Mutella
Wir lagen auf den Yogamatten im Trainingsraum der Volkshochschule Simmering. Der Schweiß von Generationen hing in der Luft. Der Atemlehrer durchschritt den Saal, seine grauen Skisocken waren gestopft. Jeweils an den Fersen und Zehen. Er schnaufte, um uns zu animieren. „Tief und ohne Pause ein und aus ...“
Mindestens eine Stunde sollten wir zehn atmen, um innere Prozesse auszulösen. „Aber nicht in irgendein Drama flüchten“, mahnte er, „ausweichen gilt nicht.“ Ich blinzelte und sah, dass er mit dem Finger drohte. Schnell schloss ich die Augen wieder, hörte, wie er den CD-Player fütterte. Ach nein, dachte ich, als die rockigen Rhythmen von Prof. Trance erklangen. Warum konnte er denn nicht einmal etwas Sanfteres auflegen? Nach Abschluss meiner Ausbildung werde ich die Klienten mit zärtlichen Tönen begleiten, das schwor ich mir.
„Tief ein und aus ... ein und aus ...“
Bei „Tief ein“ versank ich in meine eigene Hölle. Iris, die Frau neben mir, holte mich da sofort wieder aus. Sie schrie „Muuutella!“ Nur das eine Wort.
Ich öffnete die Augen, sie schlug mit den Beinen auf die übelriechende Matte, riss an ihren Haaren, wand sich. Wehrte sich gegen eine unsichtbare Macht, der sie unablässig: „Muuutella“ entgegenbrüllte. Unser Atemlehrer kniete sich zu ihr. „Ja, lass es nur raus, Baby, weiter so“, sagte er. Sein Blick traf mich und als er bemerkte, dass ich eh aus meinem Atem rausgeflogen war, deutete er mir, ihm zu helfen. Ich kroch hinüber, streichelte den Kopf der Geplagten. „Muuutella“, heulte Iris heiser, das Haar ebenso klatschnass wie das Shirt. Plötzlich krümmte sie sich zusammen, „Muuutella“ knirschte sie zwischen den Zähnen. Allmählich löste sich der Krampf aus ihren Muskeln und sie erschlaffte.
„Papa weg.“ Es schüttelte sie. „Papa nie da.“ Sie atmete tief aus. „Mama nicht gut.“
Der Atemlehrer atmete ihr vor.
Ich hielt ihre Hand fest und atmete ein. Ich soff fast ab in den alten Bildern, sah mir zu, wie ich mich im schmuddeligen Trikotleibchen durch die aufgetürmten Kartons drängte. Einmal stieß ich gegen einen der Türme. Er brach über mir zusammen. Drin war einfach nur Schrott.
„Meine Mama war schwer depressiv“, weinte ich.
„Zwischen den Klamotten und ihren Schminksachen gab es nur einen schmalen Weg zur Küche ...“, sagte Iris und umklammerte meinen Schenkel.
„... zum Bad und dem Klo“, fügte ich hinzu. „Zu essen gabs Nutella.“
Sie lachte. „Genau.“
„Das gibt Kraft“, sagte ich, „für den Mut.“
Iris klappte die Augen auf.
.
Mutella
Hallo Elsa,
davon möchte ich sehr gern mehr lesen.
(Es ist ein Auszug, oder?)
Ich bin sofort drin, hab eine Gänsehaut bekommen, wegen des warmen und wegen des Kalten, und vor allem wegen der erzählerisch gekonnt gesetzten Lücken, wie ein Einatmen, denn dabei kann man nicht sprechen, muss aber die Luft nehmen, auch wenn sie ungesund ist, man braucht sie zum Leben, auch die Erinnerung, und vielleicht auch das Erinnern, aber vielleicht auch nicht (dein Text suggeriert: Reingehen, Wissen, Heilen), als wäre es im Grunde egal, worin genau ein Grauen bestand und fortbesteht (kann man das rausatmen? Wegatmen?), und wegen der konkreten Punkte, als sei das große Ganze nicht so wichtig wie die einzelnen Details, an die man sich klammerte, die man nun hervor fischt, schwer atmend, aus einem dunklen See, die man damals schon zum Anklammern brauchte wie ein Kuscheltier, wie ein Treppengeländer.
Du schaffst es, ohne Psychologisierung über Therapie zu schreiben, auf den Punkt, sehr, wenn ich das sagen darf "weiblich", unverkopft, nah dran, zugewandt, mit der nötigen Distanz. Es ist wirklich großartig.
Danke für den tollen Text.
klara
davon möchte ich sehr gern mehr lesen.
(Es ist ein Auszug, oder?)
Ich bin sofort drin, hab eine Gänsehaut bekommen, wegen des warmen und wegen des Kalten, und vor allem wegen der erzählerisch gekonnt gesetzten Lücken, wie ein Einatmen, denn dabei kann man nicht sprechen, muss aber die Luft nehmen, auch wenn sie ungesund ist, man braucht sie zum Leben, auch die Erinnerung, und vielleicht auch das Erinnern, aber vielleicht auch nicht (dein Text suggeriert: Reingehen, Wissen, Heilen), als wäre es im Grunde egal, worin genau ein Grauen bestand und fortbesteht (kann man das rausatmen? Wegatmen?), und wegen der konkreten Punkte, als sei das große Ganze nicht so wichtig wie die einzelnen Details, an die man sich klammerte, die man nun hervor fischt, schwer atmend, aus einem dunklen See, die man damals schon zum Anklammern brauchte wie ein Kuscheltier, wie ein Treppengeländer.
Du schaffst es, ohne Psychologisierung über Therapie zu schreiben, auf den Punkt, sehr, wenn ich das sagen darf "weiblich", unverkopft, nah dran, zugewandt, mit der nötigen Distanz. Es ist wirklich großartig.
Danke für den tollen Text.
klara
Liebe Klara,
Liebe Grüße
ELsa
Ja, ich probier da was.(Es ist ein Auszug, oder?)
Genau so meine ich es! Es sind die kleinen Details, die sich festfressen, einen nicht loslassen, immer wieder (meist im schlechtesten Moment) aufkreuzen und wehrlos machen. Und was die Atemarbeit betrifft, ist es egal, woraus das Grauen bestanden hat (oft gibt es nicht mal die og. Detailerinnerung), es geht darum, die damit verknüpften Emotionen zu fühlen. Und die kommen beim Atmen. Das befreit dann, verändert.(dein Text suggeriert: Reingehen, Wissen, Heilen), als wäre es im Grunde egal, worin genau ein Grauen bestand und fortbesteht (kann man das rausatmen? Wegatmen?), und wegen der konkreten Punkte, als sei das große Ganze nicht so wichtig wie die einzelnen Details, an die man sich klammerte, die man nun hervor fischt, schwer atmend, aus einem dunklen See, die man damals schon zum Anklammern brauchte wie ein Kuscheltier, wie ein Treppengeländer.
Vielen Dank dir. So ein Lob von dir, die du so feine Prosa schreibst, macht mich stolz.Du schaffst es, ohne Psychologisierung über Therapie zu schreiben, auf den Punkt, sehr, wenn ich das sagen darf "weiblich", unverkopft, nah dran, zugewandt, mit der nötigen Distanz. Es ist wirklich großartig.
Danke für den tollen Text.
Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen
Liebe Elsa,
ich finde den Text auch sehr stark. Wie Du die Atmosphäre und die Charaktere mit wenigen Pinselstrichen zeichnest. Die stinkenden Matten, die rockige Musik... Der Therapeut, der die Klienten "Baby" nennt. Heftig...
Dann die biographische Überschneidung zwischen Iris und dem lyrIch. Letzteres wird vermutlich schon da zur eigentlichen Therapeutin durch ihr Einfühlungsvermögen...
"Mutella": Mut/Mutter: Was Mut macht und die Mutter ersetzt...
Ich war/bin fasziniert. Habe keine Ahnung von Atemtherapie, kann mir aber gut vorstellen, dass es vieles hochholt...Du hast das wirklich anschaulich hier umgesetzt.
Liebe Grüße
leonie
ich finde den Text auch sehr stark. Wie Du die Atmosphäre und die Charaktere mit wenigen Pinselstrichen zeichnest. Die stinkenden Matten, die rockige Musik... Der Therapeut, der die Klienten "Baby" nennt. Heftig...
Dann die biographische Überschneidung zwischen Iris und dem lyrIch. Letzteres wird vermutlich schon da zur eigentlichen Therapeutin durch ihr Einfühlungsvermögen...
"Mutella": Mut/Mutter: Was Mut macht und die Mutter ersetzt...
Ich war/bin fasziniert. Habe keine Ahnung von Atemtherapie, kann mir aber gut vorstellen, dass es vieles hochholt...Du hast das wirklich anschaulich hier umgesetzt.
Liebe Grüße
leonie
Liebe leonie, freut mich, dass dich der Text erreicht, ich war ja recht unsicher, obs funktioniert,
vor allem dieser Eindruck:
Danke!
Liebe Heidrun, zum Glück konnte ich das Atmen in der vhs auslassen, wir hatten einen schönen Raum.
Vielen Dank auch dir fürs Lob.
Liebe Grüße
Elsa
vor allem dieser Eindruck:
So wars gemeint, genau."Mutella": Mut/Mutter: Was Mut macht und die Mutter ersetzt...
Danke!
Liebe Heidrun, zum Glück konnte ich das Atmen in der vhs auslassen, wir hatten einen schönen Raum.
Vielen Dank auch dir fürs Lob.
Liebe Grüße
Elsa
Schreiben ist atmen
Liebe Elsa,
der Text hat zwar etwas skizzenhaftes, er könnte auch gut der Beginn eines 300 Seiten-Romans sein, will ich damit sagen, aber ergefällt mir auch als Ausschnitt so, wie er dasteht, ich finde, er ist durchaus fertig und genau auf die Weise gelungen, wie die anderen es schon angeführt haben: seine gekonnten Lücken, seine Einfachheit, seine Antirührseligkeit (mit der er bei mir echte Rührseligkeit auslöst) (...) - habe ich sehr gern gelesen, überhaupt finde ich, dass tolle Texte zum neuen Monatsthema hier auftauchen...
liebe Grüße,
Lisa
der Text hat zwar etwas skizzenhaftes, er könnte auch gut der Beginn eines 300 Seiten-Romans sein, will ich damit sagen, aber ergefällt mir auch als Ausschnitt so, wie er dasteht, ich finde, er ist durchaus fertig und genau auf die Weise gelungen, wie die anderen es schon angeführt haben: seine gekonnten Lücken, seine Einfachheit, seine Antirührseligkeit (mit der er bei mir echte Rührseligkeit auslöst) (...) - habe ich sehr gern gelesen, überhaupt finde ich, dass tolle Texte zum neuen Monatsthema hier auftauchen...
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Liebe Lisa,
Vielen Dank fürs Vorbeikommen und Verweilen.
Wenn meine Tage nur länger wären, um alles kommentieren zu können! 36 Stunden wären fein!
Liebe Grüße
ELsa
Vielen Dank fürs Vorbeikommen und Verweilen.
Macht aber nix, oder?der Text hat zwar etwas skizzenhaftes,
Ei, wieso weißt du das? Ob er 300 Seiten kriegt, weiß ich aber noch nichter könnte auch gut der Beginn eines 300 Seiten-Romans sein,
Oh fein! Das passt es ja.seine Antirührseligkeit (mit der er bei mir echte Rührseligkeit auslöst)
das finde ich auch!überhaupt finde ich, dass tolle Texte zum neuen Monatsthema hier auftauchen...
Wenn meine Tage nur länger wären, um alles kommentieren zu können! 36 Stunden wären fein!
Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen
Liebe Elsa,
nein, gar nicht!
liebe auf dann eben 299 Seiten gespannte Grüße,
Lisa
Zitat:
der Text hat zwar etwas skizzenhaftes,
Macht aber nix, oder?
nein, gar nicht!
liebe auf dann eben 299 Seiten gespannte Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
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