Jule
Jule
Sommer 1970
Jule hat es eilig. Ihre Mutter geht auf die Toilette und muss pressen. Jule fällt ins Klo, stürzt sich ins Leben. Sie entwickelt eine Aversion gegen Wasser und Allergien gegen verschiedene Reinigungsmittel.
Frühjahr 1975
Jules Mutter muss ins Krankenhaus. Jule verbringt ein halbes Jahr bei ihren Großeltern. Die Oma kümmert sich um das dünne Kind. Jeden Tag gibt es Kuchen, selbstgemachten Erdbeer-Sahnejoghurt oder Eis, weil Jule alles brav auffrisst.
Herbst 1975
Fett kehrt Jule heim. Die Mutter ist wieder gesund und nimmt Jule den Teller weg, wenn sie eine zweite Portion haben will.
Winter 1980
Jule lässt die Grundschule hinter sich und beginnt ihr erstes Jahr auf dem Gymnasium. Vor jedem Schwimmunterricht reibt sie sich Essigreiniger auf die Oberarme und zeigt dem Lehrer den Hautausschlag. Sie wird vom Schwimmen befreit.
In den Pausen wirft Jule die von ihrer Mutter geschmierten Diät-Knäckebrote weg und kauft sich im Kiosk auf dem Schulgelände Chips und Erdnüsse. Zuhause verweigert sie das Essen. Die Mutter ist zufrieden. Jule ist vernünftig geworden.
Sommer 1983
Jules Eltern verbringen die Wochenenden auf dem Golfplatz, bitten Jule, sich zuhause um den Hund zu kümmern.
Am Weg zum Wald befindet sich ein Fast-Food-Laden. Der Hund gehorcht ihr aufs Wort. Er mag Hamburger.
Jules Freundeskreis hat kein Gewicht. Ihre Mitschüler geben ihr viele runde Namen.
Sommer 1985
Jule lässt sich Zeit. Sie ist fünfzehn Jahre alt, hat noch keinen Jungen geküsst. Die Menstruation kennt sie nicht.
Winter 1986
Jules Mutter will mit ihr zum Arzt gehen. Der Grund für die ausbleibende Menstruation soll gefunden werden. Jule greift vorher zum WC-Reiniger und reibt ihren runden Körper damit ein. Die Reaktionszeit kennt sie und packt sich in dicke Klamotten ein.
Als sie nackt vor dem Arzt steht, sagt er, dass ihre Allergie vermutlich der Grund sei. Ihr Übergewicht könnte auch eine Rolle spielen. Er entnimmt ihr eine Blutprobe. Beim Piecken der Nadel entdeckt Jule ein neues Gefühl.
Frühjahr 1987
Jule hat einige Untersuchungen hinter sich gebracht. Da die Allergien ohne ersichtlichen Grund kommen und gehen, findet der Arzt keinen Zusammenhang. Die Ursache sei ihr starkes Übergewicht, lautet seine Diagnose.
Sommer 1988
Jules Mutter setzt sie auf Diät. Je stärker sie Jules Mahlzeiten reduziert, umso mehr steigt Jules Gewicht. Jule besorgt sich rote Tuschfarbe, kippt sie ins Klo und ruft ihre Mutter. Sie verzerrt ihr Gesicht und krümmt sich leicht. Zufrieden geht die Mutter Binden einkaufen.
Herbst 1990
Jule hat die Schule geschafft. Sie hat Probleme, geradeaus zu gehen. Sie fällt zur Seite, mal nach rechts, mal nach links. Sie kann sich nicht halten und verbringt ganze Tage im Bett. Mit einer Gehhilfe möchte sie nicht studieren. Es ist das Übergewicht. Da ist sich ihre Mutter sicher.
Jule hat es eilig. Jule fällt aus dem Leben, wie sie ins Leben hineingefallen ist.
© Gabriella Marten Cortes 2010
*wow
ich wage gar nicht zu...
aber im sommer 1983, würde ich dieses wortspiel lassen "Ihre Mitschüler geben ihr viele runde Namen."
der satz zuvor "Jules Freundeskreis hat kein Gewicht" sagr allES
ich wage gar nicht zu...
aber im sommer 1983, würde ich dieses wortspiel lassen "Ihre Mitschüler geben ihr viele runde Namen."
der satz zuvor "Jules Freundeskreis hat kein Gewicht" sagr allES
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).
Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel
Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel
hi mucki,
heftig, perfekter tonfall, man fragt irgendwie "wieso erzählt sie das" andererseits will man mehr wissen, wie ein voyeur, da ist eine lust am lesen, neugierde, wertung bleibt völlig dem leser überlassen, man weiß am ende immernoch nicht "wieso steht das da", aber ist trotzdem irgendwie... befriedigt.
das ist zumindest mein eindruck.
ich finde einzig den ausdruck "sie verzieht ihre gesichtszüge" irgendwie komisch... das klingt so, als hättest du überlegt, wie du es korrekt schreibst. sagt man da nicht, um in der völlig einfachen sprache zu bleiben eher "sie verzieht das gesicht"? oder sowas wie "sie heuchelt schmerzen" oder so?
alles in allem gefällt mir der text sehr sehr gut, denn er trifft mich völlig harmlos und irgendwo auch unbegründet, das find ich klasse!
liebe grüße
trix
heftig, perfekter tonfall, man fragt irgendwie "wieso erzählt sie das" andererseits will man mehr wissen, wie ein voyeur, da ist eine lust am lesen, neugierde, wertung bleibt völlig dem leser überlassen, man weiß am ende immernoch nicht "wieso steht das da", aber ist trotzdem irgendwie... befriedigt.
das ist zumindest mein eindruck.
ich finde einzig den ausdruck "sie verzieht ihre gesichtszüge" irgendwie komisch... das klingt so, als hättest du überlegt, wie du es korrekt schreibst. sagt man da nicht, um in der völlig einfachen sprache zu bleiben eher "sie verzieht das gesicht"? oder sowas wie "sie heuchelt schmerzen" oder so?
alles in allem gefällt mir der text sehr sehr gut, denn er trifft mich völlig harmlos und irgendwo auch unbegründet, das find ich klasse!
liebe grüße
trix
Hallo Gabriella,
ich meine das gleiche wie Noel und füge hinzu: Diese Stilrichtung gefällt mir grundsätzlich, -- inhaltlich und sprachlich. Die Lebensgeschichte beginnt bizarr, verwandelt sich dann langsam zu einer "etwas normaleren" Ungewöhnlichkeit, und endet bizarrer als sie begann; das Ende ist vielleicht fast zu grotesk, aber das muss es auch sein, gerade so am Limit, -- außerdem wird mit dieser finalen Extreme auch der runde Kreis wieder geschlossen.
(Habe zwei Sachen aus meinem Leben wiedererkannt: Zuviel Fruchtwasser geschluckt, Magen ausgepumpt, daher Wasserangst, die erst nach 13 Jahren, beim Schwimmen an einer Felsenküste, abgeschaltet wurde -- und Chipskaufen auf dem Pausenhof, wobei ich jedoch nicht dick wurde.)
Kleinigkeiten:
Doch Jules Gewicht steigt in dem Maße, in dem ihre Mutter ihre Mahlzeiten reduziert.
Der Satz geht vielleicht noch eleganter?
(Vor "Herbst 1990" noch ein Absatzzeichen.)
Ahoi
Pjotr
P.S.: Mein Kommentar hat sich mit dem von Trixie überschnitten. Ich meine auch, "sie verzieht das Gesicht" wäre besser. Oder: "sie verzerrt ihr Gesicht".
ich meine das gleiche wie Noel und füge hinzu: Diese Stilrichtung gefällt mir grundsätzlich, -- inhaltlich und sprachlich. Die Lebensgeschichte beginnt bizarr, verwandelt sich dann langsam zu einer "etwas normaleren" Ungewöhnlichkeit, und endet bizarrer als sie begann; das Ende ist vielleicht fast zu grotesk, aber das muss es auch sein, gerade so am Limit, -- außerdem wird mit dieser finalen Extreme auch der runde Kreis wieder geschlossen.
(Habe zwei Sachen aus meinem Leben wiedererkannt: Zuviel Fruchtwasser geschluckt, Magen ausgepumpt, daher Wasserangst, die erst nach 13 Jahren, beim Schwimmen an einer Felsenküste, abgeschaltet wurde -- und Chipskaufen auf dem Pausenhof, wobei ich jedoch nicht dick wurde.)
Kleinigkeiten:
Doch Jules Gewicht steigt in dem Maße, in dem ihre Mutter ihre Mahlzeiten reduziert.
Der Satz geht vielleicht noch eleganter?
(Vor "Herbst 1990" noch ein Absatzzeichen.)
Ahoi
Pjotr
P.S.: Mein Kommentar hat sich mit dem von Trixie überschnitten. Ich meine auch, "sie verzieht das Gesicht" wäre besser. Oder: "sie verzerrt ihr Gesicht".
Liebe Mucki,
Diese arme Haut! Mein Mitgefühl wird besonders stark durch diesen lakonisch heruntergeratterten "Steckbrief".
Ich denke, das wäre guter Stoff, das hier Vorhandene quasi als Überschriftenmaterial zu nutzen bezw. Kapitelinhaltsangabe und einen großen Text draus zu machen.
Liebe Grüße
ELsie
Diese arme Haut! Mein Mitgefühl wird besonders stark durch diesen lakonisch heruntergeratterten "Steckbrief".
Ich denke, das wäre guter Stoff, das hier Vorhandene quasi als Überschriftenmaterial zu nutzen bezw. Kapitelinhaltsangabe und einen großen Text draus zu machen.
Liebe Grüße
ELsie
Schreiben ist atmen
Hallo Alle,
mir geht es wie wohl allen, mich fasziniert der Text durch seine Lakonik und Unausweichlichkeit. An einer einzigen Stelle wüsste ich aber gern ein bisschen mehr, und zwar was Jules "neues Gefühl" beim Einstechen der Spritze betrifft. Ich bin mir nicht sicher, was damit gemeint ist. Gefällt es ihr, zum Arzt zu gehen? Soll hier eine Art Münchhausensyndrom angedeutet werden? Hier fehlt mir ein ganz klein wenig Weiterführung.
(Dass der Arzt, der Allergien auf Übergewicht zurückführt, offensichtlich eine Vollpfeife ist, steht auf einem anderen Blatt.)
Bin beeindruckt.
Schönen Gruß von Zefira
(Ich bin mir nicht so sicher, dass die Wendung "verzerrt ihre Gesichtszüge" geändert werden sollte. Die Formulierung klingt gestelzt, aber gerade das verstärkt den Eindruck der Künstlichkeit, mit der Jule ihre Menses simuliert.)
mir geht es wie wohl allen, mich fasziniert der Text durch seine Lakonik und Unausweichlichkeit. An einer einzigen Stelle wüsste ich aber gern ein bisschen mehr, und zwar was Jules "neues Gefühl" beim Einstechen der Spritze betrifft. Ich bin mir nicht sicher, was damit gemeint ist. Gefällt es ihr, zum Arzt zu gehen? Soll hier eine Art Münchhausensyndrom angedeutet werden? Hier fehlt mir ein ganz klein wenig Weiterführung.
(Dass der Arzt, der Allergien auf Übergewicht zurückführt, offensichtlich eine Vollpfeife ist, steht auf einem anderen Blatt.)
Bin beeindruckt.
Schönen Gruß von Zefira
(Ich bin mir nicht so sicher, dass die Wendung "verzerrt ihre Gesichtszüge" geändert werden sollte. Die Formulierung klingt gestelzt, aber gerade das verstärkt den Eindruck der Künstlichkeit, mit der Jule ihre Menses simuliert.)
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Salut Mucki,
Mir hat der Text auch sehr gut gefallen, derlakonische Ton gefällt mir und ich finde, die Lücken brauchen nicht ausgefüllt zu werden, keine Ausführlichkeit würde das noch spannender oder erträglicher noch literarischer machen. So wie er da steht, als Mikrofiktion gefällt er mir.
Die Parallele zu "Pig" fällt mir auf.Die Parallele liegt in der Unerbittlichkeit, mit der das Symptom von den beiden Protagonisten aufgenommen wird, als handle es sich um eine Lebensafgabe, eine Verantwortung na Stekke derer, die keine Verantortung - keine An-Teil-nahme leisteten. Teilnehmen am Schicksal anderer bedeutet immer auch - ds Gewicht - die Last des andern mit übernehmen. Pig ist egozentrischer, fast selbstsicher. Dabei weiß man hier bei Jule mehr von der Entstehungsgeschichte dieser Nahrungsstörung. Bei Jule ist das Werden des runden Leibs noch zu sehen, bei Pig nur das Resultat.
Deine Geschichte nimmt den Leser mit. Darin besteht eventuell auch eine geringe Schwäche des Texts. Er rührt an die Gefühle, bewirkt Emmpfindsamkeit.
Und mich hat er schon berührt - nicht als Jule aber als Mutter ...
liebe Grüße
Renée
PS ich mache zur Zeit besonders viele Tippfehler, weil ich jetzt auch mit PC schreibe ...
Mir hat der Text auch sehr gut gefallen, derlakonische Ton gefällt mir und ich finde, die Lücken brauchen nicht ausgefüllt zu werden, keine Ausführlichkeit würde das noch spannender oder erträglicher noch literarischer machen. So wie er da steht, als Mikrofiktion gefällt er mir.
Die Parallele zu "Pig" fällt mir auf.Die Parallele liegt in der Unerbittlichkeit, mit der das Symptom von den beiden Protagonisten aufgenommen wird, als handle es sich um eine Lebensafgabe, eine Verantwortung na Stekke derer, die keine Verantortung - keine An-Teil-nahme leisteten. Teilnehmen am Schicksal anderer bedeutet immer auch - ds Gewicht - die Last des andern mit übernehmen. Pig ist egozentrischer, fast selbstsicher. Dabei weiß man hier bei Jule mehr von der Entstehungsgeschichte dieser Nahrungsstörung. Bei Jule ist das Werden des runden Leibs noch zu sehen, bei Pig nur das Resultat.
Deine Geschichte nimmt den Leser mit. Darin besteht eventuell auch eine geringe Schwäche des Texts. Er rührt an die Gefühle, bewirkt Emmpfindsamkeit.
Und mich hat er schon berührt - nicht als Jule aber als Mutter ...
liebe Grüße
Renée
PS ich mache zur Zeit besonders viele Tippfehler, weil ich jetzt auch mit PC schreibe ...
Hallo Gabriella,
gefällt mir sehr gut der Text. Natürlich musste ich automatisch an meinen Pig-Text denken und Renée hat die Paralellen ja schon angeführt.
Die Stärke des Textes ist einmal die Lakonie (die ja gar nicht so einfach ist, denn man muss als Autor ständig entscheiden, was man erzählt und was nicht), vor allem aber der Verzicht auf eine Psychologisierung von Jules Verhalten. Zwar schilderst du hier einen Lebenslauf, aber die wahren Gründe für Jules Verhalten werden nicht erklärt. Bzw. sie sind so absurd, dass man nur vergnügt den Kopf schüttelt. Letztendlich hatte Jules es einfach eilig. Eilig, das Leben hinter sich zu bringen. Mehr ist da nicht, und soetwas ist ja immer auf anregende Weise verstörend.
Wenn ich es mir recht überlege, wird Jule hier als Tier geschildert. Einmal, weil sie alles "auffrisst", zum anderen, weil alles, was sie tut, irgendwie instinktiv erscheint und der Text Jule keinerlei Reflexion ihres Verhaltens zubilligt.
Deswegen rührt er bei mir auch keinerlei Gefühle Jule betreffend. Sie ist ein abstraktes und absurdes Konstrukt. Aber gerade deswegen interessant.
Und wenn ich noch einmal auf den Pig Text zurückkommen darf: dein Text wird der "Sache" genauso wenig gerecht, wie Pig. Sie versuchen es aber auch nicht. Beide sind ein verzerrter Blick, dessen Reiz in seiner schrägen Perspektive liegt.
Gruß
Sam
gefällt mir sehr gut der Text. Natürlich musste ich automatisch an meinen Pig-Text denken und Renée hat die Paralellen ja schon angeführt.
Die Stärke des Textes ist einmal die Lakonie (die ja gar nicht so einfach ist, denn man muss als Autor ständig entscheiden, was man erzählt und was nicht), vor allem aber der Verzicht auf eine Psychologisierung von Jules Verhalten. Zwar schilderst du hier einen Lebenslauf, aber die wahren Gründe für Jules Verhalten werden nicht erklärt. Bzw. sie sind so absurd, dass man nur vergnügt den Kopf schüttelt. Letztendlich hatte Jules es einfach eilig. Eilig, das Leben hinter sich zu bringen. Mehr ist da nicht, und soetwas ist ja immer auf anregende Weise verstörend.
Wenn ich es mir recht überlege, wird Jule hier als Tier geschildert. Einmal, weil sie alles "auffrisst", zum anderen, weil alles, was sie tut, irgendwie instinktiv erscheint und der Text Jule keinerlei Reflexion ihres Verhaltens zubilligt.
Deswegen rührt er bei mir auch keinerlei Gefühle Jule betreffend. Sie ist ein abstraktes und absurdes Konstrukt. Aber gerade deswegen interessant.
Und wenn ich noch einmal auf den Pig Text zurückkommen darf: dein Text wird der "Sache" genauso wenig gerecht, wie Pig. Sie versuchen es aber auch nicht. Beide sind ein verzerrter Blick, dessen Reiz in seiner schrägen Perspektive liegt.
Gruß
Sam
Hallo Gabriella,
der Text liest sich schnell, voyeurhaft und spannend. Starke Bilder drin, die man seltsamerweise - doch nicht richtig sieht.
Vielleicht deshalb schätze ich ihn trotz gewisser "Nüchternheitsqualitäten" schwächer ein als die anderen Kommentatoren. Ich habe den Eindruck, hier besteht mehr SChein als Sein. Er berührt nicht wirklich. Auch nicht sozusagen im Unberührtsein.
Ach, wie soll ich das erklären...
Vielleicht so:
Sam sagt, der Text verzichtet auf Psychologisierung. Ich finde, das Gegenteil ist der Fall. Es findet eine Art Küchenpsychologie statt, der eine quasi (natur)wissenschaftliche Prämisse unterliegt, die (psychologische) Ursache und Wirkung auf eine so platte Weise unterstellt, dass ich das einfach alles nicht glaube(n kann). Ich kann die Person Jule nicht sehen, ich lese sie nicht, ich fühle sie nicht - ich glaube dem Text nicht. Jule wirkt so dumm und objekthaft, so ferngesteuert von dieser einen vermuteten Ursache (allen - selbstzerstörerischen - Übels) des Im-Klo-Geborenseins (oder Nicht-Gewolltseins), dass es mir eindimensional vorkommt. Flach. Die Person bleibt flach wie das Negativbild eines dieser Glitzerengels, die man früher sammelte: eine Oblate.
Ich fühle mich manipuliert: Mir wird suggeriert, da erzählt jemand ganz sachlich und nüchtern von einer tragischen, traurigen, furchtbaren Biografie - und jubelt mir gleichzeitig diesen ganzen auktorialen, pseudoobjektiven Psychokram unter. Das macht mich ärgerlich, denn ich habe ja keine weiteren Informationen - ich erfahre nichts von Jule. Ich sehe nur die Außenbetrachtung von Ursache und Wirkung und eine Art gespreizte Nüchternheit. Und jede Erfahrung sagt mir: So viel Macht hat kein einzelnes Ereignis über ein Menschenleben. Der fast schon religiös-fanatische Fatalismus hinter einer solchen Grundhaltung entlässt mich in Unglauben: Jule ist so und kann nicht anders und wird nie anders können, weil zum Zeitpunkt xy etwas schief lief. So funktionieren Menschen nicht, so funktionieren Gefühle nicht, keine Beziehungen, und so funktioneren auch Texte für mich nicht: die einer Person von vornherein keine Chance geben. Sie als Totgeburten inszenieren.
Als hätte der Erzähler sich so krampfhaft aus Emotionen rauszuhalten versucht, und dennoch nicht vermeiden können, die gängigen psychoerklärenden Klischees zu (be)nutzen, die, wenn ich mal so sagen-behaupten darf, uns allen Herzen und Hirne verstopfen. Pjotr z.B. ist sich so sicher, dass seine Schwimmunlust mit einem Trinken von Fruchtwasser zu tun hat, dass es für mich schon fast komisch klingt: das Entziffernwollen und -müssen der eigenen Macken. Als gebe es eine Ursache, oder mehrere, und wenn man die gefunden hat weiß man.
Ich glaube das nicht.
Der Text blinkt so aufdringlich mit dem Warnschild FRÜHKINDLICHES TRAUMA, dass ich mich genervt abwende.
Freud&Co. haben sicherlich ihre Verdienste, große Verdienste - aber sie habe auch viel neuen Aber- und Irrglauben in die Welt gesetzt und tun dies weiterhin.
Ein glaubhafter Text wäre das für mich, wenn man lesen könnte:
Die Mutter liebt Jule.
Die Mutter ist trotzdem hilflos.
Jule frisst.
Und mehr nicht. (Dann wär's wahrscheinlich langweilig, aber konsequent. Ich finde ohnehin die stärksten Texte nicht jene, die sich raushalten, durchgängig, weil das nie klappt, es ist immer die Lüge dabei, denn es erzählt ja doch immer einer, mit einer bestimmten Intention, und lässt weg. Da gefällt mir die aufrichtige Lüge besser, die das Involvierenwollen und -sein zum Thema macht, besser, auch wenn das altmodisch sein mag. Warum - das nur am Rande gefragt - haben diese pseudo-raushalte-Texte eigentlich immer noch so ne KOnjunktur? Das Pathos darf ja mittlerweile sogar wieder in die Musik, es muss nicht mehr alles furchtbar selbstironisch und intellektuell sein, scheint es - warum denn beim Schreiben? Was soll an Texten so toll sein, die mich und sich und alles Leben außen vor lassen?? Welche Angreifbarkeit soll vermieden werden - und warum?)
Wenn wirklich nur Beschreibung stattfände, ohne Ursachenzuschreibung. Dann stünde da ein gegenwartserfahrbarer Mensch zu lesen. Dann wär's wie gesagt, immer noch nicht mein Lieblingsgenre, aber glaubhaft. Stimmig. So jedoch bleibt er für mich Makulatur. Da sind schöne Sätze, die für mich leer bleiben. Unglaubwürdig. Unecht. Als gelte die Form mehr als der Inhalt. Eine schöne Hülle für nichts. So jedoch - und das ist in gewisser Weise eine Art Todesurteil - gibt es Jule für mich nicht. Sie ist ein Avatar. Sie existiert nicht. Ich kann es leider nicht besser erklären, tut mir Leid.
liebe Grüße
klara
der Text liest sich schnell, voyeurhaft und spannend. Starke Bilder drin, die man seltsamerweise - doch nicht richtig sieht.
Vielleicht deshalb schätze ich ihn trotz gewisser "Nüchternheitsqualitäten" schwächer ein als die anderen Kommentatoren. Ich habe den Eindruck, hier besteht mehr SChein als Sein. Er berührt nicht wirklich. Auch nicht sozusagen im Unberührtsein.
Ach, wie soll ich das erklären...
Vielleicht so:
Sam sagt, der Text verzichtet auf Psychologisierung. Ich finde, das Gegenteil ist der Fall. Es findet eine Art Küchenpsychologie statt, der eine quasi (natur)wissenschaftliche Prämisse unterliegt, die (psychologische) Ursache und Wirkung auf eine so platte Weise unterstellt, dass ich das einfach alles nicht glaube(n kann). Ich kann die Person Jule nicht sehen, ich lese sie nicht, ich fühle sie nicht - ich glaube dem Text nicht. Jule wirkt so dumm und objekthaft, so ferngesteuert von dieser einen vermuteten Ursache (allen - selbstzerstörerischen - Übels) des Im-Klo-Geborenseins (oder Nicht-Gewolltseins), dass es mir eindimensional vorkommt. Flach. Die Person bleibt flach wie das Negativbild eines dieser Glitzerengels, die man früher sammelte: eine Oblate.
Ich fühle mich manipuliert: Mir wird suggeriert, da erzählt jemand ganz sachlich und nüchtern von einer tragischen, traurigen, furchtbaren Biografie - und jubelt mir gleichzeitig diesen ganzen auktorialen, pseudoobjektiven Psychokram unter. Das macht mich ärgerlich, denn ich habe ja keine weiteren Informationen - ich erfahre nichts von Jule. Ich sehe nur die Außenbetrachtung von Ursache und Wirkung und eine Art gespreizte Nüchternheit. Und jede Erfahrung sagt mir: So viel Macht hat kein einzelnes Ereignis über ein Menschenleben. Der fast schon religiös-fanatische Fatalismus hinter einer solchen Grundhaltung entlässt mich in Unglauben: Jule ist so und kann nicht anders und wird nie anders können, weil zum Zeitpunkt xy etwas schief lief. So funktionieren Menschen nicht, so funktionieren Gefühle nicht, keine Beziehungen, und so funktioneren auch Texte für mich nicht: die einer Person von vornherein keine Chance geben. Sie als Totgeburten inszenieren.
Als hätte der Erzähler sich so krampfhaft aus Emotionen rauszuhalten versucht, und dennoch nicht vermeiden können, die gängigen psychoerklärenden Klischees zu (be)nutzen, die, wenn ich mal so sagen-behaupten darf, uns allen Herzen und Hirne verstopfen. Pjotr z.B. ist sich so sicher, dass seine Schwimmunlust mit einem Trinken von Fruchtwasser zu tun hat, dass es für mich schon fast komisch klingt: das Entziffernwollen und -müssen der eigenen Macken. Als gebe es eine Ursache, oder mehrere, und wenn man die gefunden hat weiß man.
Ich glaube das nicht.
Der Text blinkt so aufdringlich mit dem Warnschild FRÜHKINDLICHES TRAUMA, dass ich mich genervt abwende.
Freud&Co. haben sicherlich ihre Verdienste, große Verdienste - aber sie habe auch viel neuen Aber- und Irrglauben in die Welt gesetzt und tun dies weiterhin.
Ein glaubhafter Text wäre das für mich, wenn man lesen könnte:
Die Mutter liebt Jule.
Die Mutter ist trotzdem hilflos.
Jule frisst.
Und mehr nicht. (Dann wär's wahrscheinlich langweilig, aber konsequent. Ich finde ohnehin die stärksten Texte nicht jene, die sich raushalten, durchgängig, weil das nie klappt, es ist immer die Lüge dabei, denn es erzählt ja doch immer einer, mit einer bestimmten Intention, und lässt weg. Da gefällt mir die aufrichtige Lüge besser, die das Involvierenwollen und -sein zum Thema macht, besser, auch wenn das altmodisch sein mag. Warum - das nur am Rande gefragt - haben diese pseudo-raushalte-Texte eigentlich immer noch so ne KOnjunktur? Das Pathos darf ja mittlerweile sogar wieder in die Musik, es muss nicht mehr alles furchtbar selbstironisch und intellektuell sein, scheint es - warum denn beim Schreiben? Was soll an Texten so toll sein, die mich und sich und alles Leben außen vor lassen?? Welche Angreifbarkeit soll vermieden werden - und warum?)
Wenn wirklich nur Beschreibung stattfände, ohne Ursachenzuschreibung. Dann stünde da ein gegenwartserfahrbarer Mensch zu lesen. Dann wär's wie gesagt, immer noch nicht mein Lieblingsgenre, aber glaubhaft. Stimmig. So jedoch bleibt er für mich Makulatur. Da sind schöne Sätze, die für mich leer bleiben. Unglaubwürdig. Unecht. Als gelte die Form mehr als der Inhalt. Eine schöne Hülle für nichts. So jedoch - und das ist in gewisser Weise eine Art Todesurteil - gibt es Jule für mich nicht. Sie ist ein Avatar. Sie existiert nicht. Ich kann es leider nicht besser erklären, tut mir Leid.
liebe Grüße
klara
:-) Klara, Du kannst doch nicht meine private, spaßig gemeinte Randbemerkung (Wasserangst, Pausenhof-Chips) mit Gabriellas Text vermischen! Dazu noch falsch wiedergegeben: Ich hatte als Kind Wasserangst, das ist nicht Schwimmunlust. Dass die Ursache im Fruchtwasserschlucken und Magenauspumpen lag, war natürlich nur eine These. Ich bin mir darüber nicht sicher! In letzter Zeit liest Du zunehmend Sachen in meine Äußerungungen hinein, die gar nicht meinen Gedanken entsprechen. Ist das pure Lust am Kontrageben oder bloß Oberflächlichkeit? PjotrKlara hat geschrieben:Pjotr z.B. ist sich so sicher, dass seine Schwimmunlust mit einem Trinken von Fruchtwasser zu tun hat, dass es für mich schon fast komisch klingt: das Entziffernwollen und -müssen der eigenen Macken. Als gebe es eine Ursache, oder mehrere, und wenn man die gefunden hat weiß man.
P.S.: Klara, Du unterstellst dem Text Psychologisierung. Dabei ist in ihm keine einzige psychologische These oder Andeutung zu finden. Hier psychologisiert nur einer: der Leser.
Hi Pjotr,
es war nur ein Beispiel für die Psychologisierung, das du geliefert hast.
War nicht persönlcih gemeint, ehrlich. auch keine Lust an Kontra (wogegen??) Oberflächlich bestimmt.
Du schriebst
Dass das spaßig gemeint war, konnte ich nicht erkennen, aber jetzt, wo du es sagst... Naja, verstehe den Spaß nicht im Zusammenhang mit Jule, ist aber auch im Grunde egal für das, was ich sagen wollte.
herzlich
klara
es war nur ein Beispiel für die Psychologisierung, das du geliefert hast.
War nicht persönlcih gemeint, ehrlich. auch keine Lust an Kontra (wogegen??) Oberflächlich bestimmt.
Du schriebst
(Habe zwei Sachen aus meinem Leben wiedererkannt: Zuviel Fruchtwasser geschluckt, Magen ausgepumpt, daher Wasserangst, die erst nach 13 Jahren, beim Schwimmen an einer Felsenküste, abgeschaltet wurde -- und Chipskaufen auf dem Pausenhof, wobei ich jedoch nicht dick wurde.)
Dass das spaßig gemeint war, konnte ich nicht erkennen, aber jetzt, wo du es sagst... Naja, verstehe den Spaß nicht im Zusammenhang mit Jule, ist aber auch im Grunde egal für das, was ich sagen wollte.
herzlich
klara
PS
Wirklich??
Mag sein. Dann hab ich halt den Text nicht verstanden, alle finden ihn super, alles sind sachlich und begeistert, nur ich bin zu blöd.
Das akzeptier ich :)
Klara, Du unterstellst dem Text Psychologisierung. Dabei ist in ihm keine einzige psychologische These oder Andeutung zu finden. Hier psychologisiert nur einer: der Leser.
Wirklich??
Mag sein. Dann hab ich halt den Text nicht verstanden, alle finden ihn super, alles sind sachlich und begeistert, nur ich bin zu blöd.
Das akzeptier ich :)
Hallo Klara,
mit blöd hat das nichts zu tun, sondern einfach mit Lesevorlieben und dem, was man von Texten erwartet.
Mir ist ein solcher Text, der vom ersten Satz an schon klar ausdrückt, dass er mit der Realität nichts zu hat, sondern ein Konstrukt ist, lieber, als solche, die sich abmühen, die Realität 1:1 wiederzugeben. Da greifen nämlich bei der Art, wie man den Text aufnimmt weniger literarische oder ästhetische Gesichtspunkte, sondern nur die persönliche Erfahrung und man fragt sich weniger, ob das ein guter Text ist, sondern, ob das, was da geschrieben wurde, tatsächlich so geschehen könnte. Bei Gabriellas Text ist die Frage von vornherein obsolet und man kann, sofern man will, seine Freude haben an der Form und der Art, wie sie gefüllt wurde.
Gruß
Sam
mit blöd hat das nichts zu tun, sondern einfach mit Lesevorlieben und dem, was man von Texten erwartet.
Mir ist ein solcher Text, der vom ersten Satz an schon klar ausdrückt, dass er mit der Realität nichts zu hat, sondern ein Konstrukt ist, lieber, als solche, die sich abmühen, die Realität 1:1 wiederzugeben. Da greifen nämlich bei der Art, wie man den Text aufnimmt weniger literarische oder ästhetische Gesichtspunkte, sondern nur die persönliche Erfahrung und man fragt sich weniger, ob das ein guter Text ist, sondern, ob das, was da geschrieben wurde, tatsächlich so geschehen könnte. Bei Gabriellas Text ist die Frage von vornherein obsolet und man kann, sofern man will, seine Freude haben an der Form und der Art, wie sie gefüllt wurde.
Gruß
Sam
Blöd bin nur ich, Klara, nicht Du. Ich bin sogar dermaßen blöd, dass ich vermute, einige weibliche Leser identifizieren sich bei der Lektüre dieses Textes als Mutter. Abstrakte Schuldgefühle scheinen hochzukommen, ähnlich wie in einem Alkoholrausch, wo ein ganz zentraler Satz sich irgendwann aus dem Herzkern an die Oberfläche durch die Lippen schlängelt: "Die Mutter liebt Jule."
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