Er-Sie-Kleines

Max

Beitragvon Max » 31.08.2010, 19:23

Er

In seltenen Augenblicken mag er sich. Wenn ihm beim Duschen das Wasser auf die Haare prasselt, zum Beispiel, in einem dünnen Film über die Haare auf seinem Bauch läuft, seine Beine entlang, bevor es kreiselnd und gurgelnd im Abfluss verschwindet, liebt er es, einen Körper zu haben, der das empfinden, hören und sehen kann. Schon wenn er sich abtrocknet, wird das Gefühl schwächer und verschwindet beim Ankleiden in dem Maße, in dem sein Körper von Kleidung bedeckt wird. Dabei liegt es nicht an der Kleidung, sondern daran, dass ihn diese auf das Zusammentreffen mit anderen vorbereitet. Für die, so vermutet er, ist er eine Monstrosität, unbeholfen wie ein Wal an Land. Darum meidet er Spiegel und erschrickt, wenn er einmal aus Unachtsamkeit in eine spiegelnde Scheibe blickt. Er weiß, er ist eine Zumutung, und diese Zumutung ist für Frauen größer als für Männer und umso stärker, je mehr er sein Gegenüber mag. Darum, so glaubt er, stößt er Frauen ab, vor allem die, die er anziehend findet. Es gab eine Zeit, zu der er dachte, sie sei seine beste. Er hatte Gewicht verloren, fühlte sich manchmal leicht, etwa wie ein schlanker Wal, und machte eine Eroberung. Als er wieder an Masse zulegte, verlor er mit seinem guten Gefühl auch die Frau.


Sie

Als sie die Diagnose bekam, dachte sie an Schulfreundin, die seit ihrem achtzehnten Lebensjahr an derselben Krankheit litt und nun im Rollstuhl saß. Als wollte die Krankheit ihr beweisen, dass ihre Angst noch zu klein war, raubte sie ihr Anmut, Bewegung und Sprache. Sie lebt in den verborgenen Dimensionen. Ihr Körper stoffwechselt im Jetzt, schreit unartikuliert, isst Breiiges, kotet. Nur manchmal, wenn man ihr erzählt, wie sie früher war, wird ihr Blick klar. Und sie lacht.

Kleines
Wenn er sich erinnern können wird, wird er sich daran nicht erinnern können. Nicht an die Zeit, in der Wille und Körper eins waren. Wenn er weint, weint auch sein Geist. Wenn er sich freut, muss er rennen. Und wenn er rennt, freut er sich. Wenn diese Verbindung reißt, wird er klein wenig erwachsener sein.

Max

Beitragvon Max » 31.08.2010, 19:24

Sorry, dass icch zur Zeit so rar bin, ich bin auf einer Konferenz in Italien.

Liebe Grüße
Max

Sam

Beitragvon Sam » 07.09.2010, 15:49

Hallo Max,

eiegntlich kann ich zu deinem Text gar nichts schreiben, weil er in mir keine wirkliche Form annimmt. Dennoch spüre ich beim Lesen etwas, eine Stimme aus dem Hintergrund sozusagen, die ruft und behauptet, da ist noch viel mehr, als auf den ersten (oder zwieten oder dritten) Blick zu sehen ist. Und wie oft in diesen Fällen, fange ich an zu tippen und hoffe, dass mir beim Schreiben noch irgendwie eine Erleuchtung zuteil wird.

Der erste Teil "Er" passt sehr gut in die z.T. wohl gewollte aber auch ungewollte Thematik des Übergewichtes. Dabei stolpere ich schon über den ersten Satz "..er mag sich". Denn was darauf folgt, konzentriert sich auf das eigene Körpergefühl. Wenn ich sage: "ich mag mich nicht", dann beziehe ich das auf meinen Charakter und nicht auf meinen Körper, den ein paar Kilo weniger auch sehr gut täten.

Auf diesen, für mich etwas missglückten Einstieg, folgt aber etwas, dass mir sehr gefällt, denn hier wird eine klare Trennung beschrieben zwischen Eigenempfinden und Projektionsempfinden. Beim Duschen gehört der Körper ganz dem Ich, ist ein sensibeles Empfindungsinstrument, dessen Form unrelevant ist. Beim Ankleiden dann, also der Vorbereitung auf die Konfrontation mit Anderen, verliert sich dieses formunabhängige Körpergefühl, denn nun wird aus dem Empfindungsinstrument ein Präsentationsinstrument. Oder, um es anders auszudrücken, aus einem Empfänger emotionalen Inputs wird ein Sender auf rein visueller Basis. Das finde ich ich sehr eindrücklich, und um den Vergleich zwischen Gabriellas und meinem "Dicken-Text" anzustellen, erstmalig eine Aussage oder Schilderung, die der "Sache" wirklich gerecht wird (und es mich irgendwie wundert, dass diejenigen, die genau dies bei besagten Texten vermisst haben, hier jetzt nicht laut werden und ihre Zustimmung kundtun). Zumal gegen Ende des Er-Absatzes jene Vermischung von Eigen- und Fremdwahrnehmung geschildert wird, die wohl das ureigenste Problem der Fettleibigkeit darstellt.

Der zweite Teil nun ändert völlig seine Richtung. Hier geht es um eine (ohne das andere abwerten zu wollen) tatsächliche Krankheit, die eine körperliche Deformation mit sich bringt, welche unabänderlich erscheint. Ich und Körper müssen hier getrennt werden, der körperlicher Zustand im Jetzt ist eine solche Belastung für das Ich, dass nur die Erinnerung an das Vergangene ein wenig Erleichterung bietet. Nicht erwähnt, aber spürbar ist hier die Schuldlosigkeit an dem Zustand, die beim ersten Absatz nicht erkennbar ist.

"Kleines" erschliesst sich mir leider überhaupt nicht. Aber ich befürchte hier kommt dann doch soetwas wie eine Psychologisierung ins Spiel, vor allem durch den Schlusshalbsatz. Für mich allerdings so bezugslos, dass es verpufft.

So bleibt, auch nach dem Schreiben dieses Kommentares für mich, dass der erste Abschnitt "Er" wirklich hervorragend, der zweite berührend, der dritte aber unentschlüsselbar ist.

Gruß

Sam

Max

Beitragvon Max » 09.09.2010, 22:44

Lieber Sam,

danke für Deine ausführliche Auseinandersetzung mit meinen Zeilen. Es geht mir wie so manches Mal: Ich staune, was man alles bei mir lesen kann ...

Ich muss ehrlich zu, dass ich Deinen und Gabriellas Text noch nicht kenne, weil ich zwei Wochen sehr beschäftiggt war und nur schnell auf Wunsch Lisas diese zeilen geschrieben habe.

Ich glaube mit der Interpretaion des ersten Textes liegst Du jedenfalls ziemlich richtig .. wobei es weniger eine Gewichtsfrage ist als eine der Selbsliebe. Auch beim zweiten Text würde ich Dir zustimmen. Ich glaube der dritte Text erschließt sich besser, wenn man die Texte hier nicht als eine Abfolge sondern als drei getrennte Texte sieht, die nur deshalb hintereinanderstehen, weil ich drei Fäden für zu aufdringlich hielt. Ich glaube, der Text psychologisiert recht wenig, er beschreibt (oder soll beschreiben) den Zustand des reinen, will sagen unreflektierten Handelns und basiert auf etwas, was ich gesehen zu haben glaube.

Liebe Grüße und herzlichen Dank
Matthias

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Beitragvon leonie » 09.09.2010, 23:00

Lieber Max,

ich meine genau zu verstehen, was Du mit dem dritten Text meinst. Es ist die Art wie Kinder bei sich selber sind, ohne dass irgendetwas auseinander fällt. Es hat mit dem "Sich-Bewusst-Werden zu tun, dass es irgendwann nicht mehr so ist. Glaube ich.

Du hast das schön eingefangen...

Liebe Grüße

leonie

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 09.09.2010, 23:33

Lieber Max,

ich konnte beim ersten Lesen schon alle drei Texte nachvollziehen (den ersten, ebenso wie Sam, am ehesten, aber das mag auch daran liegen, dass ich mich auch schon mal wie ein schlanker Wal gefühlt habe). Nicht gelungen ist mir, die drei Personen, die hier skizziert werden, irgendwie miteinander in Beziehung zu setzen. Wenn das gar nicht in Deiner Absicht liegt, solltest Du das vielleicht irgendwie deutlich machen. Ehrlich gesagt, dachte ich, ich sei wieder mal zu blöd zum richtigen Lesen :schwitz:

Er weiß, er ist eine Zumutung und diese Zumutung ist für Frauen größer als für Männer und umso stärker je mehr er sein Gegenüber mag


Ist das korrekte Zeichensetzung? Bin da nicht mehr auf dem Laufenden. Ich würde gern mindestens ein Komma drin sehen, zuerst hinter "stärker".

Starker Text, finde ich.

Schönen Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Sam

Beitragvon Sam » 10.09.2010, 15:19

Hallo Max,

das Psychologisieren fände m.E. auch nur dann statt, wenn die Texte in irgendeiner Weise zusammenhingen (wovon ich beim Lesen ausging). Betrachtet ihn man für sich, dann ergibt es, so wie Leonie das ja auch angemerkt hat, schon einen Sinn. Wobei man natürlich beim Nachdenken darüber doch wieder ins Psychologisieren verfallen könnte (auf welche Weise reisst die beschriebene Trennung? Ist das traumatisch? Wie wird es kompensiert etc.), was aber müsig ist, denn dass diese Trennung irgendwann, auf irgendwelche Weise stattfindet, ist unbestritten. Und wenn nicht...aber das ist dann schon wieder ein anderes (oder das gleiche?) Thema.

Gruß

Sam

Max

Beitragvon Max » 11.09.2010, 21:31

Hallo Sam,

bei mir reißt da nix ... also: die Trennung findet anscheinend natürlich, will sagen, bei den meisten statt. Man kann sich selbst eben nicht dadurch spontan froh stimmen, indem man losrennt ... funktioniert jedenfalls selten. Das heißt nicht, dassman Schaden genommen hat, sondern nur, dass es eben nicht geht ;-).

Wie gesagt, es war rein beobachtend gemeint ..
Falls ich Verwirrung gestift habe, indem ich die drei Texte in einen Faden geschustert habe - sorry. War keine Absicht.

Liebe Grüße
Max

Max

Beitragvon Max » 11.09.2010, 21:39

Oh, das sind ja noch zwei Kommentare:

Danke, Leonie, es freut mich, dass die Beobachtung vielleicht nachvollziehbar ist :-)

Liebe Zefi, ich glaube auch, dass der "er" -text per Konstruktion näher ist als die anderen beiden, die nur schauen, statt zu fühlen. Wie gesagt hängen die drei nur über das gemeinsame Thema zusammen.

Um die Kommata kümmer ich mich mal schnell.

Liebe Grüße
Max

Sam

Beitragvon Sam » 12.09.2010, 08:15

Hallo Max,

bei mir reißt da nix


im Text heißt es aber, dass die Verbindung reißt. ;-)

Aber ich verstehe, was du meinst und es auch nachvollziehbar, sieht man wirklich alle drei Texte vollständig voneinander getrennt, bzw. nur durch das Thema Körper zusammengehalten (was ich i.Ü. überhaupt nicht schlecht finde. Es ist vermutlich einfach der automatische Reflex, der einen als Leser dazu bringt, die Dinge miteinander in Beziehung zu setzen. Das erinnert mich an meinen Einstandstext hier im Salon - zehn Menschen - mit Episoden, die ja auch völlig zusammenhanglos waren. Aus den Kommentaren konnte man aber gut ersehen, dass viele Leser versucht haben, einen Zusammenhang zu finden.)

Aber wie dem auch sei, mir gefällt der Text als Ganzes sehr gut.

Gruß

Sam


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