11/VI/2009
Juistskizze (2)
In den Prielen sammeln sich die letzten Träume der Muscheln wie liegengebliebene Kronkorken von leergetrunkenen Flaschen einer Zeit, in der es noch kein Gestern gab, und in den Spiegelungen sehen wir kein Wasser, wir sehen nur die Idee von Wasser, wie sie im Schlick versickert, so wie das Leben kein Tun mehr ist, sondern nur der Gedanke daran. Es gibt keine neuen Träume mehr; wir wiederkäuen zigfach dagewesenes, ernähren uns davon, und an den Brüsten einsamer Frauen weinen wir uns in die heile Welt der Kindheit zurück, als alles noch eins war, es keine Überlegungen gab, keine Rückschauen, so wie das Wasser fließt, ohne darüber nachzudenken wohin, und die Liebe und die Brüste und die Schöße sind nichts weiter als die Sehnsucht danach. Unser Motor verbrennt unsere eigenen Fossilien, Energieträger aus tropischen Zeiten, mit Teer und Dreck und Rauch aus den unzähligen Lagerfeuern der Tabakzigaretten, erstickt, verpresst und versteinert unter Luftabschluss und der eigenen Last, und Schweröl tropft aus den Dichtungen.
Im Sand können wir die winzigen Teerklumpen erkennen, ausgespuckt und geronnen aus den Weltmeertankern, die einst durch unsere Adern fuhren, und alles vibrierte in uns im Rausch, im Schlingern, als wir von dem verlausten Marokkaner am Bahnhof neuen Stoff bekommen hatten, dunkelrot in Leinen eingenäht, 100 Gramm und Papers dazu, und die Rauchglocke aus den Bambusbongs durch unsere Lungen strömte und Erkenntnis läutete und die Lebenstore weit aufstieß, mit gleißendem Licht und sphärischen Farben dahinter, und wir sie durchschritten, mit lebensdurstig aufgerissenen Augen, oder wir mit den Nachbarmädchen in den Haustüren knutschten und unter den Nylonpullis fummelten, und auf den grauen Garagenhöfen, hinten zum Walzwerk raus.
Das Sickern des breiigen Wattschlicks durch die Zehen fühlt sich an wie immer, aber das Öl in uns ist nicht mehr bernsteinfarben und viskos, der Film ist gerissen, und wir kriegen die Teile nicht mehr zusammen, keinen Rundlauf mehr wie damals, als wir auf Bonanzarädern die flachen Wiesenhügel im Böninger Park runterbretterten, und uns alles so vorkam, als wären wir in den hohen Bergen, auf dem Dach der Erde, des Himmels, wo die Horizonte so fern scheinen, dass das Dazwischen endlos ist, bis Mutter zum Essen rief, so wie die Zeit, als wir den Mädchen zum ersten Mal den Slip runterwerkelten, mit fiebriger Vorahnung und zittrigen Fingern, und uns fast in die Hose spritzten, bevor es losging, so wie alles immer vom Fieber getrieben war, wir infiziert waren von dem Feedback unserer ersten elektrischen Instrumente, dem Obertonsingen der D-Seite und dem Brummen der Röhren in den Verstärkern, und wir uns einen Vibratorhebel aus Messing von Rockinger an die Gitarre schraubten, damit man die Rückkopplung modulieren konnte, sie schweben lassen, sie unter den Halbton bringen, wo es schmerzt und Angst einflößt, bis alles kochte im Körper, und dann zitterten die Finger der wilden Mädchen, wenn sie unseren Hosenstall aufmachen durften, auf versifften und vollgepissten Matratzen vom Sperrmüll im Proberaumbunker, und das umgedrehte, mannsgroße Kreuz aus milchigem Plexiglas, in das wir kaltweiße Leuchtstoff- und Stroboskoplampen geschraubt hatten, illuminierte die schummrige Kälte der dicken Mauern in der Verneinung von Glauben, denn wir hatten nur unsere Höllenmusik und diese stinkende Wolldecke und unsere heißen trunkenen Körper darunter.
Ein Mann am Strand scheint einen kleinen Schwarm Seemöwen fernzusteuern, die über ihm im Nordwest stehen, ohne Flügelschlag, und am Kalfamer lagern sich Dünen an wie schiffbrüchige Gedanken, die im Westen am Billriff abbrachen und den Schöpfungsplan überflößten an den neuen Ort, Wunden hinterließen am alten, dem Blanken Hans die Tore öffneten, wie damals zur Petriflut, als die Dorfkirche versank.
Doch heute haben sie Maschinen, die die Erde aufwühlen, den Grund bewegen, das Muschelsediment ausheben, es auch an neue Orte bringen und Wälle und Gefängnisse und Behausungen und Brücken daraus bauen, so wie damals in den Baggerlöchern am Rand der Großstadt, wo wir an den Förderbändern der Pontons runtertauchten, ins ungewisse Dunkelgrün, bis wir den Schlick am Boden mit Händen greifen konnten, den Druck der Tiefe auf den Ohren, und nachts betrunken mit dem Schlauchboot zu den kleinen Inseln paddelten, drei Kammern leck, und uns unter Malerfolie den Sommergewittern ergaben, ganz nackt, und der Ginster roch dunkelgrün, alles war dunkelgrün, bis zum stahlblauen Morgen, und dann hatten wir das Schlauchboot mit dem Boden nach oben auf den See gelegt und sind in die Luftblase darunter getaucht, mit einer zugeknoteten Plastiktüte, und haben beinestrampelnd und japsend und lachend unter dem Boot das Shillum mit gestopftem Kopf ausgepackt und entfacht mit unserer Lebensflamme und einen durchgezogen, bis nur noch Rauch darunter war, und wir atemlos immer wieder in den Hohlraum tauchten und inhalierten, bis keiner mehr konnte, und wir das Boot umkippten, und der ganze See voll Qualm war, und alle anderen Leute am See sich wunderten oder kicherten.
Der frühe Morgen schmeckt nach Ardbeg und Zwiebeln und Fisch und dem Mösensaft der letzten Nacht, und eine tote Robbe liegt am Strand, endgültig und wunderschön in ihrer Endgültigkeit, die eingefallenen Augen mindern diese Schönheit nicht, so wie die Warze zwischen den Schenkeln einer schönen Frau dies nicht tut, und die Wolken geben das fahle Licht der Dämmerung frei, während mein Schwanz hart wird in Gedanken an etwas, was es nicht mehr gibt, und ich bücke mich nach einer Muschel ...
Juistskizze (2)
- Thomas Milser
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Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)
Es gibt keine neuen Träume mehr ...
Dieser Satz aus Toms Skizze ist ein zutiefst trauriger. Und er ist umso trauriger, je mehr man sich zunächst mühen mag, Argumente zu finden, die ihm widersprechen. Aber im Grunde genommen weiß man es von Anfang an. Dass man auf verlorenem Posten steht. Dass er eine Wahrheit enthält, die man kaum ertragen kann. Und sie deshalb hinter Pseudo-Träumen zu verstecken sucht.
Der Autor nimmt den Leser mit auf eine Reise zurück in die Vergangenheit. Sehr schön finde ich dabei, wie es hier gelingt, prägende Entwicklungsmomente im Leben des Erzählers mit der Landschaft zu verweben. Entsprechungen und Veränderungen auf beiden Seiten erfahrbar zu machen. Und das zuweilen mit einem wehmütigen Blick, jedoch ohne jeden Anflug von Larmoyanz.
Ich, als Leser, habe das Gefühl, einem Film zu folgen, einer Bilderflut beizuwohnen, wobei seltsamerweise kein Gefühl der Hast entsteht, im Gegenteil, da wird verweilt und ausgeleuchtet. Und hineingezogen. Ich bleibe nicht der unbeteiligt Außenstehende.
Diesem Prinzip der Sequenzen, Miniszenen, trägt die sprachliche Ausarbeitung Rechnung. Überwiegend gereihte, lange Sätze, die jedoch keineswegs ermüdend wirken, weil die verwendeten Bilder/Metaphern in ihrer Originalität sehr ansprechend sind.
Auch wenn mir persönlich die Sprache an einigen Stellen zu direkt, ja beinah schon aufdringlich wirkt, weil sie den poetischen Tenor zu gewollt konterkariert, habe ich diese Skizze sehr gern gelesen.
Und ich kann nicht umhin, mir dennoch (!) zu wünschen, dass die Muschel nochmal singen oder träumen möge ... ein neues Lied, einen neuen Traum ... Wünschen darf man ja.
scarlett
Dieser Satz aus Toms Skizze ist ein zutiefst trauriger. Und er ist umso trauriger, je mehr man sich zunächst mühen mag, Argumente zu finden, die ihm widersprechen. Aber im Grunde genommen weiß man es von Anfang an. Dass man auf verlorenem Posten steht. Dass er eine Wahrheit enthält, die man kaum ertragen kann. Und sie deshalb hinter Pseudo-Träumen zu verstecken sucht.
Der Autor nimmt den Leser mit auf eine Reise zurück in die Vergangenheit. Sehr schön finde ich dabei, wie es hier gelingt, prägende Entwicklungsmomente im Leben des Erzählers mit der Landschaft zu verweben. Entsprechungen und Veränderungen auf beiden Seiten erfahrbar zu machen. Und das zuweilen mit einem wehmütigen Blick, jedoch ohne jeden Anflug von Larmoyanz.
Ich, als Leser, habe das Gefühl, einem Film zu folgen, einer Bilderflut beizuwohnen, wobei seltsamerweise kein Gefühl der Hast entsteht, im Gegenteil, da wird verweilt und ausgeleuchtet. Und hineingezogen. Ich bleibe nicht der unbeteiligt Außenstehende.
Diesem Prinzip der Sequenzen, Miniszenen, trägt die sprachliche Ausarbeitung Rechnung. Überwiegend gereihte, lange Sätze, die jedoch keineswegs ermüdend wirken, weil die verwendeten Bilder/Metaphern in ihrer Originalität sehr ansprechend sind.
Auch wenn mir persönlich die Sprache an einigen Stellen zu direkt, ja beinah schon aufdringlich wirkt, weil sie den poetischen Tenor zu gewollt konterkariert, habe ich diese Skizze sehr gern gelesen.
Und ich kann nicht umhin, mir dennoch (!) zu wünschen, dass die Muschel nochmal singen oder träumen möge ... ein neues Lied, einen neuen Traum ... Wünschen darf man ja.
scarlett
Gedankentreibsand von der kargen Insel
Es hätte so eine nette Geschichte werden können. Da steht ein Mann am Strand von Juist und erzählt von seiner wilden Jugend. Von einer Kindheit, in der die Mutter zum Essen ruft, einer Kindheit, die man bereits auf Bonanzarädern verlässt um mehr von dieser dunkelgrünen Aufregung zu spüren, die einem beim gefährlichen Tauchen im Baggersee überkam. Vom Gefühl des Aufbruchs, vom Rock 'n Roll und Stromgitarren, vom Kiffen und natürlich von den Mädchen. Man hätte so schön schwelgen können in den Erinnerungen, vom Leben im Augenblick, vom Fieber und Selbstentdeckung. Gutmütig und wissend hätte man nicken können zu den ersten sexuellen Erfahrungen, hätte verschmitzt lächeln können über die Eskapaden und Abenteuer. Man war ja selbst mal jung, man kennt das ja. "Süßer Vogel Jugend" hätte man dem Mann am Strand geantwortet und spätestens da richtig einen auf die Fresse bekommen.
Weil der Text voller Wut ist. Weil da eigentlich jemand steht, der die Welt kurz und klein hauen möchte. Der einem mit rotziger Sprache Bilder vor die Füße wirft die nach Schweiß stinken und so gar nicht in eine hübsche Versicherungswerbung passen wollen. Da steht jemand, der noch genug Saft in den Eiern hat, um die Welt aus den Angeln zu heben. Der den Motor hochjagen will, bevor alles Öl gefördert und verbrannt ist. Der aber auch begriffen hat, das Kiffen nicht das Paradies ist und ein feuchtes Höschen nicht die Glückseligkeit bringt. Der erfahren hat, dass sich Erlösung nicht aus den Brüsten der Frauen saugen lässt. Dessen Leidenschaft brennt als könnte kein Meer sie jemals löschen. Was tun, wenn man das begriffen hat und immer noch lebt?
Am Strand von Juist, mit einem viel zu nahem Horizont und einem eingestürztem Himmel. Mit geteerten Händen, einer toten Robbe vor den Füßen und einem Ständer in der Hose. Mit dem Geschmack von Zwiebeln und Whisky auf der Zunge. Was soll es denn sonst für eine Antwort auf die Frage nach dem Leben geben?
Es hätte so eine nette Geschichte werden können. Da steht ein Mann am Strand von Juist und erzählt von seiner wilden Jugend. Von einer Kindheit, in der die Mutter zum Essen ruft, einer Kindheit, die man bereits auf Bonanzarädern verlässt um mehr von dieser dunkelgrünen Aufregung zu spüren, die einem beim gefährlichen Tauchen im Baggersee überkam. Vom Gefühl des Aufbruchs, vom Rock 'n Roll und Stromgitarren, vom Kiffen und natürlich von den Mädchen. Man hätte so schön schwelgen können in den Erinnerungen, vom Leben im Augenblick, vom Fieber und Selbstentdeckung. Gutmütig und wissend hätte man nicken können zu den ersten sexuellen Erfahrungen, hätte verschmitzt lächeln können über die Eskapaden und Abenteuer. Man war ja selbst mal jung, man kennt das ja. "Süßer Vogel Jugend" hätte man dem Mann am Strand geantwortet und spätestens da richtig einen auf die Fresse bekommen.
Weil der Text voller Wut ist. Weil da eigentlich jemand steht, der die Welt kurz und klein hauen möchte. Der einem mit rotziger Sprache Bilder vor die Füße wirft die nach Schweiß stinken und so gar nicht in eine hübsche Versicherungswerbung passen wollen. Da steht jemand, der noch genug Saft in den Eiern hat, um die Welt aus den Angeln zu heben. Der den Motor hochjagen will, bevor alles Öl gefördert und verbrannt ist. Der aber auch begriffen hat, das Kiffen nicht das Paradies ist und ein feuchtes Höschen nicht die Glückseligkeit bringt. Der erfahren hat, dass sich Erlösung nicht aus den Brüsten der Frauen saugen lässt. Dessen Leidenschaft brennt als könnte kein Meer sie jemals löschen. Was tun, wenn man das begriffen hat und immer noch lebt?
Am Strand von Juist, mit einem viel zu nahem Horizont und einem eingestürztem Himmel. Mit geteerten Händen, einer toten Robbe vor den Füßen und einem Ständer in der Hose. Mit dem Geschmack von Zwiebeln und Whisky auf der Zunge. Was soll es denn sonst für eine Antwort auf die Frage nach dem Leben geben?
Die Erregung der Erinnerung
Ich bin so frei, und fange mit einem Selbstzitat an. In meinem Text „Die kurze Geschichte von Vera und Max“ lasse ich den etwas über vierzigjährigen Max sinnieren:
„Die ersten vierzig Jahre sind die Wichsvorlage für den Rest deines Lebens.“
Daran musste ich beim Lesen von Toms Text unwillkürlich denken, wobei man aus den vierzig wahrscheinlich eher zwanzig Jahre machen müsste. Aber was als Gemeinsamkeit steht, ist die Erregung der Erinnerung. Und das früher eben doch irgendwie alles besser war. Das transportiert der Text nicht nur durch die feuchte Heftigkeit der Erinnerungen, sondern auch durch Beobachtungen, die der Erzähler auf der Insel macht.
Aber was war eigentlich besser?
„Es gibt keine neuen Träume mehr“, heißt es am Anfang.
Das ist natürlich ein Selbstbetrug, denn das, was erinnert wird, waren keine Jungendträume, sondern es war ein fortwährender Rausch, ein fortwährendes Fieber, ein gieriges Aufsaugen von Leben. Alles war neu und hatte stets eine Überraschung parat. Die Jugend romantisiert sich selbst und da wird eine versiffte Matratze zur Blumenwiese, wenn man nur darauf kräftig an den Mädels herumfummeln kann.
Der große Beschiss an der ganzen Sache: Diese Zeit dauerte nicht ewig, sie ging vorbei, in Windeseile eigentlich, auch wenn man sich das nie vorstellen konnte.
Was bleibt, ist der Blick zurück im Frust, in einer fiebrigen Melancholie. Und als wolle man die Gegenwart dafür bestrafen, dass sie eben nicht mehr die Vergangenheit ist, wird sie nur noch in Graustufen wahrgenommen. Als letzter Rettungsanker ästhetisiert man die Vergänglichkeit und das Sterben, findet tote Robben und deren Augen schön. Vielleicht kann man es auch nur so begreifen, nur so verarbeiten, dass das Leben nicht nur Einbahnstraße, sondern auch Sackgasse ist.
Toms Sprache in diesem Text ist bildhaft und oszilliert zwischen der ruhigen Gegenwart und der vibrierenden Vergangenheit, ist atemlos und entspricht der Erregung, die hier vermittelt werden soll. Die Erregung der Erinnerung und die Erregung des Gedankens, dass dies alles endgültig vorbei ist.
Interessant ist bei dem Text noch die Verallgemeinerung, die durch das Wort „wir“ entsteht. Spricht da jemand stellvertretend für eine ganze Gruppe, gar einer ganzen Generation? Oder kommt er sich nur als der einzige Überlebende vor auf seiner Insel und muss in seiner Einsamkeit die Vergangenheit in der Wir-Form hervorholen, um nicht nur den Frust des Älter – und Altwerdens zu verarbeiten, sondern auch die Tatsache, dass ihn all diese Jahre nirgends wirklich verwurzelt haben, sondern im Gegenteil, isoliert?
Dies erscheint mir als besonders spannender Aspekt dieser wortwuchtigen Lebensrückschau. Denn am Ende gibt es kein Wir mehr, nur noch ein Ich mit fadem Geschmack im Mund, das sich mit der Vergänglichkeit zu versöhnen scheint. Aber auf welche Weise? Indem es sich den Erinnerung hingibt und ihrer Erregung. Und, anstelle ein neues Wir anzustreben, Muscheln aufhebt – die ja nichts anderes sind, als die Verschlüsse leergetrunkener Flaschen.
Ich bin so frei, und fange mit einem Selbstzitat an. In meinem Text „Die kurze Geschichte von Vera und Max“ lasse ich den etwas über vierzigjährigen Max sinnieren:
„Die ersten vierzig Jahre sind die Wichsvorlage für den Rest deines Lebens.“
Daran musste ich beim Lesen von Toms Text unwillkürlich denken, wobei man aus den vierzig wahrscheinlich eher zwanzig Jahre machen müsste. Aber was als Gemeinsamkeit steht, ist die Erregung der Erinnerung. Und das früher eben doch irgendwie alles besser war. Das transportiert der Text nicht nur durch die feuchte Heftigkeit der Erinnerungen, sondern auch durch Beobachtungen, die der Erzähler auf der Insel macht.
Aber was war eigentlich besser?
„Es gibt keine neuen Träume mehr“, heißt es am Anfang.
Das ist natürlich ein Selbstbetrug, denn das, was erinnert wird, waren keine Jungendträume, sondern es war ein fortwährender Rausch, ein fortwährendes Fieber, ein gieriges Aufsaugen von Leben. Alles war neu und hatte stets eine Überraschung parat. Die Jugend romantisiert sich selbst und da wird eine versiffte Matratze zur Blumenwiese, wenn man nur darauf kräftig an den Mädels herumfummeln kann.
Der große Beschiss an der ganzen Sache: Diese Zeit dauerte nicht ewig, sie ging vorbei, in Windeseile eigentlich, auch wenn man sich das nie vorstellen konnte.
Was bleibt, ist der Blick zurück im Frust, in einer fiebrigen Melancholie. Und als wolle man die Gegenwart dafür bestrafen, dass sie eben nicht mehr die Vergangenheit ist, wird sie nur noch in Graustufen wahrgenommen. Als letzter Rettungsanker ästhetisiert man die Vergänglichkeit und das Sterben, findet tote Robben und deren Augen schön. Vielleicht kann man es auch nur so begreifen, nur so verarbeiten, dass das Leben nicht nur Einbahnstraße, sondern auch Sackgasse ist.
Toms Sprache in diesem Text ist bildhaft und oszilliert zwischen der ruhigen Gegenwart und der vibrierenden Vergangenheit, ist atemlos und entspricht der Erregung, die hier vermittelt werden soll. Die Erregung der Erinnerung und die Erregung des Gedankens, dass dies alles endgültig vorbei ist.
Interessant ist bei dem Text noch die Verallgemeinerung, die durch das Wort „wir“ entsteht. Spricht da jemand stellvertretend für eine ganze Gruppe, gar einer ganzen Generation? Oder kommt er sich nur als der einzige Überlebende vor auf seiner Insel und muss in seiner Einsamkeit die Vergangenheit in der Wir-Form hervorholen, um nicht nur den Frust des Älter – und Altwerdens zu verarbeiten, sondern auch die Tatsache, dass ihn all diese Jahre nirgends wirklich verwurzelt haben, sondern im Gegenteil, isoliert?
Dies erscheint mir als besonders spannender Aspekt dieser wortwuchtigen Lebensrückschau. Denn am Ende gibt es kein Wir mehr, nur noch ein Ich mit fadem Geschmack im Mund, das sich mit der Vergänglichkeit zu versöhnen scheint. Aber auf welche Weise? Indem es sich den Erinnerung hingibt und ihrer Erregung. Und, anstelle ein neues Wir anzustreben, Muscheln aufhebt – die ja nichts anderes sind, als die Verschlüsse leergetrunkener Flaschen.
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