Abschiedsbrief

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
ursula.stoehr

Beitragvon ursula.stoehr » 27.04.2006, 07:52

Abschiedsbrief

Mein lieber Freund

Heute finde ich endlich den Mut, dir zu sagen, dass wir uns nicht mehr wieder sehen dürfen.
Ich war ein paar Monate weg und hatte genügend Zeit, mir über unsere Beziehung klar zu werden. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, hatten wir doch eine bewegte Zeit zusammen. Aber mein Entschluss steht fest, ich will dich nie mehr wieder sehen!

Ich weiß nicht einmal mehr wie lange das her ist, dass ich dich zum ersten Mal traf. Ich glaube ich war damals zwölf und es war ein heißer Sommer. Unsere Clique traf sich abends immer am See und eines Tages warst auch du dabei. Es ging hoch her und du sorgtest für Stimmung. Mann, das war echt cool! Die Mädchen, die einer aus unserer Runde anschleppte mochten dich auch und in deiner Gesellschaft wurden sie immer lockerer. Auch ich habe sehr schnell meine Schüchternheit abgelegt und fühlte mich richtig erwachsen. Einigen aus unserer Runde wurde dann der Umgang mit dir verboten. Die Eltern machten Stress. Meinen Alten war das egal. – sie fanden dich sympathisch und du durftest auch bei uns daheim ein- und ausgehen. Nur meine ältere Schwester konnte dich nicht leiden. Darum hatte ich mit ihr auch immer Zoff.
Heute weiß ich, dass sie Recht hatte. Du bist kein Umgang für mich.
Auch mein Lehrherr hat mir oft ins Gewissen geredet, wenn er uns zusammen sah. Manchmal trafen wir uns heimlich auf der Baustelle. Ich hatte das Gefühl, dass mir die Arbeit am Bau leichter fiel, wenn du mir dabei Gesellschaft leistetest. Unter meinen Kumpels gab es einige, die dich schon lange kannten und wenn der Boss kam, haben sie mir geholfen, dich zu verstecken. Sie mochten dich und trafen sich nach einem langen harten Arbeitstag oft mit dir.
In der Schule gab es auch Probleme wegen dir. Die Lehrer warnten uns, konnten uns aber den Umgang mit dir nicht verbieten. Solange wir dich nicht in die Schule mitbrachten, war alles OK. Wenn wir müde in der Bank hingen, wussten sie, dass wir uns wieder die Nacht mit dir um die Ohren geschlagen haben.
Der Freitag war dein Lieblingstag, da konntest du dich schon am Mittag mit mir treffen und wir machten das ganze Wochenende durch.
Als dann der Unfall passierte, bei dem du auf dem Beifahrersitz gesessen hast, waren alle schockiert. Vaters Auto war zwar ein Totalschaden aber ich hatte nur ein paar Schnittwunden im Gesicht. Es ging ja noch einmal alles gut, hast du mir zugeflüstert.
Und dann haben wir zusammen meinen zweiten Geburtstag gefeiert.
Als meine Schwester dahinter kam, dass du meine Mutter heimlich triffst, war bei uns zu Hause die Hölle los. Vater lachte nur und meinte er habe nichts gegen eine flotte Dreierbeziehung. Daraufhin zog meine Schwester zog aus.
Kannst du dich noch an Sandra erinnern. Sie war die beste Freundin meiner Schwester und nur ein Jahr älter als ich. Ich habe mich in sie verliebt und ich glaube sie mochte mich auch. Aber sie war wie meine Schwester – sie konnte dich auch nicht leiden und immer wenn sie mich mit dir sah, wurde sie sauer. Unsere Beziehung war zu Ende, bevor sie richtig angefangen hatte. Aber du warst einfach wichtiger für mich.

Heute weiß ich, du warst der falsche Freund für mich. Ich habe meine Arbeitsstelle verloren und muss ganz von vorne anfangen. Gott sei dank gibt es Menschen, die mir dabei helfen, Menschen, die dich auch gekannt haben und auch die Freundschaft mit dir abgebrochen haben. Du bist sicher kein schlechter Kerl, aber zuviel Nähe mit dir tut nicht gut.



Gestern habe ich meine Schwester besucht.
Wir haben lange geredet.
Am Schluss hat sie geweint, mich in den Arm genommen und gesagt: „Ich bin so froh, dass du endlich vom Alkohol losgekommen bist“

Lebwohl mein Freund!

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 01.06.2006, 16:17

Hallo ursula,
bisher hatte ich diesen Brief übersehen. Nun hatte ich aber Zeit ihn zu lesen.

Du versuchst das Problem Alkohol an seinen "harmlosen" Wurzeln zu packen...dieses Problem wird von vielen Jugendlichen sicher immer noch unterschätzt...

Sprachlich habe ich allerdings ein paar Anmerkungen.

1) Der Briefeschreiber schreibt den Brief doch zu einem bestimmten Zeitpunkt, seine Sprache durchläuft allerdings verschiedene Phasen, die eines Jugendlichen bis zum jetzigen Zeitpunkt. Um die Phasen besser geegnwärtig zu machen, sicher ein zulässiges Mittel, für mich allerdings etwas seltsam zu lesen...

2) Die Jugendsprache am Anfang klingt für mich nicht voll authentisch...etwas ausgedacht (die Perspektive ist für mich gezwungen jung). Auch wenn gerade die dort erwähnten Aspekte ganz bestimmt mehr als erwähnenswert sind.

3) Auch wenn ich schon ein wenig ahnte, dass derjenige, an den Brief gerichtet ist, keine Person ist, war ich doch gespannt, wer es denn nun war...ich finde es allerdings bei solchen Spannungsbögen immer sprachlich gelungener, wenn die Formulierungen so gekonnt doppeldeutig sind, dass man sie hinterher auch noch passend lesen kann. Wenn man also weiß, dass es sich bei dem Gegenüber des Briefes um keine Person handelt und die anderen Textstellen wirklich auch hinsichtlich diesem gelesen können. Alkohol kann natürlich nicht neben einem sitzen...weißt du, was ich meine?

Ein guter Thriller oder Krimi zeichnet sich ja auch dadurch aus, dass man bis zum letzten Augenblick das Rätsel nicht löst, OBWOHL man es könnte.

Hier ist noch ein doppeltes zog :grin:

Daraufhin zog meine Schwester zog aus.


Hast du die Geschichte deinen Schülern gezeigt? ich wäre gespannt wie sie darauf reagiert haben, falls ja.

Ich hoffe, du nimmst mir meine recht starke Kritik nicht übel, ich meine einfach, man könnte den text erzähltechnisch noch verbessern...

Liebe Grüße,
Lisa

PS. Dass auch die Mutter zum Alkohol greift finde ich übrigens einen gelungenen Aspekt...

ursula.stoehr

Beitragvon ursula.stoehr » 01.06.2006, 16:51

Liebe Lisa

Das ist ja eine Überraschung - wir hatten schon nicht mehr mit einem Kommentar gerechnet.
Daher ein besonderes "Danke" für deine Antwort - die Geschichte ist im DUK (Deutsch- und Kommunikationsunterricht entstanden)
Während ich gerade wieder einen Kurzausflug ins Forum unternehme, sind meine Jungs fleißig am Schreiben. (Inhaltsangabe zu einem Film über Kommunikationsprobleme) Die Köpfe rauchen, die Wangen sind rot!

Morgen werde ich ihnen deinen Kommentar zeigen!
Sie werden sich riesig freuen, dass doch noch jemand auf unsere Geschichte geantwortet hast.
Ich unterrichte an einer Berufsschule und unsere Schüler besuchen eine 10-Wochen- Lehrgang. Deutsch und Kommunikations ist ein Gegenstand in dem man die Jungs immer wieder neu motivieren muss. Aber wenn es gelingt, machen sie gerne mit.
Vielen Dank - das wird sie anspornen, weiter zu lesen und zu schreiben!
Herzliche Grüße
Ursula

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 11.06.2006, 13:00

Hallo ursula,
gibt es Neuigkeiten? Die geschichte haben also Schüler zusammen geschrieben?

Liebe Grüße,
Lisa

ursula.stoehr

Beitragvon ursula.stoehr » 15.06.2006, 00:24

Hallo Lisa

Ja, es gibt Neuigkeiten...
Wir haben am 22. Juni an unsere Schule eine Veranstaltung -
Schüler aus drei Berufsschulen lesen Texte bekannter Autoren und selbstverfasste.
Es sind Schüler der ersten, zweiten und dritten Klassen beteiligt.
Das Programm wird auch musikalisch untermalt und mit einem kleinen Imbiss abgeschlossen.
Meine Jungs haben sich sehr gefreut, dass du ihre Geschichte kommentiert hast.
Ich habe vorher Gerdas Gedicht über die Perspektivenlosigkeit Jugendlicher gelesen, auch das Geicht von Steyk über Heroin ...
all das gibt mir sehr zu denken.
Das Arbeiten mit Jugendlichen wird immer problematischer. Als Lehrer bist du nicht nur Wissensvermittler sondern auch Restaurator (viele haben Defizite, die es auszubessern gilt, sowohl im Wissensbereich wie auch im zwischenmenschlichen). Aber ich finde es immer wieder spannend und lohnend!
Wir sind oft schreibend unterwegs und langsam trägt die Arbeit Früchte.

Ich bin fast täglich im Forum und lese eure Beiträge sehr gerne.
Leider fehlt mir momentan einfach die Zeit um Kommentare zu schreiben.
Aber, schön, dass es euch gibt!

Nächtliche Grüße
Ursula

Gast

Beitragvon Gast » 23.07.2006, 01:42

Liebe ursula, das alles lese ich heute Nacht zum ersten Mal, kein Wunder, denn der Blaue Salon wird größer und größer, da kommen auch vielleser wie ich kaum noch nach.
Mich freut es, dass du so engagiert mit Jugendlichen arbeitest, was bestimmt nicht immer einfach ist.
Zwar hat meine Frage nicht unbedingt etwas mit Textkritik zu tun, aber dennoch: Wie war eure Veranstaltung am 22. Juni?

Nächtliche Grüße
Gerda

ursula.stoehr

Beitragvon ursula.stoehr » 24.07.2006, 23:14

Liebe Gerda

danke für deine Zeilen.
Mir geht es genau so. Ich bin täglich im Forum und lese begeistert eure Beiträge. Ich muss mich immer "gewaltsam" losreißen, denn die Zeit fleigt nur so davon.

Die Lesung an unserer Schule war ein voller Erfolg. Es haben sich drei Klassen aktiv beteiligt und eine weitere Schule als Gastleser.
Internetseite: http://www.lbsbr2.snv.at
Zwei meiner Lehrerkollegen haben mit ihren Klassen zeitgenössische Autoren gelesen und die Schüler haben Textstellen bearbeitet.
Außerdem haben Schüler selbstverfasste Texte vorgetragen.
Eine Klasse (Spengler) haben sogar ein literarisches Rätsel gebastelt.
Sie haben Alltagsgegenstände aus Blech gefertigt und sie beschrieben. Dann musste jemand aus dem Publikum die Karte, auf der die Beschreibung stand, dem richtigen Gegenstand zuordnen. Alles in allem ein großer Erfolg für die Schüler.

Wenn du Zeit und Lust hast, schau dich einmal auf unserer Internetseite um: http://www.li-li.at
Wir haben großes vor.

Liebe Grüße
Ursula

steyk

Beitragvon steyk » 26.08.2006, 08:02

Hallo Ursula,

deine kleine Geschichte, als Brief verpackt und mit einem Ende versehen, daß überraschend ist – da man mit einem ganz anderen rechnet - , hat mir sehr gut gefallen. Man ahnt zwar etwas, aber Ahnung heißt nicht Wissen.
Am Stil habe ich nichts auszusetzen. Sauber geschrieben, wie man einen Brief schreibt. Hier würde eine erzählende Schreibweise fehl am Platz sein.

Ein paar Kleinigkeiten habe ich dennoch gefunden:


Zitat: Heute finde ich endlich den Mut, dir zu sagen, dass wir uns nicht mehr wieder sehen dürfen.

Hier würde ich das –wieder- weglassen.

Zitat: Die Eltern machten Stress. Meinen Alten war das egal. – sie fanden dich sympathisch und du durftest auch bei uns daheim ein- und ausgehen. Nur meine ältere Schwester konnte dich nicht leiden. Darum hatte ich mit ihr auch immer Zoff.

Entweder Punkt weg und Strich lassen, oder umgekehrt.

Zitat: Der Freitag war dein Lieblingstag, da konntest du dich schon am Mittag mit mir treffen und wir machten das ganze Wochenende durch.

Besser: Der Freitag war unser Lieblingstag, da konnten wir uns schon am Mittag treffen und das ganze Wochenende durchmachen.
> Du hast dich doch auch darauf gefreut.


Zitat: Und dann haben wir zusammen meinen zweiten Geburtstag gefeiert. Als meine Schwester dahinter kam, dass du meine Mutter heimlich triffst, war bei uns zu Hause die Hölle los. Vater lachte nur und meinte er habe nichts gegen eine flotte Dreierbeziehung. Daraufhin zog meine Schwester zog aus.
Kannst du dich noch an Sandra erinnern.(?)


Zweimal zog – und hinter ...Sandra erinnern >Fragezeichen.


Zitat: Heute weiß ich, du warst der falsche Freund für mich. Ich habe meine Arbeitsstelle verloren und muss ganz von vorne anfangen. Gott sei dank gibt es Menschen, die mir dabei helfen, Menschen, die dich auch gekannt haben und auch die Freundschaft mit dir abgebrochen haben. Du bist sicher kein schlechter Kerl, aber zuviel Nähe mit dir tut nicht gut.

Das zweite –auch- ist zuviel.
Den letzten Satz würde ich streichen. Nach allem, was du mit ihm durchgemacht hast, klingt er unglaubwürdig. Er ist ein schlechter Kerl, zumindest was die Nähe zu dir betrifft und um anderes geht es in deinem Brief nicht.

Die vielen „auch“ stören ein bißchen. Versuche ein paar davon durch andere Worte zu ersetzen, z.B. ebenfalls.

Gruß
Stefan

ursula.stoehr

Beitragvon ursula.stoehr » 27.08.2006, 12:49

Lieber Stefan

Danke für das Lesen und Kommentieren des Abschiedsbriefes.

Das war eine Arbeit, die ich mit meinen Schülern im letzten Schuljahr in Deutsch- und Kommunikation gemacht habe. Wir haben sie dann ins Forum gestellt und auf Reaktionen gewartet.

Leider haben unsere Schüler nur im ersten Schuljahr dieses Fach, aber wenn am 4. September bei uns die Schule wieder beginnt und ich in einem Lehrgang die Burschen wieder unterrichten darf, mit denen ich damals diese Geschichte erarbeitet habe, dann zeige ich ihnen deine Kritik. Ich bin sicher, sie freuen sich darüber.

Liebe Grüße
Ursula


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