Lob des Fragmentarischen

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 26.08.2008, 16:14

Meiner Ansicht nach wird das Fragmentarische vollkommen fehl-, im besten Fall noch unterbewertet. All das bloß Begonnene, Abgebrochene, Verlassene, die vielen Brücken ins Nichts - ist, insofern man nicht darauf zurückkommt, auf seine Weise fertig, rund, hat Reiz, mehr noch: Hat etwas zu sagen. Nicht nur als Probe für den Mutigen, den es danach gelüsten mag, hier, wo schon so viel Kraft vernutzt und verschwendet wurde, fortzubauen und zum Schluß sich dadurch zu beweisen, daß er eben doch etwas zu Stande brachte. Auch nicht allein als Warnruf für die Kommenden: "Kehrt um! Hier ist nichts! Baut woanders!". Sondern eben insofern etwas unvollendet ist, weist es auf das Endliche, Begrenzte, Unabgeschlossene und Unabschließbare, das allem Wirklichen so wesentlich eignet. Ein echter Wille zum Fragment, der nicht bloß ein unsteter Wille zum immer Nächsten und Neuen und Anderen ist - wäre das nicht die wahre Weltbejahung? Und andererseits: Diese Zeugnisse des Scheiterns menschlicher Vermögen selbst in ihrer höchsten Potenz, diese bruchstückhaften End- und Gesamtwerke, an denen nicht wenige der Klügsten sich versuchten, jene verbrieften Initialsegmente neuversuchter Himmelstürme - sind sie nicht eigentliche Mahnrufe zur Bescheidenheit, Fingerzeige aus dem dichten Netz des Erfaßten, Bewältigten, Erforschten hinaus ins schlechthin Ungeheure, jene als Gegenstand gefaßte Un-Möglichkeit, die man in einem Wort wie "Welt" zu oft zu leicht nimmt? So daß am Ende gerade das Gescheiterte das Objektivste wäre, insofern die Wirklichkeit in ihm nicht bloß gedacht und ausgedrückt ist, sondern in seinem Scheitern unmittelbar erscheint?
Manches gewinnt durch seine Unvollkommenheit, wird dadurch überhaupt erst interessant. Dabei ist es zunächst gleichgültig, ob von einem Kunstwerk, einem Gedankengebäude, einem ganzen Leben oder etwa einer Liebschaft die Rede ist. Wer wollte etwa ein "glücklicher" verlaufenes "Romeo und Julia" sehen, wer hielte ihre Einfriedung in einen ehelichen Alltag aus, in dessen Licht die ganze Größe und Tragik dieses Dramas zu einer Anekdote darüber zusammenfiele, wie man sich kennenlernte? Ein solches Zu-Ende-Dichten, Zu-Tode-Vollenden gehörte zu den den ironischen Schwarzkünsten bösartiger Parodisten.
Und was ist aller Wille zum Abschluß, zur Vollendung, zum tatsächlichen Erreichen des Erstrebten letztlich anderes als eben ein Wille gegen das Streben, des Willens Widerwille gegen sich selbst? Lernen wir also den lebensbejahenden, zukunftsschwangeren, hoffnungsvollen Aspekt am Fragment kennen und schätzen. Welch inspirierender Gedanke! Man könnte ganze Bände damit füllen! Die Kunstschaffenden und Kulturen an ihrem Verhältnis zum Fragment messen! Große Beispiele auf- und untersuchen. Was für Möglichkeiten! Welche Aussichten!
Aber bleiben wir konsequent:
Ende
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 27.08.2008, 18:48, insgesamt 6-mal geändert.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 29.08.2008, 12:24

"... gerade das Fragment zieht meiner Meinung nach immer solche eigenwilligen bis störrischen Autoren an ..."

Wie drollig!


Tom-Bock >:-}
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 29.08.2008, 20:34

Stilistisch und thematisch voll gelungen!
Gefällt mir sehr gut!

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 29.08.2008, 20:46

@Lisa
Danke für die Blumen! (störrisch, eigenwillig) :-)
Die theoretischen Fundamente der Romantiker kenne ich noch nicht, aber wenn sie in eine ähnliche Richtung gedacht haben, sollte ich sie wohl auf meinen To-Read-Stapel legen - guter Tipp.
Ansonsten steht der Text nicht umsonst in einer Rubrik, in der man alles mit einem gewissen Augenzwinkern lesen sollte - das Fragment als neue Gattung abgeschlossener Texte ist natürlich ein logischer Salto mortale, wie ich durch das abrupte Ende auch andeuten wollte.

@Xanthippe
Freut mich, dass es dir gefallen hat!

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 31.08.2008, 14:17

Lieber Mnem,

der Romantikerverweis lohnt sich wirklich - nicht nur so ein Nebenverweis - die haben richtige (Welt-)Konzepte für es entworfen. Stichwort Fragment, Sympoesie, Poetisierung der Welt etc. - wirklich spannend&irre.

Tom-Bock ist besser als Wurst-Milser, stimmt .-))

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


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