Das Bild

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 24.01.2010, 16:24

Das Bild


Kurz nach dem Tod meiner Mutter verbrachte ich einige Wochen bei meinem Großvater, da mein Vater beruflich ins Ausland verreiste. Mein älterer Bruder war in dieser Zeit bei der Schwester meines Vaters. Gerne wäre ich auch dort gewesen, aber meine Tante hatte selbst vier Kinder, und so war nur noch Platz für einen von uns. Mein Vater entschied daher, dass ich bei meinem Großvater bleiben sollte.

Großvater war ein gutaussehender, stolzer Mann. Er redete nicht viel, und ich habe ihn, glaube ich, niemals lachen gesehen. Als Kind dachte ich, er sei deswegen so ruppig und unfreundlich, weil meine Großmutter kurz vor meiner Geburt gestorben war und er noch immer traurig sei. Ansonsten aber kam er mir völlig normal vor. Ich kannte ja nur diesen Großvater (der andere war im Krieg gefallen). Vor ihm Angst zu haben, schien mir ganz natürlich, und ich wäre verwundert gewesen, von Kindern zu erfahren, die ihren Großvater nicht fürchteten.

Ich war vorher noch nie in der Wohnung meines Großvaters gewesen. Zwar hatte er uns des Öfteren besucht, aber, aus mir unbekannten Gründen, wollte er nie, dass wir zu ihm nach Hause kämen. Manchmal, wenn mein Bruder und ich schon im Bett lagen und unsere Eltern dachten, wir schiefen längst, konnten wir hören, wie sich Vater darüber beschwerte, wie abweisend und uninteressiert Großvater seiner Familie gegenüber sei.

Als mein Vater mich zu ihm brachte, stand ich zunächst in einem kleinen Flur, während die beiden Erwachsenen vor der Wohnungstür etwas besprachen. Dann kam Großvater herein und sagte, ich solle meinen Koffer ins Schlafzimmer stellen. Er wäre nebenan und hätte noch zu tun. Wenn ich wollte, könnte ich mich auf das Bett legen und schlafen.
Das Schlafzimmer war klein und düster. Ich stellte meinen Koffer ab und sah mich um. Ein großes Bett, ein Schrank, eine Kommode. Ansonsten befand sich nichts in dem Raum. Nur ein Bild, das über dem Bett hing, etwa achtzig Zentimeter lang und vierzig Zentimeter hoch, in einem elfenbeinfarbenen Rahmen mit einer kleinen Goldverzierung am inneren Rand.
Ich setzte mich auf das Bett und betrachtete das Bild. Es war die Schwarzweißzeichnung einer Waldlandschaft. Birken, Buchen Eschen - gerade gewachsene Bäume mit viel Laub. Zwischendrin ein Bach, der in einem Bett aus Geröll durchs Bild plätscherte.
Und dann passierte es. Während ich auf die klaren, gläsernen Grautöne des Wassers schaute, wurden diese allmählich grün. Ebenso begannen die Stämme der Bäume bräunlich zu schimmern, der blendend weiße Lichteinfall der Sonne durch das Geäst bekam einen goldenen Schimmer, der glattgraue Himmel jedoch eine Ahnung von Blau. Auch der Waldboden, bedeckt mit Moos und moderndem Laub, erschlich sich eine rötlich-braune Färbung, und nach einer Weile konnte ich sogar sehen, wie ein leiser Wind so manches Blatt von hier nach dort wehte.

Ich lief ins Wohnzimmer und rief: Großvater, du hast ein Zauberbild!
Er saß dort in einem Sessel, vor einem selbstgezimmerten Schreibtisch und war versunken in einer Welt aus Postwertzeichen. In sicherem Abstand stellte ich mich hinter seinen Stuhl und wartete auf eine Reaktion. Die bestand zunächst darin, noch einige Momente mit einer winzigen Pinzette Briefmarken in ein Album einzusortieren. Er tat das mit einer solchen Sorgfalt, als gäbe es für jede dieser Marken nur diesen einzigen Platz auf der Welt. Dann drehte er sich um und schaute mich über den Rand seiner Brille an.
Welches Bild? wollte er wissen.
Anstatt zu antworten, ging ich ins Schlafzimmer. An seinem schlurfenden Schritt hörte ich, dass er mir folgte. Ich stellte mich neben das Bett. Das Bild, sagte ich und machte eine kurze Geste in Richtung Wand.
Das ist kein Bild, sagte er. Das ist ein Grabstein.

Und dann erzählte er mir die Geschichte dieses Bildes, während ich mich nicht von der Stelle rührte und steif neben dem Bett stand, als wäre ich selbst zu Stein geworden.

An die Tür einer armen Familie klopfte eines Abends ein fremder Mann und erbat für einige Tage Unterschlupf. Viele waren auf der Flucht zu jener Zeit in jenem Land (weit im Osten, sagte mein Großvater, so weit, dass die Leute schon anfingen Schlitzaugen zu haben). Der Vater der Familie war ein vorsichtiger Mann, aber auch gutmütig, und so ließ er den Fremden herein und versteckte ihn einige Wochen, was nicht ungefährlich war. Zwei Mal kamen in dieser Zeit Soldaten des Kaisers (ich denke, er meinte den Zaren) und suchten nach dem Fremden. Der verschwand schließlich wieder und schon bald hatte die Familie ihn vergessen. An dieser Stelle nun beschrieb mein Großvater die Familie, den Vater, die Mutter, die beiden Söhne, und so wie er es tat, musste ich unweigerlich an meine Familie denken. In Kleinigkeiten erkannte ich uns wieder, in der Art, wie der Vater redete, wie die Mutter ging – meine Mutter hatte ein steifes Knie gehabt – ;den älteren Sohn beschrieb er mit jener Lebhaftigkeit, die meinen Bruder auszeichnete, den Jüngeren nannte er einen Träumer – so schimpfte er mich auch des öfteren, wenn ich unachtsam war – und so kam es, dass von diesem frühen Moment seiner Erzählung an, jeder der Familie ein Gesicht hatte und eine Vertrautheit entstand, die mich ich tief und tiefer in die Geschichte hineinzog. Er nahm sich viel Zeit, das Leben der Familie genau zu schildern, die Arbeit auf den Feldern und die kleine Holzhütte, die sie ihr Zuhause nannte. Schnell fing ich an zu glauben, er hätte die Familie selbst gekannt und auch den Ort, an dem sie lebten.

Dann brach Krieg aus in dem Land, eine Revolution. Eines Tages kam ein Haufen Soldaten, die sich nach irgendeiner Farbe benannten in den Ort. Der Hauptmann der Truppe ließ das gesamte Dorf zusammenrufen und befahl den Bewohnern, alle Lebensmittel, die sie besaßen zum Dorfplatz zu bringen. Nun hatte aber niemand mehr etwas, da den Tag zuvor eine andere Armee durch das Dorf gezogen war und alles Essbare mitgenommen hatte. Es gab im ganzen Ort nicht eine Krume Brot, und außer Gras und Baumrinde konnte man den hungrigen Soldaten nichts mehr bieten. Die wurden darauf unsagbar wütend und es begann ein großes Morden und Vergewaltigen. Der Vater der Familie (der schon längst mein Vater war) erkannte in dem Hauptmann jenen Fremden, den er vor Jahren versteckt hatte. Es brannte schon das Haus der Familie, und einige der Soldaten hatten sich bereits über die Mutter (die schon längst meine Mutter war) geworfen und ihr die Kleider vom Leib gerissen, als der Vater den Hauptmann auf seinem Pferd sah und ihm zurief, er solle sie doch verschonen, schließlich habe er ihm damals unter großer Gefahr geholfen. Und tatsächlich erkannte auch der Hauptmann den Vater und gab Zeichen, den älteren der Kinder (der schon längst mein Bruder war) und auch den jüngeren (der längst schon ich war, aber mit einem verschwommenen Gesicht) loszulassen, da die Soldaten gerade darangehen wollten, ihnen mit ihren Bajonetten die Kehle durchzuschneiden. Auch von der Mutter ließen die Männer ab. Unter Tränen erflehte der Vater das Leben wenigstens seiner beiden Kinder.
Nehmt sie mit, befahl der Hauptmann, und man trieb die Familie in ein nahe gelegenes Waldstück.
Der Hauptmann auf seinem Pferd sagte: Ihr werdet hier sterben und von uns beerdigt. Das ist der Lohn für eure Hilfe, nicht zu verbrennen oder unbeerdigt im Dreck dieses Dorfes zu verfaulen.
Wieder flehte der Vater um Barmherzigkeit für seine Kinder. Wenigstens einen von ihnen verschont doch, rief er. Der Hauptmann (der schon längst mein Großvater war) überlegte kurz, und dann sagte er nickend, ein junges Leben für ein altes, nämlich seins, welches sie damals gerettet hatten, sei ein angemessener Preis. So fragte er den Vater, welchen der beiden Jungen er verschonen soll.
Natürlich vermochte der Vater nicht, sich für eines der Kinder zu entscheiden. Erst als der Hauptmann anlegen ließ, damit man beide Kinder gleichzeitig erschieße, fiel der Vater mit einem lauten Schrei zu Boden und zeigte auf einen der Jungen. (Natürlich sagte mein Großvater nicht, welcher der beiden Kinder von dem Vater erwählt wurde). Das andere Kind wurde danach zusammen mit seinen Eltern erschossen und dort zwischen den Bäumen verscharrt.
Der Hauptmann nahm den Jungen, den er verschont hatte, zu sich und zog ihn auf, als wäre er sein eigener Sohn. Der Junge wurde ein Künstler, ein Maler, und als er von seinem Ziehvater, während dieser auf dem Sterbebett lag, die wahre Geschichte seiner Familie erfuhr, reiste er in jenes Dorf, ging in den Wald, und dort, wo er die Stelle vermutete, an der seine Familie gestorben war, malte er jenes Bild. Kurz darauf starb der Maler an einem heftigen Fieber und das Bild wanderte von Hand zu Hand, bis es schließlich von meinem Großvater auf einem Trödelmarkt in Warschau gekauft wurde und er es bei seinem ersten Fronturlaub mit nach Hause brachte.

Wenn du willst, sagte mein Großvater nachdem er fertig erzählt hatte, kannst du es haben.
Dann ließ er mich alleine. Es dauerte eine Zeit, bis ich aus der Geschichte zurückkehrte. Das Zimmer erschien mir noch viel kleiner und dunkler. Und das Bild? Das hatte plötzlich jeden Zauber verloren. Die Bäume wirkten wie die fahlen Knochen eines Skeletts, wie fleischlose Finger, die aus dem morastigen Boden heraus in die neblige Luft griffen. Ich fragte mich, ob der Maler irgendwo in dem Bild eine Spur seiner Geschichte hinterlassen hatte, ob man nicht irgendwo zwischen dem Laub des Waldbodens etwas entdecken konnte, das erkennen ließ, welche Grausamkeit sich darunter verbarg. Aber ich wagte es nicht, genauer nachzusehen. Ich wollte das Bild überhaupt nicht mehr anschauen.
Schnell verließ ich das Schlafzimmer und vermied es von da an, dort alleine zu sein. Das Bild erwähnte ich nicht mehr. Auch mein Großvater benahm sich so, als hätte er mir diese Geschichte niemals erzählt. Erst viele Jahre später, nach seinem Tod, kam das Bild zusammen mit den vielen Büchern, die er besaß, auf den Speicher meines Hauses.

Dort entdeckte es gestern meine Tochter. Wir hatten am Morgen, so wie jeden Sonntag, lange gefrühstückt und nebenbei Trickfilme im Fernsehen angeschaut. Auf einmal meinte sie dann, sie wolle heute gerne auf den Speicher gehen, um sich ein paar von Mamis Sachen anzuschauen.
Ob sie das denn nicht sehr traurig machen würde, fragte ich, und sie meinte, ja schon, aber sie würde es trotzdem gerne tun.
Also gingen wir zusammen auf den Speicher. Sie wühlte in verschiedenen Kisten, während ich mich mit ein paar alten Werkzeugen beschäftigte, die ich von meinem Vater geerbt hatte.
Irgendwann hörte ich meine Tochter nicht mehr kramen und sah nach ihr. Sie kniete vor dem Bild, das sie hinter einem alten Koffer gefunden und herausgezogen hatte und schaute es an. Ich beobachtete die Veränderungen in ihrem Gesicht, wie es zunächst etwas skeptisch aussah, sich dann aber die Züge entspannten und es ein Lächeln zeigte, das ganz tief aus dem Inneren zu kommen schien.
Sie bemerkte mich und sah von dem Bild auf.
Was ist das für ein Bild, Papi? fragte sie aufgeregt.
Das ist kein Bild, sagte ich.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 24.01.2010, 17:11

Lieber Sam,
die Geschichte, so gut sie geschrieben ist (wie immer bei Dir), hinterlässt bei mir einen sehr bitteren Nachgeschmack.
Die Binnengeschichte (die des Bildes) empfinde ich als spannend und ergreifend, aber nicht ich bin es ja, dem diese Geschichte erzählt wird, sondern ein kleiner Junge, der sich obendrein selbst mit einer Person in der Geschichte identifiziert - ein vom Erzähler (dem Opa) beabsichtiger Effekt.
Der Effekt der Geschichte auf den jungen Zuhörer ist bedrückend; man könnte einen Verlust der kindlichen Phantasie herauslesen - oder, da sich ja das Bild immer noch "bewegt", nur halt zum Gegenteil hin - einen Verlust der kindlichen Unschuld, die gern überall ein gutes Ende kommen sehen möchte und keine Ruhe gibt, ehe sie nicht ein solches zurechtgestrickt hat.
Bis hierhin ist nichts dagegen zu sagen, es hat sich halt so abgespielt. Mir bleibt aber ein Rätsel, wieso der Erzähler (also der Erzähler der Rahmengeschichte) es offenbar darauf anlegt, diesen Effekt weiterzutragen. Oder lege ich in seine Antwort am Ende etwas Falsches hinein? Ich kann es nur so interpretieren, dass er nun seiner Tochter eine (entsprechend für ein Mädchen umgestrickte) Version der gleichen Geschichte erzählen wird.
Moralisiere ich zu sehr?
Schönen Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Nicole

Beitragvon Nicole » 25.01.2010, 11:03

Hallo mein Lieber,

ich schmunzele, da ich gerade Zeifras Kommentar gelesen habe. Ja, sie empfindet es scheinbar genauso wie ich. Ich wünschte, ich könnte den Gedanken verdrängen, das der Vater nun die Geschichte so wiederholt, wie er sie gehört hat - das er die Kette unterbricht. Und ahne doch, das er es nicht tun wird... Ich befürchte, er wird diesem Kind die kindliche Unschuld ebenso rauben, wie er ihr beraubt wurde.
Als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich Bücher, deren Ende mir nicht gefiel, in Gedanken oft geändert. Habe das oder die letzten Kapitel im Kopf neu verfaßt, weil ich ein schönes Ende wollte. Ebenso bin ich hier versucht, dies zu tun.
Du verstehst es meisterlich, dem Leser das "schlimme" Ende der Geschichte zu suggerieren, ohne es wirklich zu schreiben. Und bietest dem Leser damit ein Möbiusbandes. Immer wieder wird ein Kind dieses Bild finden, es wunderschön und lebendig finden um dann nach Hören der Geschichte nur noch das grausige Grab zu sehen... Brr.

Die Geschichte ist meisterlich erzählt, spannend, grausam, gruselig und - unerbittlich.

Fein gemacht!

Nicole

Sam

Beitragvon Sam » 25.01.2010, 17:52

Hallo Zefira,

vielen Dank für deinen Kommentar!

Ich glaube nicht, dass du zu sehr moralisierst. Wahrscheinlich bleibt es gar nicht aus, den Text von diesem Standpunkt aus zu betrachten (siehe Nicoles Kommentar). Und er ist ja darauf angelegt, dass der Leser am Ende nicht weiß, was dem Mädchen nun erzählt wird, es wohl aber ahnen kann. Und was das weitertragen des "effektes" angeht, so mag es in dieser Geschichte so sein, dass es vielleicht absichtlich geschieht. Im wirklichen Leben ist es aber oftmals eher unabsichtlich. Fakt ist, die kindliche Sichtweise kann nicht beibehalten werden.

Hallo meine liebe Nicole,

auch dir vielen Dank!

Immer wieder wird ein Kind dieses Bild finden, es wunderschön und lebendig finden um dann nach Hören der Geschichte nur noch das grausige Grab zu sehen...


Es scheint so zu sein. Wie im richtigen Leben...


Euch beiden liebe Grüße

Sam

Yorick

Beitragvon Yorick » 25.01.2010, 19:50

klingt nach der "Vererbung des (Familien)Dramas". Die Weitergabe der Lasten ohne es zu wissen/anders zu können. Gerade die Weitergabe dieser "bösen" Geschichte durch den Vater an das wehrlose Kind ist brutal für mich hier. Gefällt mir immer noch.
grüße, y.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 25.01.2010, 20:07

Ja, mich hat es auch an das bekannte Phänomen erinnert, dass Eltern, die selbst in ihrer Kindheit geprügelt wurden, ihre eigenen Kinder schlagen etc.
Oder an das bekannte Bibelwort, dass die Sünde der Väter an den Kindern heimgesucht werden wird.
Nur - es steht ja nicht drin, was der Erzähler nun seiner Tochter sagen wird. Und so stricke ich mir wie ein Kind meinen eigenen schönen Schluss zurecht und denke mir, er wird erzählen, dass in dem Bild der Osterhase wohnt.

:pfeifen: Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Yorick

Beitragvon Yorick » 25.01.2010, 20:25

>> Und so stricke ich mir wie ein Kind meinen eigenen schönen Schluss zurecht...

...und so beginnt die Differenz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit uns auszufüllen, das, was manche Sehnsucht nennen und manche Neurose.

:)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 25.01.2010, 20:47

Oder Bovarysmus ... :hut0045:
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(Ikkyu Sojun)

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leonie
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Beitragvon leonie » 25.01.2010, 21:35

Lieber Sam,

ich habe die Geschichte nicht gerade gern, aber doch sehr gespannt gelesen. Eigentlich interessant, dass der Vater doch einiges an Einfühlungsvermögen zu besitzen scheint (er fragt ja, ob es die Tochter nicht traurig mache, wenn sie auf den Speicher gehen) und dann doch zumindest mit diesem Satz in das alte Muster gerät.
Ich hoffe darauf, dass spätestens die Tochter die Kette durchbricht :-). Vielleicht kann ja nicht nur ein Bild ein Grabstein sein, sondern auch ein Grabstein zum Bild werden. Das fände ich auch eine spannende Geschichte.

Deine Geschichte bietet viel Stoff zum Weiterdenken, auch für mich.

Liebe Grüße

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 25.01.2010, 22:39

.
Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 18:08, insgesamt 1-mal geändert.

Sam

Beitragvon Sam » 27.01.2010, 17:49

Hallo Yorick,

Gefällt mir immer noch.


Stimmt, du kennst die Geschichte noch aus dem verblichenen Lit-Caf. War damals ein Teil der Adventsgeschichten.
Freut mich sehr, dass es dir noch immer gefällt!

Hallo Leonie,

Ich hoffe darauf, dass spätestens die Tochter die Kette durchbricht


Wer weiß, vielleicht durchbricht sie ja schon der Vater. Aber ich glaube eher nicht. Ein Durchbrechen seitens der Tochter könnte tatsächlich sein, dass sie den Grabstein ihrer Mutter malt und dieses Bild weitergibt. Was aber am Ende vielleicht sogar auf das selbe hinauslaufen würde. Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte.


Hallo Rosebud,

eine sehr interessanten und intelligenten Kommentar hast du da geschrieben, und ich fürchte, ich kann nicht annähernd so klug antworten. Die Verbindungen, die du zwischen den drei Texten anstellst sind sehr einleuchtend. Mir selbst war das so nicht wirklich bewusst. Es ist vielleicht eine Art, wie ich gewisse Dinge angehe (und warum man gerade die eine und nicht die andere Methode wählt, eine Geschichte zu erzählen, erschließt sich einem auch meist erst hinterher). Gut möglich, dass ich dem Erzählten grundsätzlich misstraue. Viel eher aber mir als Erzähler.
Was mir durch deinen Kommentar auffiel, ist der zeitliche Abstand, in dem die Geschichten entstanden sind. Das Bild habe ich vor ungefähr acht Jahren geschrieben und es war einer meiner ersten Texte, die ich überhaupt geschrieben hatte (abgesehen von der grauenhaften Schreiberei als Jugendlicher). Die Geschichte ohne Ende entstand vor gut vier Jahren und das Brot ist ziemlich neu. Die Konstanz in Hinblick auf die von dir so schön herausgearbeiteten Parallelen erstaunt mich dann doch (ob man das positiv oder negativ bewerten soll, weiß ich allerdings nicht.)

Ich danke euch allen herzlich fürs Lesen und eure Kommentare!

Liebe Grüße

Sam

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.05.2010, 20:50

Lieber Sam,

ich wollte schon so lange einen Kommentar zu diesem Text schreiben! Aber eigentlich ist die Verzögerung gut, denn seit einer Weile lese ich ja Alice Miller und irgendwie passen ihre Beobachtungen zu Kindheiten zu deiner Geschichte wie die Faust aufs Auge und da sie auch immer wieder Autoren (Kafka etc.) und andere Künstler heranzieht, scheint mir ein Vergleich auch nicht zu zusammengesponnen. Jedenfalls habe ich bei ihr lustigerweise den Gedanken gelesen, dass es bezeichnend ist, was für ein Bild über dem Kinderbette hängt. Und genau in dein Bild sind ja - auf ähnlich "tiefere" (nicht aufblätterbare/vorlegbare) Weise die gerade zwanghaften Weitergaben der Mechanismen gelegt zwischen den Generationen. Deshalb ist es auch die Kompositionsmethode der Geschichte so wichtig, dass sie von (mindestens) drei Generationen erzählt (davor und danach denkt man sich ja weiter), denn es sind ja ganz verschiedene Menschen, die ganz verschieden mit dem gleichen umgehen (wollen), aber ihnen gemein ist diese Zwanghaftigkeit etwas "Dunkles" fortzuführen, eben weil sie selbst davon "befallen" sind (es ist natürlich falsch, das in solchen Krankheitsvokabeln zu beschreiben, denn es ist ja alles selbst gemacht, nichts Äußerliches oder dergleichen, aber es fühlt sich doch so an). Dieses Unanschaubare legst du in das Bild (ein wenig wie in Wildes Dorian Gray): absurderweise (treffenderweise!), also in etwas, was man anschauen kann, aber eben nur die Fläche). Und ganz nebenbei fügst du das ganze Erzählte dann noch in einen historischen Rahmen - ohne dass es prätentiös oder moralisch daherkommt. Hier schließt Miller übrigens auch immer vom einen auf das andere - sie sieht bestimmte gesellschaftliche Zustände und Ereignisse wie Kriege oder auch bestimmte Gründe, weshalb viele Menschen überhaupt fähig dazu waren, die Struktur des Nationalsozialismuses zu bedienen, nichts zu merken, einfach, weil er genau die Strukturen bot, die auch ihre Erziehung besaß. Ich bin wirklich beeindruckt von deiner Art Geschichten zu erzählen.

Kennst du Alice Miller eigentlich? Mir scheint, sie beschäftigt sich tatsächlich haargenau mit dem Moment, das du auch treffen möchtest.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 29.05.2010, 10:39

Hallo Sam,
Lisas "Heraufholen" hat mich "Das Bild" lesen lassen.
Für mich ist der Text die Abwandlung eines "Urbilds", wie es sich z.B. in Edgar Allan Poes Erzählung "The Oval Portrait" findet - ein Bild als Grabstein. Gerade nach der erneuten Lektüre von Poes Text frage ich mich, ob der zweite Teil der Erzählung wirklich notwendig ist. Genügt nicht die Desillusionierung als solche? Dann würde der Text enden mit "als hätte er mir diese Geschichte niemals erzählt". Der pädagogische Effekt der Aufklärung ist ja bereits in der Erzählung des Großvaters enthalten und wird nicht stärker durch seine Wiederholung in der nächsten Generation.
Aber wahrscheinlich wolltest Du in der Geschichte unseren Umgang mit dem im Zweiten Weltkrieg begangenen Unrecht thematisieren, das jede Generation der nächsten "weitergeben" muss. Aber wäre es dann nicht interessant, zu betrachten, wie die zweite Erzählung sich bereits von der ersten unterscheidet? Denn sie ist nur Wiedererzählung von Erzähltem - und nicht des Selbsterlebten.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Sam

Beitragvon Sam » 09.06.2010, 17:15

Hallo Lisa,

vielen Dank für deine Gedanken zu diesem Text. Alie Miller habe ich noch nicht gelesen (ist das nicht die, die vor kurzem verstarb und deren Sohn nun behauptet, von seinem Vater missbraucht worden zu sein? Ich meine, da neulich etwas in irgendeinem Feuilleton gelesen zu haben), aber sie scheint interessant zu sein. Ich werde mal sehen, ob ich mir etwas von ihr besorgen kann.
Den Aspekt der zwanghaften Weitergabe, den du betonst - ja, das ist so ein Urgedanke, der zu der Geschichte geführt hat. Und das, von dem letztendlich alle "befallen" sind, ist die desillusionierung, die mit dem Erwachsenwerden einhergeht. In der modernen Gesellschaft wird dies oftmals als traumatisch empfunden, weil wir verlernt haben, diesen schmerhaften Übergang zu ritualisieren. Er kommt überraschend und wird oftmals als Verlust betrachtet. Vor kurzem habe ich etwas sehr interessantes über die australischen Ureinwohner gelesen. Deren Kinder wuchsen auf mit der Angst vor Geistern. Beim Initiationsritual, das aus einem Jungen ein Mann macht, wird ihnen erklärt, dass diese Angst völlig unbegründet ist, da sie selbst Macht über diese Geister haben können, um damit wiederum die Nichteingeweihten - die nachfolgende Generation - zu erschrecken.

Jedenfalls freut es mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat.


Hallo Quoth,

vielen Dank auch dir. Die Poe-Geschichte kannte ich nocht nicht (bzw. habe sie wieder vergessen, denn meine excesive Poelektüre liegt schon bald dreissig Jahre zurück).
Desillusionierung ist ja nur ein Punkt der Geschichte. Die Weitergabe war mir ebenso wichtig - vielleicht sogar (unbewusst?) wichtiger. Um Unrecht aus dem zweiten Weltkrieg, oder irgendeinem Krieg, ging es mir eigentlich überhaupt nicht. Die Geschichte, die nun die Vater erzählt, könnte eine ganz andere sein. Nicht weniger desillusionierend natürlich, aber für die Tochter ähnlich greifbar, wie damals für den Erzähler, dem als Enkel eines Weltkriegsveteranen Kriegsgeschichten nicht ganz unbekannt waren.

Nochmals vielen Dank euch beiden!

Gruß

Sam


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