Beitragvon Klara » 14.07.2010, 23:26
Regina
Doch, ich fänd das schön, wenn er uns abholt.
Hab lange gezögert, darum zu bitten, und als ich mich endlich überwinde, streikt dreimal hintereinander die Technik, oder mein Mailprogramm verweigert mir die Auskunft, ob ich etwas abgeschickt habe und wenn ja was. Dann dachte ich: Okay, ein Wink des Schicksals, Bedeutung: „Lass es!“ Und rekonstruiere trotzdem, schriftlich, was ich geschrieben hätte. Meine Bitte. Das übliche schüchterne Gestammel, das stumme Schreien nach einem Strohhalm, das so forsch und mit allerlei selbstironischen Absicherungen nach links und rechts daher kommt, dem andern jede Möglichkeit offen hält, so dass die Abweisung nirgendwo anders spürbar wäre als in meiner Vorstellung (denn habe ich es nicht gewusst?): Holst du mich ab? Du musst nicht, du wirst nicht wollen – aber… vielleicht ja doch?
Stundenlang gehorche ich dem spontanen Versagen Technik, der Dysfunktionalität, will niemandem zu nahe treten, bis in den Abend, bis ein Glas Wein mich mürbe macht, und weich, zugleich scheinbar scharfsinnig, und noch bedürftiger, und ich schicke nochmal meine konstruierte Bitte, meine Hoffnung, meine sachliche Sehnsucht in die gleichgültige Unendlichkeit meines Computers, denn man sollte wohl zumindest so nah rangehen, dass man sieht, wie weit man gehen kann.
Das ist jetzt fünf Minuten her. Ich „checke meine Mails“, wie man so sagt, doch da gibt es nichts zu checken: Er antwortet nicht. natürlich. Er, Gott, oder der Mann, den ich gebeten habe, obwohl ich weiß, dass man Männer nur im Notfall um etwas bitten sollte, das man auch alleine erledigen könnte, sitzt gerade nicht am Computer, (ab wann ist es ein Notfall?) und falls er so einen tragbaren hat, so ein allzeitbereites, omnipotentes „internetfähiges Mobiltelefon“, ist er vielleicht so fähig, das auch mal auszuschalten. Hoffe ich jedenfalls, doch ich habe die Neigung, Leute zu überschätzen. Die Männer noch mehr, an die glaubt man so gern, glaubt mit voller Kraft gegen die Wand. Also sitze ich und „checke“ nicht eintreffende Antworten, genannt „Mails“. Luftbuchungen, wenn man so will.
Es ist ohnehin viel zu kurzfristig – morgen schon! Möge er uns abholen. Bat ich. Damit jede Ausrede zählt. Damit der Hieb nicht so hart trifft. Das Nein. Ich würde ihm natürlich Geld fürs Benzin geben, schrieb ich, obwohl Geld die Dinge nur schwieriger macht, die pure Erwähnung davon, die Tatsache als solche, die Ungleichheit, die diktatorische Gleichsetzung von Münzen und deren Seiten, Kopf oder Zahl, Medaillen für Leistungen, je weniger desto Verlierer; das Mannesritual: höher, weiter, größer, stärker, Geld; das unsachlichste aller Zahlungsmittel, das jede Beziehungsbewegung zwischen Menschen abfälscht, weil man „nichts schuldig bleiben“ darf. Niemals! Das hab ich gefressen. Dabei ist man das sowieso: schuldig. Auf Teufel komm raus. Auch das hab ich gefressen.
Es wird ihm zu weit sein, passt nicht, keine Zeit, keine Lust, und er wird die Angst haben wie jeder andere, den ich näher in den Blick nehme (womöglich ein Spiegel der meinen: Sie haben nicht Angst vor mir, sondern vor meiner Angst vor mir, denn Angst wirkt ansteckend wie Geld wie Gier).
Er hat ohnehin eine Freundin, aber mein Gott, darum geht es hier gar nicht. Es geht um etwas viel Größeres: meine Rettung. (Ich kann das alleine nicht: mich retten.) Es geht nicht um Liebe, sondern um Not (obwohl ich noch keine Verliebtheit gekannt habe, die nicht aus einem Mangel heraus entstanden wäre). Und es geht um Freude, um jene allgegenwärtige Angst, die ihr die Luft, die sich zu viel Raum nimmt. Das ist doch kein Leben! (Ich fahre kaum noch Auto, habe eine Höllenangst davor, andere Leute zu gefährden, in der Hauptangelegenheit schuldig zu werden. Deshalb überlasse ich diese Verantwortung anderen und nehme den Zug. Deshalb muss mich jemand abholen.)
"Regina kann dich abholen", hatte meine Mutter vorgeschlagen, bevor ich mich gezwungen sah, ihn zu bitten. Ach… Regina? „Nein!“ Diesmal bin ich erwachsen, diesmal reagiere ich schnell: „Dann nehme ich lieber einen Zug später.“ Ich kenne Regina nicht, weiß nur: Regina ist die neue Nachbarin meiner Mutter und zurzeit ihre beste Freundin, eine rasante Entwicklung. Erfahrungsgemäß kann sich die Situation schon in ein paar Wochen rapide ändern. Kann sein, dass Regina tatsächlich „total nett“ ist, „interessant“, „gebildet“, „unkonventionell“, aber die Erinnerung steckt mir zu tief im Hals: an zu viele Leute, die übergriffig wurden, damals, und derer meine Mutter dann irgendwann überdrüssig wurde, die aber, bis es so weit war, notgedrungen zu meinem Leben zu gehören hatten, als hätte ich sie mir ausgesucht (meine Mutter machte da kaum einen Unterschied: ihre Freunde sollten meine Freunde sein). Rasch komme ich mir auf die Schliche, „checke“, was da läuft in meinem Gehirn, doch das ändert nichts an meiner Abwehr. Unter der Regina nun leiden müssen wird: Ich werde sie anmuffeln, grantig sein, distanziert oder völlig abwesend. So habe ich es gelernt – Leute vor den Kopf stoßen als Überlebenstraining, schlechte Laune meine Lebensversicherung. Ich werde sie in ihre Schranken weisen. Auf keinen Fall lächeln. Ich werde so eklig sein, dass ich mich selbst nicht ausstehen kann. Ich werde ihr zeigen, dass sie bei uns nichts zu suchen hat - („bei uns“, was denke ich denn da, ich bin doch kein Kind mehr!) - bei meiner Mutter… - bei mir bei meiner Mutter!
Von Regina weiß ich nur, dass sie nach drei Tagen Aufenthalt im Heimatort meiner Mutter entschied „Hier ziehe ich hin.“ Die beiden hatten sich vorher noch nie gesehen, auch hatte Regina das Dorf nie besichtigt. Das kann man spontan nennen, entschlussfreudig, bedürftig, überstürzt oder völlig durchgeknallt, jedenfalls hat sie es dann getan, hat sich das Auto meiner Mutter geliehen, um ein paar Sachen von der Stadt, in der sie bis dahin lebte, ins Dorf zu schaffen, hat sich einquartiert in einer rasch gemieteten Wohnung, einen Job gesucht, und ist offenbar nun ständiger Gast bei – nicht bei uns, bei meiner Mutter. Und die freut sich, dass sie mit jemandem reden kann, obwohl sie sich am Anfang sehr skeptisch zeigte, mir gegenüber (wiederum per Mail), von Regina zunächst im Ton präventiver Genervtheit sprach, diese in einer „manischen Phase“ wähnte (und damit u.U. gar nicht mal falsch lag, aber was heißt das schon. Ich werde es erfahren, spekulieren oder ignorieren, morgen schon vermutlich. Hallo Regina…)
Ich fürchte mich, mehr als sonst, wenn ich im Begriff stehe, meine Mutter zu besuchen, und untersuche mich selbst: Warum versetzt mir das Vorhandensein einer Regina so einen AngstSchlag in die Magengrube, bevor ich sie überhaupt gesehen habe? Woher meine Vorbehalte? Warum werde ich unvermittelt wütend auf meine Mutter, als sie mir vorschlägt, Regina könne mich vom Zug abholen (eine Wut, die ich umgehend mit Schuldgefühlen unterdrücke – gelernt ist gelernt!)? Ist doch nett! Aber ich meine solche Angebote von früher zu kennen: Sie sind nie kostenlos, und die Kosten bestimme im Zweifelsfall nicht ich, sondern kaufe die Katze im Sack. Regina, die Königin der Sackkatzen. Ich dagegen bin für Volksherrschaft, und das Volk bin ich. Frei diesmal, geheim und wählend: instinktiv. (Mündig?)
Diese Leute, die da früher übergriffig wurden, als ich Kind war, die meine Mutter behelligten, amüsierten, herausforderten, waren Alltag. "Übergriffig“ meint nichts Sexuelles, nur die ständige Andeutung davon, auch die offensive Bedürftigkeit der Andern, die eigene Unwichtigkeit, und die daraus folgende Notwendigkeit des Mich-selbst-WegstellenIch habe das Gefühl, dass ich mich selbst ins Eisfach gelegt, mich eingefroren habe, mich aber nicht allein wieder auftauen kann. Die Kälte schützt mich nicht mehr, sondern schwächt, schränkt mich ein, be-hindert, und meine Umgebung verhält sich behindertengerecht: distanziert. Ich bin es leid! Ich möchte mir endlich erlauben, jemanden zu brauchen! Das habe ich noch nicht gelernt.
Ich erwäge, Regina Regina sein zu lassen, doch allein ihr Name löst einen Schutzreflex aus, den ich nicht steuern kann, nur nachvollziehen, auch wenn meine Interpretation vermutlich voll mit kindlichen Unterstellungen ist: Meine Mutter lässt wiedermal einen Menschen so nahe an sich ran, dass er sie ausnutzen wird, das ist die eine Angst, und ich muss damit irgendwie umgehen und gleichzeitig (vergeblich! mühsam!) versuchen zu verhindern, dass sie sich ausnutzen lässt, das ist die andere Angst, denn sie hat ja sonst keinen: das eigene Gefordertsein, und das notwendige Scheitern meiner Bemühungen. Meine Mutter hat nur mich und ihre immer neuen alten Fehler, hat immer nur sich, im Grunde. Darin sind wir einander gleich. Das ist die Hauptangst: das Gleichsein. Ich will anders sein dürfen. Und deshalb werde ich Regina willkommen heißen – auch wenn ich ja diejenige bin, die kommt. Ich nehme mir vor, Regina zu benutzen für mein Lernen. Es ist ein Trick, auch wenn das jetzt blöd klingt. (Es geht hier nicht darum, wie es klingt, sondern ob es wirkt. Das Aufschreiben kommt später, wird sich anschließen an diesen Katzensommer der Königinnen.)
Wenn sie, Regina, mir unerträglich wird, aufdringlich oder zu nah, kann ich sie immer noch anbrüllen. Steht mir doch jederzeit frei, die Ziege zu geben. Damit immerhin habe ich keine Probleme: Fremden pampig zu kommen. Aber es ist ja vielleicht, rede ich mir selbst gut zu, nicht unbedingt notwendig, schon bei der Begrüßung die Fäuste zu ballen. Vielleicht läge es im Bereich des Möglichen, also: im Bereich meiner Möglichkeiten, ihr eine Chance zu geben? Und mir?
Doch ich kralle mich an meinem wackligen alten Handy fest, als wäre es ein Teddybär, als könne es mich retten mit seinem Brummen, mit einer Nachricht oder so, von ihm oder von Gott, denn immerhin hat mindestens einer von beiden meine Nummer (ich bin ein Kind, das immer „ich“ schreibt, schreit, sogar, wenn es ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es sich so verhält. Als wüsste es das nicht! Wer mich kennt, weiß, dass ich ganz anders bin. Weniger – relevant als behauptet. Aber mich kennt ja keiner. Dafür sorge ich schon. Und auch diese Behauptung wäre nur ein Betteln um Aufmerksamkeit, um Zuwendung, denn natürlich bin ich genauso egozentrisch, wie ich sicherheitshalber behaupte.)
Doch, ich fänd’s schön, wenn er uns abholt morgen.
Aber jetzt, nach 15 Minuten, hat er noch nicht geantwortet, also gehe ich mal nicht davon aus. Man sollte nie zu viel hoffen, blablabla, dann wird die Enttäuschung nicht so groß. Wer hat mir eigentlich diesen Mist eingetrichtert? Warum sollte die Enttäuschung kleiner sein, wenn man sie vorwegnimmt? Wer hat das verfügt? Gott kann es nicht gewesen sein, oder? Die Große Solidarität, die wir mit ihm anstreben sollen, funktioniert nicht mit prophylaktischer Hoffnungslosigkeit - oder?
Antworte mir, Mann! Schick mir eine Mail, eine SMS oder irgendeine andere Nachricht, die ich verstehen kann. Ich würde sogar ans Telefon gehen, wenn du mir vorher Bescheid gibst, dass du es bist, der da ruft! Schick mir etwas, das ich interpretieren kann, einen Text! Eine Hoffnung! Ein Bild! Das ich auslegen kann wie die heilige Schrift. Bitte! Rette mich vor mir selbst und vor Regina! Man wird doch wohl noch hoffen dürfen – oder? Nur ein klitzekleines Bisschen? Und noch am Ende des Tages mit der unsterblichen Hoffnung ins Bett gehen.