigen. Schneller als ein Zwinkern. Nicht zu greifen. Wie mein Schatten. Nicht eben. Nicht vorhin. Nicht gestern. Nicht gleich. Nicht nachher. Nicht morgen. Jetzt. Gedacht. Schon zerronnen. Nicht existent. Nicht zu halten. Renne ihm hinterher. Es gibt ihn nicht. Trügerischer Glaube. Ihn zu erleben. Festzuhalten. Wie die Zeit überlisten. Nicht zu fassen. Und Suche. Und Trotz. Ganz viel Trotz.

Gerda

Beitragvon Gerda » 04.08.2010, 05:23

valais

das auge sucht weite in luftiger höhe entlang des grats wo unterhalb des eises der karge fels noch warm / glockenblumen und wollgras fangen letzte sonnenstrahlen / berauscht vom fluss der gletschermilch den zu tal tobenden wassern zuhören / zwanzig minuten noch bis zur hütte auf dem plateau /
später baden die gipfel im süden über den wolken flamingofarben / die dunkelheit kommt heftig / zaghaft schimmert erstes sternensilber / surreal blinken ab und zu flugzeuge / eine sternschnuppe hat es eilig und fällt willkommen aus dem blauschwarzem samt / ich wünsche mir eine chance für uns /
kaum dass ich stundenweise schlaf finde auf dem harten lager / die kälte kriecht schweigend unter decken / lässt die glieder unbeweglich werden /
irgendwann wird es hell / dunst verzaubert die kulisse / in der frühen kühle schmerzt die raue schönheit / die naturgewalt / worte sind lässlich wenn sich die schleier lüften

©GJ 2008

Klara
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Beitragvon Klara » 13.08.2010, 20:19

Sommernotizen

Durch die Falten meiner Sehnsucht
falle ich,
trinke ich, um zu ertragen, dass die Mutter säuft
Herzlichen Glückwunsch, Mama, du wirst ein Jahr älter, und ich habe von dir gelernt, mich nicht beherrschen zu können, meine Maßlosigkeit.

Ich bin eine maßlose Tochter, die die Kontrolle niemals verlieren darf. Über nichts.
(Dieses Lernen hält ein Leben lang an, verliert nie seinen Reiz, seinen Schmerz, meiner Hingabe sicher.)

Du hast mir beigebracht, mich gegen dich zu verhärten wie gegen mein Leben; als weinender Stein lieg ich im Regen deiner Gefühle, und immer noch existiere ich, indem ich die Pfützen übertrete, all meinen existenziellen Bemühungen zum Trotz.

Es ist ein Fluch, es ist mein Fluch, es ist meine Morgenandacht, mein Abendgebet, meine Magenschleimhautentzündung, meine chronische Depression, meine unstillbare Trauer, mein Glück, mein Hunger, meine Schwäche, mein Leben: meine Mutter. Wann lerne ich, endlich, nur meinen eigenen Wein zu trinken?

(Es gibt Musik! Auch wenn du sie hören kannst!)

Kann ich erst frei entscheiden, wenn du tot bist – oder nie?

Ich liebe dein Land (es ist meins!)
(Das Internet ist wie du: eine russische Puppe: steckt immer eine weitere drin, mit demselben vom Gleichen. Überall ich. Überall du. Überall nichts.)

Ich habe mich daran gewöhnt, dass du trinkst (was du verträgst!)
Ich habe mich daran gewöhnt, wie wenig ich vertrage.
Mache Fortschritte, als wäre ich dein Patient (und werde bald aufhören müssen, mich als dein Polizist zu denken, dein Fremdenführer, deine Freundin, dein Arzt), möchte endlich deine Tochter sein.

Werde weitergehen, ganz langsam, im verblassenden Schatten deiner Schritte
Werde entkommen, Luft holen dabei, die nicht nach Säure riecht
Mein Glück (mein Glück!)
akzeptieren

Ein Dichter bleibt ein Dichter: un
berechenbar
Und immer wieder stehen

Doch ich bin nur ein einsamer Fisch:
Jedes Wort, das ich nicht aufschreibe, ist für immer verloren
Also bleib ich stehen, alle paar Schritte, in der Heide
(So kommt kein Mensch voran: notierend, ein Lied in allen Dingen, Prosa in jedem Klang
Und nur die Nacht verspricht das wunschlos Schönste: Schlaf.)

Anstellig manchmal
Und ganz groß
Im Kleinmachen

Und doch könnt ich heulen vor Glück
nach endlich langer Zeit
in mir altpapierleblos
Hab so lange nicht gewagt zu folgen
Das ölige Leben zwischen den Fingern
Und jeden Mond an der Backe
Hilf mir!
Helft mir alle, Gesichter, Gräser, Vögel, Fliegen und Würmer, Wind und Verdammnis, helft!
Ein Stückchen Zufall
Einen Brocken Liebe, solltet ihr doch fallen lassen können,
ohne dass ich drauftrete?

Die Worte werden mich führen
Das haben sie
immer schon getan mit mir
Sie nehmen mich an der Hand

(Er hat keinen Hund, kein Kind, keinen Vater, hat nur seine Zuverlässigkeit, die er mit großen Händen austeilt wie ein guter Bäcker sein Brot, und ich lasse sie, was er mir schenkt – in mich sinken, in mir Wurzeln schlagen, ohne zu wissen, was daraus Krummes wächst)

Der Schäfer nickt mir zu, der Abend fällt, sein surrendes Licht verstört.

Ich erhebe mich, gehe zurück zu den meinen: Mag sein, dass ich ein Schreiber bin, aber ich bin auch eine Mutter.
(Du bist ernst genug! Hör bloß nicht auf zu lachen dabei!)
(Die Zeit lass versickern, ich fang sie dir auf, und lass nichts verloren gehen!)
(Danke, Gott, für das Begehren, ich habe kaum noch dran geglaubt!)

Mich von Hoffnung ernährend
Lass ich nicht nach zu kämpfen
Eine Tintenpatrone für alle Fälle hab ich immer dabei
Falls die Munition ausgeht, und lösche das Licht (mein Licht!)
nur zum Schein


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