Beitragvon Sam » 17.09.2010, 16:10
Hallo carl,
einen faszinierenden, vielschichtigen und sehr anspruchsvollen Text hast du da eingestellt, und von dem Moment an, als ich ihn heute morgen das erste Mal las, ging er mir nicht mehr aus dem Kopf. Das Geschilderte hat sich widerspruchsfrei in fesselnden und plastischen Bildern auf mich als Leser übertragen, und so ist der erste Gedanke auch gewesen: Da weiß einer sehr genau, was er da beschreibt - sei es, weil er es persönlich kennt oder eben sehr gut recherchiert hat.
Nun würde man dem Text aber nicht gerecht werden, reduzierte man seine Beurteilung nur auf den Faktor der Authentizität oder auch nur auf den anderen, ebenfalls sehr bemerkenswerten Aspekt der Vermischung von Traum und Realität, Psychologie und Esoterik.
Diese Dinge als gegeben und sehr gekonnt umgesetzt annehmend, drängt es mich als Leser, dem Text noch weiter auf den Grund zu gehen (die Krux bei so guten Texten: Man hat das Bedürfnis ihnen so richtig auf den Leib zu rücken).
Ein Umstand, den die Art der Erzählung mit sich bringt, ist, dass man dem Erzählten nicht ganz trauen kann. Es erscheint anfangs klar, dass die kursiv gesetzten Passagen die Traum- bzw. Erinnerungssequenzen sind (die nicht wirklich voneinander unterschieden werden können), aber gerade der Schluss reißt diese optische Grenze ein, den er ist selbst eine Art Traum, er ist nicht mehr Wirklichkeit. Höchstens geänderte Wirklichkeit, und damit eben doch wie ein Traum. Eigentlich könnte alles ein Traum sein, oder auch die Träume Realität. Die Brücke dazu wird im Text selber gebaut, indem der Protag Wahr-Träume hat. Diese unterscheiden sich von den, wie gesagt wird, unlogischen Abfolgen wirrer Bilder der normalen Träume. Hinsichtlich des Endes könnte man sogar sagen, dass der Protag sich eine neue Wirklichkeit erträumt hat (was mich an die kreisrunden Ruinen von Borges denken lässt, allerdings mit umgekehrten Ende und ohne die Intention des Erträumens).
Der Leser jedenfalls steht nicht wirklich auf festen Boden, was die Geschichte betrifft, auch wenn ihm dessen optische Aufmachung dies suggeriert. Als Beweis dafür kann man auch das Amulett selber anführen, welches ja Titelgebend eine Hauptrolle spielt. Es wird von Sylvie gefunden, aber die Übergabe von Mutter an den Sohn erfolgt in einer Traumsequenz. Ebenfalls in einer solchen Passage bemerkt es der Protag zum ersten Mal. Und erst im Laufe der Geschichte bekommt das Amulett ein "Gesicht" (einer der vielen wirklich gekonnten Kleinigkeiten im Aufbau des Textes). Ein Löwengesicht, was den Alten vom Berg mit dem Amulett verschmelzen lässt.
Was also ist das Amulett? Ein pfeiferauchender Löwenmann, der senil-sympathisch vor sich hinplappert und nebenbei Wunder wirkt? Nein, es ist ganz einfach eine Droge. Eine Droge, die die Realität verändert, aufdass der Traumatisierte sich mit der Welt versöhnen kann, auch wenn ein asmathisches Lachen als (warnendes, drohendes?) Hintergrundrauschen verbleibt.
Du siehst carl, ich versuche gerade das für mich beim ersten Lesen unsägliche und völlig unbefriedigende Ende für mich zurechtzubiegen. Nähme ich die Geschichte so, wie sie oberflächlich erscheint, würde mir das Ende die Freude am ganzen Text vergällen. Das Ganze erschiene mir als Apoteose esoterischen Denkens. Wunder und Magie als heilendes Element. Mit eingebauter Bekehrungsgeschichte, denn der Erzähler belächelt ja am Anfang Sylvie und ihre Schamanenschwestern, am Ende aber umfasst er das Amulett und hat eine Heimat gefunden. Das will ich einfach nicht glauben. Und kann es angesichts des Textes auch nicht wirklich. Warum z.B. dieses, eigentlich fremdartig aus dem Duktus des Textes herausstechende, slapstikhafte Gerede des Alten bei seinem ersten Auftritt? Der Verweis auf die Muppet-Show? Hier sind doch wirklich nur Puppen am Werk, oder?
Am Ende des Nachdenkens übner diesen wirklich nachdenkenswerten Text bleiben mir als Leser nur zwei Wege offen:
Entweder bin ich begeistert, über eine hervorragend geschriebene Geschichte, die sehr bildhaft den Weg eines mit PTBS belastenden Soldaten in die Drogenabhängigkeit schildert, oder ich bin in meiner anfänglichen Begeisterung über das glaubwürdige Setting der ganzen Erzählung einer Geschichte aufgesessen, die nur als Überbau für nebulöse Beschwichtigungsfantasien dient.
Das dritte wäre natürlich, dass ich den Text einfach nicht verstanden habe (was mir immer noch lieber wäre, als Variante Nummer zwei.)
Gruß
Sam