„Nach einer Trennung muss man sich doch einen neuen Blick gönnen!“ Helene bürstete ihr braunes Haar mit langen Strichen vor dem blindfleckigen Spiegel im Coupé über den Sitzlehnen in Weinrot. Der TGV fuhr in Paris Est ein. Helene warf die Haarbürste in die Reisetasche, zog den Zipp zu.
Es war kurz vor sieben Uhr morgens, als sie auf den Bahnsteig sprang. Gleich wollte sie wieder zurück. Sich verstecken im Abteil unterm Sitz zwischen den ausgespuckten Kaugummis und Papierfetzchen. Helene schnaufte, sah hoch zum Glasdach, über dem die Sonne aufging. Als sie ihren Blick erneut über den Perron schweifen ließ, war der Typ nicht mehr da. Bestimmt ein Irrtum; der, den sie verlassen hatte, saß zu Haus in der Kneipe und soff. Garantiert!
Trotzdem wackelten ihr die Knie und so brauchte sie lang, um den Ausgang des Bahnhofes zu erreichen. „Bon jour, Paris!“, rief Helene und winkte einem Taxi. „Hotel Tour d’Eiffel, Monsieur. Rue …“, wie hatte sie nur die Straße vergessen können, „… Quartier Latin.“
Sein: „Oui, Mademoiselle“ mit arabischem Akzent (dichtete sie dazu) entzückte sie. Er war Tunesier, aber in Paris geboren, sagte er. Und so fand er das Hotel, das Helene daheim ausgewählt hatte, weil es nahe dem Blvd. St. Germain lag und nur fünf Gehminuten vom Musée de Cluny entfernt, auf Anhieb.
Helene freute sich über das lichte Zimmerchen im obersten Stockwerk, das Fenster reichte bis zum Boden, sie lehnte sich über das Gitter, das vor einem Sturz schützen sollte. Es reichte nur bis zur Scham Helenes, somit könnte sie sich ohne Probleme hinabfallen lassen. Aber dreiunddreißig war zu früh. Fünf Jahre noch. Vielleicht. Mit achtzehn hatte sie begonnen, mit sich zu spielen. Aber sie wachte auf, als sie ihr in der Klinik den Magen auspumpten. Dem Vater war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, seine dunklen Augen brannten Löcher in ihre Haut. Gegen Revers hatte er Helene mit nach Hause nehmen dürfen.
Sie stieß sich vom Gitter ab, sperrte das Zimmer zu und ließ sich vom Rezeptionisten den Weg zum Museum erklären. Sie kam an einem tunesischen Restaurant vorbei. Ein enger, langer Schlauch mit Tischen an der einen Seite, die Wände waren schilfgrün gestrichen. Dort würde sie abends essen.
Musée de Cluny. Romanisch gedrungen. Helene stieß einen leisen Pfiff aus in dem Rund mit den Gobelins, hockte sich auf die kühle Treppe, flüsterte das Auswendiggelernte: „So schön war sie noch nie. Wunderlich ist das Haar in zwei Flechten nach vorn genommen und über dem Kopfputz oben zusammengefasst, so dass es mit seinen Enden aus dem Bund aufsteigt wie ein kurzer Helmbusch. Verstimmt erträgt der Löwe die Töne, ungern, Geheul verbeißend. Das Einhorn aber ist schön, wie in Wellen bewegt.“
Hinter ihr ertönte: „Ja, er konnte es beschreiben. Nur er.“ Männlich.
Helene antwortete: „Abelone, ich bilde mir ein, du bist da. Begreifst du, Abelone? Ich denke, du musst begreifen.“ Sie sprang auf und rannte an dem Fremden vorbei hinaus. Rannte bis zum Bvld. Saint Michel und weinte immer weiter.
Helene in Paris
Von den drei Helene - Texten ist es dieser, der mich am meisten beschäftigt hat.
Er hebt sich sowohl vom Inhaltlichen als auch vom "Handwerklichen" deutlich von den anderen ab. (lediglich im zweiten Satz sind selbst für meine Begriffe zu viele Adjektive auf engstem Raum versammelt).
Die Verflechtung mit Rilkes Malte, die Anspielungen auf die sechs Wandteppiche im Musée de Cluny, das Motiv des Einhorns ... spannend.
Ich empfinde es als gelungen, wie der Autor/die Autorin mit Zitat und Verweis arbeitet, um damit auf die eigene Protagonisten zu lenken.
Der "neue Blick", den sie sich gönnen möchte, wird m M nach zu einem Blick ins Innere (der Spiegel!) und motiviert am Schluss Helenes Tränen.
Sehr gerne gelesen!
scarlett
Er hebt sich sowohl vom Inhaltlichen als auch vom "Handwerklichen" deutlich von den anderen ab. (lediglich im zweiten Satz sind selbst für meine Begriffe zu viele Adjektive auf engstem Raum versammelt).
Die Verflechtung mit Rilkes Malte, die Anspielungen auf die sechs Wandteppiche im Musée de Cluny, das Motiv des Einhorns ... spannend.
Ich empfinde es als gelungen, wie der Autor/die Autorin mit Zitat und Verweis arbeitet, um damit auf die eigene Protagonisten zu lenken.
Der "neue Blick", den sie sich gönnen möchte, wird m M nach zu einem Blick ins Innere (der Spiegel!) und motiviert am Schluss Helenes Tränen.
Sehr gerne gelesen!
scarlett
ja auch dieser helene text
- vielleicht weil er paris betrifft-
trifft
bewegt
erregt
chapeau
- vielleicht weil er paris betrifft-
trifft
bewegt
erregt
chapeau
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).
Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel
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