Meine Katze Angst

Sam

Beitragvon Sam » 09.10.2010, 18:45

Meine Katze Angst

Meine Angst ist eine Katze, die kommt und geht wann sie will.
Wie jetzt in der U-Bahn. Die Tür öffnet sich zischend und die Angst tippelt herein. Sie springt auf meinen Schoß und ich schließe die Augen. Meine Angst begrüßt mich mit Bildern.

Die dunkle Öffnung eines Gewehrlaufs. Ein schwarzes Loch, das deine Gedanken aufsaugt. Mit dem Lauf so dicht am Auge ist das Denken unmöglich. Es war nicht an dem Ort, wo sie uns mitnahmen, sondern drei Tage später auf dem Boot. Die zwei jungen Männer und ihre gelassene Sprachlosigkeit. Der eine das Gewehr auf den gekreuzten Beinen, der andere unentwegt auf uns zielend. Kein Spaß, auch nicht für sie. Humorlos wie das Platschen der Paddel im trüben Flusswasser. Die Absurdität der Situation lässt Überlegungen wie Harz tropfen. Man ist unfähig sein eigenes Ende zu Denken. Es geht nicht um dich. Deine Angst ist die Besorgnis um einen guten Freund. Um den Menschen, dem du seit seiner Geburt beim Leben zusiehst.

Eine Frau setzt sich neben mich. Sie riecht nach frisch geschälten Gurken und Schokolade. Eau de Cologne oder vielleicht Haarspray. Ihre blonden Strähnen glänzen zerbrechlich, als wären sie aus Glas.

Angst ist ein dreidimensionales Gefühl. Ein massiges Gebilde, eingegraben an einer bestimmten Stelle des Körpers. Andere Gefühle durchströmen dich. Nicht aber die Angst, die hat ihr Zuhause in der geografischen Mitte des Leibes und ist so konkret wie sexuelle Erregung. Und auf eine gewisse Weise mit ihr verwandt. Zwei Mal habe ich ejakuliert - aus Angst. Als sie dem Amerikaner vor unseren Augen die Zunge abschnitten. Und als sie ein paar Tage später Enrico erschossen. Es lief einfach heraus aus meinem schlaffen Penis. Danach Brennen im Schritt, stundenlang, wie Schweiß in den Augen.

So waren diese Tage: Angst und Schmerz kämpften um die Herrschaft über dich. Manchmal ließ die Angst sich verjagen, wie man eine Katze verjagt, die ihre Krallen am Sofa wetzen will. Zwar wusste man, sie kommt zurück, aber ein paar Minuten alleine mit seinem Schmerz waren wie ein tiefer Schlaf.

Die Angst bleibt dir wie eine Tätowierung. Doch sie verändert sich, wenn die eigentliche Gefahr vorbei ist. Wird vom Nebel, der sich in die Landschaft krallt, zu einem, die Hitze des Tages stundenweise unterbrechenden tropischen Regen. Sie schlägt dir unverhofft ins Gesicht, wie eine zornige Frau. Als ich zwei Monate später in Frankfurt landete und die Leute im Flieger nach der Landung applaudierten. Maschinengewehrsalven. Eine Patrouille der Armee kreuzt zufällig unseren Weg. Jemand hat eine Fernbedienung für deinen Kopf und schaltet um auf ein Programm mit Standbildern. Das ewige Grün lässt dich würgen und schnaufen.

Ein Mädchen setzt sich mir gegenüber. Aus ihrer Stofftasche holt sie ein Buch und beginnt zu lesen. Sie hat dünne Augenbrauen. Die Haut darunter ist rot und leicht geschwollen. Frisch gezupft, denke ich.

Lesen ist gut. Cees Noteboom schreibt in einem Buch, dass die Erinnerung ein Hund ist, der sich hinlegt wo er will. Das gefällt mir. Wie einen Hund kann man seine Erinnerung trainieren. Lesen ist die Hundeschule der Erinnerung. Meine Katze Angst aber ist eine launische Göttin, die sich nicht dressieren lässt.

Ich steige aus der Bahn und laufe neben der Rolltreppe die Stufen hinauf. Die Sonne scheint und verliert ihre Wärme an den kalten Wind. Die Katze ist in der U-Bahn geblieben. Die Bäume an der Straße sind kahl und wirken freundlich. Man kann bis zum Ende der Allee schauen. Nichts behindert den Blick, nirgends droht eine Überraschung. Ich laufe los und genieße die Geräuschlosigkeit meiner Schritte.
Die Katze findet allein nach Hause.
Zuletzt geändert von Sam am 11.10.2010, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 10.10.2010, 02:39

Moin Sam,

interessanter Text, meine ich. Besonders aufgefallen ist mir die Übereinstimmung zwischen Satz-Rhythmus und dem Angstgefühl; wie wir alle wissen, sind im Angstzustand Körper und Geist auf notwendigste Funktionen beschränkt, auf das wesentlichste geballt, und werden hochkonzentriert, fast staccato-artig, abgearbeitet. Dieser Takt klingt auch in den tendenziell kurzen Sätzen mit. Und Kommas werden zunehmend zu Punkte. Die Sätze sind einfach gebaut und überschaubar. Wie auf einer Checkliste. Das wirkt sehr echt.

Ein kleines handwerkliches Problem.

"Zwei Mal habe ich ejakuliert - aus Angst. Als sie dem Amerikaner vor unseren Augen die Zunge abschnitten."

Vor dem "Als" ein Punkt, damit die Präzisierung, die unerwartet danach kommt, noch überraschender "reinhaut". Das finde ich sehr gut.

Aber dann wird diese Methode wiederholt auf eine Weise, die mir irgendwie unflüssig erscheint:

"Sie schlägt dir unverhofft ins Gesicht, wie eine zornige Frau. Als ich zwei Monate später in Frankfurt landete und die Leute im Flieger nach der Landung applaudierten."

Hier hingegen funktioniert für mich das Punkt-Als grammatisch nicht. Vielleicht liegt das an dem "zwei Monate später". Dadurch wirkt das "als" wie eine Einleitung in einen neuen Gedankenabschnitt, und nicht wie eine Präzisierung der vorausgehenden All-Aussage. Außerdem ist auch der Zeitmodus hier anders als im obigen Beispiel mit der Zunge, wo vor und nach dem "Als" von Ereignissen die Rede ist. Dagegen ist im zweiten Beispiel nur die Landung ein Ereignis, während der Teil davor (schlägt dir) eine zeitlose Allaussage ist. Das zerreisst den grammatischen Zusammenhang noch mehr.

Ist aber nicht so wichtig, glaube ich.

Mehr fällt mir momentan nicht ein. Der Text sagt mir schon ziemlich alles, was es dazu zu sagen gibt.


Salve

Pjotr

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 10.10.2010, 12:42

Lieber Sam,

bis auf ein Komma zuviel:
Zwar wusste man, sie kommt zurück, aber ein paar Minuten alleine mit seinem Schmerz, waren wie ein tiefer Schlaf.


Die Idee, dass die Angst eine launische, kapriziöse Katze ist, die nach Belieben kommt und geht, und dass du anhand der Idee einen komplette Lebensgeschichte, inkl. Kriegstrauma daraus machst, kein Wort zu viel, keines zuwenig, Raum lassend für den Leser und für den Subtext, gefällt mir einfach so gut, dass ich überhaupt nix mäkeln kann (weil können kann man immer!) und mag.

Liebe Grüße
Elsa
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Sam

Beitragvon Sam » 10.10.2010, 13:14

Servus Pjotr,

es freut mich, dass für dich Inhalt und Sprache des Textes zusammengeht.

Was das handwerkliche Problem betrifft, werde ich darüber noch nachdenken. Im Moment meine ich, dass es passt. Auch im zweiten von dir angeführten Fall erfolgt eine Präzisierung. Die Angst schlägt unverhofft ins Gesicht, z.B. bei der Landung, als die Insassen anfangen zu applaudieren, was den Erzähler unwillkürlich an Maschinengewehrsalven denken lässt. Das zwei Monate später bezieht sich auf die vorangehenden Schilderungen der konkreten Angstsituationen, die dann abgelöst wurden, durch die unwillkürlichen.

Ich dank dir herzlich für deine Bemerkungen!


Hallo Elsa,

auch dir lieben Dank! Es freut mich natürlich sehr, dass dir der Text gefällt. Mäkeleien sind mir immer willkommen, aber ebenso der Verzicht darauf, wenn es für den Leser so passt, wie es da steht.

Das Komma werde ich herausnehmen (und es auf die Seite legen, denn normalerweise habe ich immer zu wenige davon ;-) ).


Gruß

Sam

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 10.10.2010, 14:12

(Das war mir schon klar, Sam, klar jedoch erst nachdem ich den Satz zu Ende gelesen hatte (applaudierten-Punkt.). Mir kam die Klarheit zu spät und störte daher den Lesefluss. Im ersten Beispiel hingegen war mir sofort klar, dass das "Als" eine Präzisierung des Vorhergehenden einleitet, die Gedankenkette blieb intakt.)

Sam

Beitragvon Sam » 10.10.2010, 15:41

Hallo Pjotr,

ich verstehe jetzt, was du meinst und denke weiter darüber nach.

Vielen Dank!


Gruß

Sam

Quoth
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Beitragvon Quoth » 10.10.2010, 18:07

Lieber Sam,
der Anfang des Textes lässt mich an einen U-Bahnfahrgast denken, der Angst vor einem Überfall in der U-Bahn hat. Das hätte ich gut nachvollziehen können, weil ich immer das Handy fester fasse, wenn irgendwelche Youngster in die Nacht-U-Bahn klabautert kommen.
Dann aber wird die U-Bahn-Situation zur bloßen Geborgenheits- und Kontrastplattform für ein greuliches Kriegstrauma. Was der U-Bahnfahrer da durchlebt, ist eine posttraumatische Belastungsstörung (vergleichbar mit der in Carls Afrikageschichte), die mehr ist als eine bloße Erinnerung - eben kein folgsamer Hund, sondern eine launische Katze. Verglichen mit dem Durchlebten sinken die Ängste unserer relativ (aber nur relativ!) geborgenen Bürgerlichkeitswelt zu lächerlichen Sorgen herab. Dies, meine ich, könnte in dem Text deutlicher werden: Dass auch ein U-Bahnfahrgast Ängste haben kann - aber wie das alles zunichte wird, wenn so eine PTBS hochsteigt und sich alles unterwirft. Der U-Bahnrahmen des Kriegstraumas bekäme dann etwas mehr Gewicht.
Hier ein Tippfehler: "Manchmal lies die Angst sich verjagen" - "ließ".
Gruß
Quoth
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 11.10.2010, 15:06

Hallo Sam,

kurze Frage: Hast du meinen Kommetar gestern noch gelesen, bevor er durch mein eigene Unfähigkeit (administrativer Fehler, siehe blauen Brett) verloren gegangen ist? Und wenn ja, soll ich trotzdem nochmal zusammenfassen? Entschuldige bitte das Durcheinander!

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Sam

Beitragvon Sam » 11.10.2010, 17:10

Hallo Quoth,

dein Kommentar lässt mich befürchten, dass mein Text schon leicht anachronistisch ist. Er entstand vor gut zehn Jahren, kurz nachdem ich aus Südamerika zurückgekehrt war. Dort hatte ich einige Jahre nahe der kolumbianischen Grenze gelebt. Entführungen waren zwar nicht an der Tagesordnung, aber es gab sie doch in einer solchen Zahl, dass man sich unweigerlich seine Gedanken darüber machte. In Deutschland mit der U-Bahn zu fahren, kam mir in Vergleich dazu doch sehr harmlos vor. Nachdem, was in den letzten Jahren aber so alles in U- bzw. S-Bahnen passiert ist, liegt der von dir angeführte Vergleich Alltagsangst/spezifische Angst nahe. Auch PTBS war damals noch nicht so aktuell, wie heute. Mir ging es darum, den Ton der Angst einzufangen und das Echo nachzubilden, welches sie hinterlässt, wenn die eigentliche Gefahr längst vorbei ist.

Vielen Dank für deinen Kommentar und auch den Korrekturhinweis. Lies/Ließ ist mein Lieblingsschreibfehler.


Hallo Lisa,

leider habe ich deinen Kommentar gestern nicht mehr gelesen. Daher würde ich mich sehr freuen, wenn du ihn nochmals zusammenfassen könntest.


Gruß

Sam

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 11.10.2010, 21:29

Lieber Sam,

das weiß ich nicht, ob du den so gerne lesen würdest :-), denn mich hat die Geschichte ausnahmsweise nicht überzeugt .~)

Ich hoffe, ich kriege das nochmal zusammen, was ich gestern zusammen gesponnen hatte:

Also, was es für mich problematisch macht, ist sowohl der Katzenrahmen für sich genommen, als auch sein Zusammenspiel mit dem Mittelteil ("Kriegtrauma"<-- ich klaue diesen Begriff jetzt einfahc mal von Quoth, auch wenn ich ihn etwas zu groß finde).

Das Katzenbild ist in sich stimmig, alle Bezüge gehen bezugslogisch ganz ohne Widerstand auf auf (bishin zum antipodischen Hund), aber es schafft nicht in die Tiefe zu wirken. Ich habe dies schon öfter beobachtet bei Bildern, die Tiere vermenschlichen - für mich banalsiert, verflacht sich die Aussage, die darin erzählt werden soll. Und dass gerade aus dem scheinbaren Vorteil, dass das Bild so eindeutig und sofort aufgehen zu scheint: gerade weil das Katzen-Bild so klar und einfach zu rezipieren ist, kann es mir meines Erachtens nichts von "Angst" erzählen. Für mich erschöpft sich die Struktur von Angst nicht in den eindeutigen Vokabeln, die der Katze unterstellt werden (nicht dressierbar, launisch...).
Den Mittelteil für sich genommen (soweit ich das beurtelen kann, ich kenne den Text ja nur als Ganzes) finde ich gut geschrieben. Allerdings wird er dann von dem Rahmen eingefärbt und da Texte, die sich mit solchen Ereignissen (ich nenn es mal "authentische Berichterstattungen" immer in der Gefahr schweben zu gewollt, parabelhaft oder dergleichen daherzukommen, so passiert durch den Rahmen meines Erachtens genau das mit deinem Text hier.
Ich kann eigentlich genau sagen, dass mir das nicht gefällt, was Elsa gerade als das Gelungene des Textes beschreibt:

Die Idee, dass die Angst eine launische, kapriziöse Katze ist, die nach Belieben kommt und geht, und dass du anhand der Idee einen komplette Lebensgeschichte, inkl. Kriegstrauma daraus machst, kein Wort zu viel, keines zuwenig, Raum lassend für den Leser und für den Subtext, gefällt mir einfach so gut, dass ich überhaupt nix mäkeln kann (weil können kann man immer!) und mag.


Gerade das lässt den Text dann so wirken, als sei er aufbereitet, zu leichte Kost...(obwohl ich weiß, dass du sicher als einer der letzten sowas im Sinn hast, aber es wirkt eben so auf mich).

Weiterhin stört mich dann noch als kleines Restdetail, dass durch die beiden dominanten Teile die U-Bahn als Szene beliebig wirkt (sie darf es ja ruhig sein, aber sie sollte nicht so wirken). Irgendwie fällt der Text für mich dann insgesamt nochmal auseinander. ich weiß auch, dass ich es etwas mächtig fand, dass zu Beginn dieser Katzenvergleich kommt und dann der Mittelteil - irgendwie wirkt das so angelegt, als spüre man, dass der Autor sich ein Setting überlegt hat für das, was er erzählen will (eine bestimmte Form von Angst).

Hm, ziemlich grundsätzlich meine Kritik...aber vielleicht gewinnen meine anderen schwelgenden Kommentare zu deinen texten so wenigstens etwas mehr an Glaubwürdigkeit :neutral: :smile:

liebe Grüße,
Lisa
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keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 12.10.2010, 09:10

hallo sam,


schon interessant, wie meine vorredner hier das gleiche unterschiedlich für sich werten.
ich persönlich finde hier ausgesprochen sinnvoll und richtig für die wirkung des textes über seine dinglichkeit hinaus, dass die U-bahn-szene "beliebig" wirkt. das impliziert für mich: auch andere situationen können mich triggern und die posttraumatischen bilder aufleben lassen. ich kann mich nie sicher davor fühlen. nirgendwo.

denn das ist, was entführungen mit den opfern machen - das grundvertrauen erschüttern, sich sicher fühlen zu können.
daher auch das bild der katze für die angst, die sich nicht lenken lässt. ja, nicht einmal vorhersehbar erkennen lässt, wann und wo sie plötzlich vom schmeicheltier zur albtraumhaften last wird, die drückt und den atem nimmt. bewegungsunfähig macht, wie sie da so auf dem schoß liegt und erst wieder geht, wenn es ihr passt....

ich find die metapher gut gewählt. vor allem, weil sie neu ist und von durchgängiger stimmigkeit.

auch den sprachfluss schätze ich hier sehr. nicht zu überdramatisierend, nicht zu fließend. das entspricht m.E. sehr der realität, wie "angst" "arbeitet". nicht im fluss und nicht im ewiggleichen rythmus. sonst könnte man sie vermutlich rascher und zuverlässiger kontrollieren.

insgesamt also hat mich dein text gepackt, eingewoben in sein stückchen innenwelt, das mit der außenwelt kollidiert, weil nichts mehr so ist wie "davor". ich hab ihn sehr gern gelesen. danke!


lieber gruß,

keinsilbig

Mucki
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Beitragvon Mucki » 12.10.2010, 10:24

Hallo Sam,

deine Idee, die Angst als eine Katze, die eine launische Göttin ist, die sich nicht dressieren lässt (tolle Formulierung, weil sie die Übermacht präsentiert!), darzustellen, finde ich großartig. Auch, wie du diese Katze vom LI Besitz ergreifen lässt, gefällt mir ausgesprochen gut.
Dieses Angstszenario, das LI überfällt, wann es ihm gefällt und dem LI sich nicht entziehen kann, beschreibst du sehr treffend. Einzig das Setting der U-Bahn passt da für mich nicht. Sicher, die Beliebigkeit dieses Ortes passt schon, jedoch fände ich es treffender, wenn sich Analogien auftäten zwischen U-Bahn-Setting und Kriegstrauma. Wenn da z.B. in der Beschreibung der Kriegsszenen ein Element der bedrückenden Enge auftauchte oder jemand in der U-Bahn einen Luftballon zerknallen lässt, der Knall das LI an die Gewehrschüsse erinnert, also ein verbindendes Glied zwischen U-Bahn und Kriegstrauma entsteht. Dann wäre dieser Passus entbehrlich:
Sam hat geschrieben:Wie jetzt in der U-Bahn. Die Tür öffnet sich zischend und die Angst tippelt herein. Sie springt auf meinen Schoß und ich schließe die Augen. Meine Angst begrüßt mich mit Bildern.
Wenn du, jetzt nur als Beispiel, das LI in die U-Bahn einsteigen lässt, Fahrgäste beschreibst, ganz harmlos und ein Kind mit einem Ballon spielt, der dann zerknallt und dann weiterschreibst: Die dunkle Öffnung eines Gewehrlaufs ....

Also nicht erklären, sondern geschehen lassen.
Dadurch wäre es für mich schlüssiger. Vor allem würde das auch den Boden festigen für die Tatsache, dass die Angst verschwindet, als LI die U-Bahn verlässt.

Saludos
Gabriella

Yorick

Beitragvon Yorick » 13.10.2010, 11:15

Hallo Sam,

mir ergeht es ähnlich wie Lisa.

Zuerst hat mich das Bild der *launischen* Katze interessiert. Aber als der Text vorbei war, habe ich das Bild nicht in Deckung mit Angst bekommen.

Ich empfinde die Zuwendung einer Katze als sehr angenehm, ich fühle mich geehrt und wohlig. Vielleicht könnte also das Bild der Katze auch so gemeint sein, dass die Angst vom Prot als angenehm empfunden wird. Aber dafür finde ich keine weitere Unterstützung im Text, meine ich. Bis vielleicht auf die Angstejakulation (wusste gar nicht, das es das gibt)- auch hier löst die Angst scheinbar angenehmes aus; aber dann eben doch nicht, sondern vornehmlich Schmerz.
So bleibt bei mir die Diskrepanz zwischen dem *wohligen* Bild der Katze und meinem Gefühl von Angst, welches ich nicht im Text aufgelöst finde.

Sam hat geschrieben:Lesen ist gut. Cees Noteboom schreibt in einem Buch, dass die Erinnerung ein Hund ist, der sich hinlegt wo er will. Das gefällt mir. Wie einen Hund kann man seine Erinnerung trainieren. Lesen ist die Hundeschule der Erinnerung. Meine Katze Angst aber ist eine launische Göttin, die sich nicht dressieren lässt.


Das finde ich ganz spannend. Mit den Sätzen nach dem Zitat wird eigentlich das Zitat bestritten, eben nicht wo der Hund will, sondern der Herr. Bewusste selektive Erinnerung könnte das bedeuten. Und das Lesen? Schule der Erinnerung. Ich bin mir nicht sicher.
Aber: Die Angst des Prot besteht ja letztlich aus Erinnerungen (an die grausamen Vorfälle. Jetzt: U-Bahn, keine Gefahr). Somit müssten sich diese wie ein Hund trainieren lassen - und auch bannen. Jetzt lässt sie sich aber nicht bannen, sondern ist launisch wie eine Göttin. Das berührt jetzt das zentrale Bild des Textes, die Katze. Nun habe ich das Gefühl, der Prot widerspricht sich selbst auf engsten Raum, und ggf. auch den angeführten Noteboom. Und dann steige ich aus, weil ich nichts mehr glaube, was mir erzählt wird.

Den Strang mit den traumatischen Erlebnissen habe ich als sehr skizzenhaft wahrgenommen. Für mich zu wenig, um lebendig zu werden, zuviel um als Kulisse zu dienen.

"Es war nicht an dem Ort, wo sie uns mitnahmen, sondern drei Tage später auf dem Boot."

Das stellt mich auf mehr Informationen, mehr Geschichte ein, denn es verweist auf so vieles. Was ist das für ein Ort gewesen, warum wird er erwähnt, warum wird das Boot erwähnt, warum die Zeitspanne. Nur die beiden jungen Männer reichen eigentlich für die Szene, wenn jetzt mehr angedeutet wird, warte ich auch auf mehr.

Der Absatz mit den Angstejakulation hat mich am meisten angesprochen, auch weil ich hier etwas von deinem "Erzählton" gefunden habe, den ich so sehr mag.

Grüße,
Yorick.

Quoth
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Registriert: 15.04.2010
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Beitragvon Quoth » 13.10.2010, 11:53

Hallo, Sam,
ja, die zehn Jahre, die vergangen sind, liest man dem Text an. Es hat die Anschläge auf U-Bahnen gegeben, die Überfälle - und eine Spielfilmszene, den stillen U-Bahnmord mit der Fahrradspeiche in "Tsotsi" (2005). Du würdest das heute anders schreiben! Vielleicht täte es dem Text gut, ihn zeitlich zu fixieren!
Gruß
Quoth
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