Es war kalt in dieser Nacht im April des Jahres 2010

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 07.04.2010, 19:57




Als sich Eloise am Montag aus dem Bett quälte, fehlte etwas. Sie setzte sich auf ihren venezianischen Stuhl auf dem kleinen Balkon im 5. Stock, zog den dunkelblauen Frotteemorgenmantel enger, fuhr mit dem Finger über den eingestickten Namen über ihrer Brust und rauchte ihre erste Zigarette. Asche fiel in seine Büffelledermokassins. Aus ihrem gesunden Auge quollen Tränen, das Glasauge blieb trocken. Sie versuchte sich zu erinnern, welche Melodie sie mitten in der Nacht geweckt hatte. Die Kippe zwischen den Lippen, spielte sie auf ihrem Luftklavier, stockte. Immer wieder. Ließ schließlich die Arme sinken, stand auf, drückte die Glut auf dem Geländer aus, schaute nicht nach unten. Sie hängte ihre Blicke zwischen die Zweige zu den ersten aufgeplatzten Blüten des Kirschbaumes. Der Knoten hatte sich zusammengezogen. Wie fest er war. Sie spürte ihn in ihrer Magengrube. Die Spuren in ihren Händen wässerten noch. Das Seil, ihre Wut, das Geräusch - blau. Sie würde Heilsalbe bestellen. Ein Arzt würde sie sich anschauen. Wahrscheinlich schon Morgen.
Eloise ging zurück ins Schlafzimmer, bückte sich, griff unters Bett und zog sein iPhone hervor. Eine Staubfluse hatte sich zwischen die zersplitterte Oberfläche geklemmt. Es blieb schwarz, die MMS war von der Bildfläche verschwunden. Eine klitzekleine Datenmenge. Mehr nicht. Sie nahm ihr Auge aus dem Gesicht, legte es aufs Nachttischchen zwischen die Porzellantierchen, daneben die tickende Uhr und das Fußkettchen mit den lustig klimpernden Herzhälften. Dann schüttelte sie die Bettdecke aus, legte sich ausgestreckt darauf, faltete die Hände und wartete auf einen Schrei.






Änderung nach Sams Anregung, der erste Satz lautete vorher: Als sich Eloise am Montag aus dem Bett quälte, fehlte ihr etwas.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Sam

Beitragvon Sam » 08.04.2010, 18:11

Hallo Flora,

das gefällt mir sehr gut. Böse, aber auch hintergründig. So ganz habe ich die Details (Glasauge, Luftklavierspielen etc.) für mich noch nicht zusammensetzen können, aber dass Eloises Mann da im Kirschbaum hängt und sie daran nicht ganz unschuldig ist, meine ich herausgelesen zu haben. Der Grund für die Tat erschliesst sich mir aus dem Text nicht, aber Auslöser könnte eine MMS gewesen sein.

Jedenfalls eine gelunge Miniatur, die zum Spekulieren einlädt. Einzig der erste Satz gefällt mir nicht so ganz. Bzw. ohne das "ihr" gefiele er mir wesentlich besser.

Gruß

Sam

Mucki
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Beitragvon Mucki » 08.04.2010, 19:43

Hallo Flora,

ja, es gibt hier viel zu Spekulieren. Mir scheint Eloise an diesem Morgen irgendwie in einer Art Schockzustand zu sein. Geschockt über das, was sie getan hat. Was hat sie getan? Nun, ich spekuliere mal, dass sie eine Videonachricht erhalten hat, in der sie sah, wie ihr Mann fremdging. Er kam heim und sie brachte ihn, in blinder Wut, um. Die Fragen, die sich natürlich stellen, sind: wer hat ihr diese Nachricht gesandt und warum. Wie hat sie ihren Mann aufhängen können? Rasende Wut erzeugt große Kräfte, klar, aber dennoch? Eine Frau hängt ihren Mann auf? Hm. Man weiß ja nichts über ihren Mann, wie groß/schwer er war. Vielleicht war er betrunken.
Die Melodie, die sie auf dem Luftklavier nachspielt, ist der Handy-Klingelton, das ist klar.
Der Schrei, auf den sie wartet, ist wohl der Schrei von irgendjemanden, der den Erhängten findet.
Es könnte auch ihr innerer Schrei sein.
Viele Fragen. Du lässt hier sehr viel offen, m.E. ein bisschen zu viel.

Saludos
Mucki

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 08.04.2010, 20:24

Liebe Flora

Der kurze ellipsenreiche Text gibt nicht viel preis, aber einen klar orientierten Spielraum. Jeder von uns drei bisherigen Kommentatoren erkennt oder auch nicht, eine Spur, das heißt, jeder ist empfänglich für einen Teil der "Datenmenge". Ihm gehört der Körper im Kirschbaum, das iphone, er fehlt, oder sein verdinglichter Körper, ihn spürt sie in der Magengrube. Was ich nicht zuordnen konnte: die Melodie und die Kette.

Diiess Nichtverstehen stört mich nicht. Würdest du die Geschichte um die "erwartete Datenmenge" erweitern, liefe siie die Gefahr der Banalisierung. Es ist allerdings auch eine Art der "gepflegten Banalisierunng" mit der größtmöglichen Aussparung der Inhalte zu arbeiten.

Diese Bemerkung ist nur allgemeiner Art. Dein Text hat mir nämlich sehr gut! gefallen.

Beste Prosa ... mehr davon ...

liebe Grüße

(Eloise = die Melodie ???? ja! Nichtwahr?)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 08.04.2010, 23:23

Renée Lomris hat geschrieben:(Eloise = die Melodie ???? ja! Nichtwahr?)

Du meinst diese hier, Renée?

http://www.youtube.com/watch?v=MHIAZUxlr8g

Das passt für mich nicht zum Text. Also für mich ist es der Klingelton vom Handy. Die haben doch so viele verschiedene Klingeltöne, auch Melodien, die man gut auf so einem Luftklavier nachahmen kann.
Na, ich bin gespannt, ob Flora uns das Rätsel auflöst. ;-)

Saludos
Mucki

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 09.04.2010, 11:05

Hallo Sam,

als ich deinen Namen gesehen habe, hatte ich fast Bammel reinzuschauen, .-) umso mehr freut mich dein Kommentar nun.
Einzig der erste Satz gefällt mir nicht so ganz. Bzw. ohne das "ihr" gefiele er mir wesentlich besser.
Wahrscheinlich hast du recht, auf das "ihr" kann ich verzichten, ich nehme es raus.

Hallo Mucki,

Du lässt hier sehr viel offen, m.E. ein bisschen zu viel.
ja, es lässt vieles offen, aber ich denke es gibt auch Spuren vor. Und näher komme ich an einen "Krimi" nicht heran, also um es dann auszuschreiben, zu benennen und trotzdem Stimmung zu bewahren, braucht es wohl einen anderen Autor. Ich finde das aber selbst auch ganz spannend, wohin es einen denken lässt.


Hallo Renée,

Der kurze ellipsenreiche Text gibt nicht viel preis, aber einen klar orientierten Spielraum.
ja, so war es gedacht. Und es freut mich, dass es wohl zum Spielen einlädt. Was du über die Banalisierung schreibst ist interessant, es ist wahrscheinlich eine Gratwanderung, ob es dann beim Leser als bloßes "Mittel" ankommt, oder als Hilflosigkeit des Autors, oder ob es einfach als Teil des Textes wahrgenommen werden kann.
Beste Prosa ... mehr davon ...
Danke... Mal sehen, .-) mir geht es da wohl genau anders herum als dir. Prosa liegt mir ferner als Lyrik, da braucht es immer ein bisschen Überwindung überhaupt zu versuchen, anzufangen und dann auch noch zu zeigen.

(Das Lied (und somit auch der Klingelton) *lach* eigentlich wollte ich ja nicht erklären ... also ihr Name war zuerst da, eigentlich eher mit dem Bezug zu "Für Elise" also auch einem "Klischee", dem Zarten, Weichen, Einfachen, Bekannten, auch einer Vorstellung von diesen Schatzkistchen-Spieluhren für Mädchen, in der sich dann die Schöne vor einem Spiegel im Kreis dreht, die in ihrem Mechanischen sich immer Wiederholenden auch eine seltsame, verstörende, gruselige Seite an sich haben können, wie auch die Melodie ins "Böse" kippen kann.
Also man muss das sicher nicht mitlesen, ich denke es funktioniert auch ohne diesen Bezug, aber ich habe mich dann auch an das Lied von Barry Ryan erinnert, mit seinem schrägen Klang und den Text nachgelesen und fand, dass das auch eine spannende, fast zynische Ebene hineinträgt, gerade auch im Kontrast bzw. Zusammenspiel der Lieder und Vorstellungen.)


Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)


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