TdM (Angst): Drei Wünsche

Yorick

Beitragvon Yorick » 21.10.2010, 22:10

Drei Wünsche

2. Fassung

Manchmal wünsche ich mir, mein Vater hätte gesoffen. Dass er wankend und fluchend in der Nacht nach Hause gekommen wäre, seine Schuhe in die Ecke gepfeffert und wütend nach mir gebrüllt hätte, ich solle ihm helfen, ins Bett zu kommen. Und wenn ich nicht schnell genug da gewesen wäre, dann hätte er ausgeholt und mir mit seiner rauen Hand eine Backpfeife verpasst, dass ich quer durch das Zimmer geflogen wäre.
Doch ich sehe meinen Vater, wie er an meinem Bett sitzt mit müden Augen, sprachlos. Ich möchte meinen Kopf an seine Schulter lehnen, möchte, dass er seine Arme um mich legt, und doch liege ich mit verkrampften Zehen in meinem Bett, bis er endlich aufsteht, mir eine gute Nacht wünscht und das Licht ausschaltet. In der Dunkelheit meine ich ihn noch immer dort sitzen zu sehen, mit gierig vorgebeugtem Kopf, als ob er die Wärme meines Körpers einatmen wolle.

Manchmal wünsche ich mir, meine Mutter hätte mit Zigarette und Lockenwickler am Herd gestanden und Bourbon getrunken. Dann hätte sie mir erzählt, dass sie gerne Schauspielerin geworden wäre, aber als ich geboren wurde, musste sie sich um mich kümmern. Und wenn es an der Tür geklingelt hätte, dann wäre sie mit dem Postboten oder dem Klempner oder dem Versicherungsvertreter im Schlafzimmer verschwunden und ich säße noch auf dem Stuhl in der Küche und hörte ihr Stöhnen.
Aber meine Mutter hielt das Haus sauber, und wenn sie sich nach getaner Arbeit hinsetzte und aus dem Fenster schaute, als warte sie auf eine erlösende Botschaft, kam ich zu ihr und legte meinen Kopf auf ihren Schoß. Dann drückte sie mich fest an sich und ich spürte ihr Herz, das im Einklang mit meinem zu schlagen schien. „Du bist mein lieber Junge“, hauchte sie mir dann ins Ohr, „wir gehören doch zusammen“. Und ich schwor mir im tiefsten Innern meiner Kinderseele, sie niemals zu verlassen und immer zu beschützen.

Manchmal wünsche ich mir, meine Eltern hätten sich gestritten, dass die Fetzen fliegen. Dass mein Vater gebrüllt und meine Mutter mit Geschirr nach ihm geworfen hätte. Rasend vor Wut wäre sie schließlich mit dem Brotmesser auf ihn losgegangen, und er hätte seine Hände um ihren Hals geschlungen und sie gewürgt, bis sie ohnmächtig geworden wäre.
Aber es war nur das Geräusch des Umblätterns da, Seite für Seite, Seite für Seite. Meine Mutter mit einem Buch auf dem Sofa, mein Vater im Sessel. Gedankenverloren, als spräche sie zu einem schwebenden Wesen im Raum, sagt meine Mutter: „Ich wäre gerne mal wieder verliebt.“ Mein Vater blättert eine Seite um. Liest – und fast nebenbei: „Ja. Ich auch.“ In der Sekunde des Erschreckens begegnen sich kurz ihre Blicke, voller Scham voreinander, um dann im nächsten Augenblick in betäubendem Schweigen zu versinken. Und ich auf dem Teppich davor, mit meinem Lastwagen in der Hand und dem Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und nicht zu wissen warum.

Wenn mich die Kraft verlässt, Lärm zu machen, wenn ich hören kann, wovon mein Körper mir erzählt, dann ahne ich, dass meine Wünsche schon längst in Erfüllung gegangen sind. Dass die Angst, die ich fühle, die Wahrheit ist – und keine grausamen Lügen braucht, um wirklich zu sein.


1. Fassung
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Zuletzt geändert von Yorick am 02.11.2010, 09:40, insgesamt 1-mal geändert.

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leonie
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Beitragvon leonie » 21.10.2010, 23:50

Lieber Yorick,

das ist ein herausragender Text, finde ich. Nur den letzten Teil bräuchte es für mein Empfinden nicht, Denn eigentlich nimmt er dem Leser die Aufgabe ab und löst auf.
Es ist an dem ein oder anderen "das" ein "s" zu wenig, das fiel mir beim Lesen auf...

Ansonsten, beklemmend, scheinbar heile Welt,, doch darunter schwelt es, reißen die Abgründe auf...

Liebe Grüße

leonie

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 22.10.2010, 00:29

Bin völlig einer Meinung mit Leonie. Der Absatz, der mit dem Geräusch des Umblätterns beginnt, hat mir den Atem verschlagen - mit diesem Absatz würde ich den Text enden lassen.

Nachtgruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Gerda

Beitragvon Gerda » 22.10.2010, 09:29

Lieber Yorick,

ich lese deine Geschichte wie folgt: Du beschreibst die Angst eines Kindes aus der Erwachsenensicht, die Angst eines Jungen, der gefühlt hat, dass in der Beziehung seiner Eltern nichts gestimmt und der deshalb Angst entwickelt hat.
Als Erwachsener trägt er diese Angst weiter mit sich herum.

Ich finde es ist immens schwer in einem solchen Fall glaubhaft zu erzählen, denn es ist der Erwachsene der rückschauend reflektiert und wertet, der seine Eltern mit Abstand betrachtet, und sich wünscht sie hätten anders miteinander umgehen, ja anders sein sollen.

Auf mich wirkt die Geschichte nicht unheimlich, sondern seltsam steril, es fehlt ihr m. M. n. an Lebensechtheit. Ich kann die Angst des Erwachsenen nicht nachempfinden, bestenfalls eine gewisse Desorientierung.
Auch die Angst des Kindes ist für mich nicht spürbar, ich kann sie höchstenfalls am Satz festmachen, in welchem dem Jungen die Luft wegbleibt.

Das heißt natürlich nicht, dass sich Angst in einer solchen Situation nicht entwickele.
Genau diese Angst suche ich aber vergeblich im Text und um die sollte es thematisch gehen.
Insofern kann ich leider die Begeisterung meiner beiden Vorkommentatorinnen nicht teilen.

Geschrieben ist der Text der Text einwandfrei, sowohl stilistisch als auch grammatisch.

Liebe Grüße
Gerda

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 22.10.2010, 09:57

Liebe Gerda und andere,
dann will ich auch erklären, wie ich den Text lese: Ich sehe die Bemühung eines Erwachsenen, dem Gefühl einen Namen zu geben, das er als Kind hatte - und das Scheitern. Er erinnert sich an ein Unbehagen, weiß aber nicht, wie er es benennen soll und warum er es überhaupt hatte. (Daher sein Wunsch, wirklich krass unzureichende Eltern gehabt zu haben - dann hätte er nämlich einen erkennbaren Grund für sein Gefühl.)
Die merkwürdige Unbeholfenheit im Ausdruck, die der Text ausstrahlt, ist für mich Programm. Sie ist Teil der Hilflosigkeit, die der erwachsene Erzähler empfindet, weil er jetzt genausowenig wie früher eine Verbindung zu seinem ängstlichen Selbst findet. Ich sehe eher dies als eigentliches Thema des Textes an, weniger die Kinderangst selbst.

Schönen Tag wünscht Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.10.2010, 12:32

Hallo Yorick,

Wut ist eine Emotion, eine der größten wohl überhaupt. Ebenso die Fähigkeit, lieben zu können, den Partner betrügen zu können, dies bereuen zu können, sich versöhnen zu können, etc. etc. Du beschreibst die völlige Emotionslosigkeit der Eltern des LI, die soweit geht, dass sogar der Satz "Ich wäre gerne mal wieder verliebt" und die Antwort des Vaters "Ja. Ich auch." schnell "weitergeblättert" wird. Sprich, die beiden lieben sich nicht (mehr). Sie sprechen nicht miteinander, sie entwickeln keinerlei Streitkultur miteinander, es gibt keine Träume bei der Mutter. Im Gegenteil, das Kind kommt und tröstet die Mutter. Die Rollen sind vertauscht. Alles ist monoton. Das Leben ist wie ein ständiges, einfaches Umblättern von einer Seite zur nächsten, abgestumpft. Da ist nichts. Keinerlei Wärme geht von den Eltern aus. Und dieses Nichts lässt beim Kind das Gefühl des Erstickens entstehen. Das LI wünscht sich rückwirkend, vom Vater geschlagen, angebrüllt zu werden. Es sehnt sich nach Emotion seitens der Eltern zum LI selbst und nach Emotionen zwischen den Eltern. Es wuchs in einer sprachlosen, emotionslosen Welt auf. Und hieraus ergibt sich für mich, dass LI selbst keine Emotionen zeigen kann. Es kann nicht streiten, nicht lieben, nicht schreien und hat deshalb dieses Erstickungsgefühl in sich, aus dem es sich nicht befreien kann. Und es kann sich auch nicht von den Eltern lösen. Da ist eine sehr große Ohnmacht beim LI. So lese ich deine Zeilen. Für mich kommt das sehr stark heraus, ohne, dass es explizit erwähnt werden muss.
Yorick hat geschrieben:Und ich auf dem Teppich davor, mit meinem Lastwagen in der Hand und dem Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und nicht zu wissen warum.

Mit diesem Satz würde auch ich den Text enden lassen. Den letzten, analytischen Absatz braucht es gar nicht mehr.
Ein paar peanuts:
Yorick hat geschrieben:Das er wankend und fluchend

Dass
Yorick hat geschrieben:ich solle ihm helfen ins Bett zu kommen.

Komma nach "helfen"
Yorick hat geschrieben:und wenn sie sich nach getaner Arbeit hinsetzte und aus dem Fenster schaute als warte sie auf

Komma vor "als"
Yorick hat geschrieben:ins Ohr, „wir gehören doch zusammen“.

... doch zusammen."
Yorick hat geschrieben:Und ich schwor mir im tiefsten Innern meiner Kinderseele sie niemals zu verlassen und immer zu beschützen.

Komma nach "Kinderseele"
Yorick hat geschrieben:meine Eltern hätten sich gestritten das die Fetzen fliegen.

meine Eltern hätten sich gestritten, so dass die Fetzen fliegen.
Oder auch:
meine Eltern hätten sich gestritten, das die Fetzen fliegen. (Ein Komma muss da hin)
Yorick hat geschrieben:Das mein Vater gebrüllt

Dass
Yorick hat geschrieben:Rasend vor Wut wäre sie schließlich mit dem Brotmesser

Komma nach "Wut"
Yorick hat geschrieben:um dann im nächsten Augenblick im betäubenden Schweigen zu versinken.

in betäubendem Schweigen
Yorick hat geschrieben:Sie hätte einen Grund da zu sein.

Komma nach "Grund"
Yorick hat geschrieben:Wenn mich die Kraft verlässt Lärm zu machen

Komma nach "verlässt"
Yorick hat geschrieben:Das ich die falschen Geschichten nicht mehr

Dass
Yorick hat geschrieben:Das die Angst, die ich fühle, die Wahrheit ist – und keine grausamen Lügen braucht um wirklich zu sein.

Dass die Angst ... und Komma nach "braucht"

Saludos
Gabriella

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Beitragvon leonie » 22.10.2010, 12:56

Nun ein wenig ausführlicher:

Ich denke, es geht hier um die Unterschwelligkeit der Emotionen, die hinter dem liegen, was gezeigt wird und dem auch völlig widersprechen.
Das Kind hat dadurch keine Klarheit, an der es sich orientieren kann. Es spürt die Widersprüchlichkeit, aber da sie nicht offen liegt, sondern von allen im Grunde geleugnet wird, ist sie auch nicht benennbar. Und ich denke, dass das eine Verstummung oder gar Abspaltung auslöst, die erst aus dem Erwachsenen-Ich heraus verstanden werden kann.
Dazu kommt, dass das Kind sehr genau fühlt, dass die Zärtlichkeiten nicht gegeben, sondern von ihm "genommen" werden. Es wird im Grunde emotional missbraucht, indem die Erwachsenen die Rollen umdrehen und ihren Bedarf über das Kind stillen (statt umgekehrt, wie es sein müsste) und es in einer unangemessenen Weise zur Treue verpflichten.
Deshalb der Wunsch nach offener statt subtiler Gewalt, nach einem offenen Stillen des Liebesbedarfs per Ehebruch statt einem, der sich des Kindes so subtil bedient, dass man ihm ncihte einmal einen Vorwurf machen kann, weil nach außen alles in Ordnung scheint.

So hingegen bleibt das Kind allein, verwirrt, erschreckt, verängstigt. Für mich kommt das genau an durch die Art, wie Yorick es erzählt.


Liebe Grüße

leonie

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 22.10.2010, 13:03

ein sehr starker text finde ich. die anderen kommentare habe ich noch nicht gelesen. schade finde ich allein den letzten absatz, weil er sich wie eine interpretation liest, wie eine leseanleitung, das braucht dieser text doch nicht. so ein schöner leiser text, in dem alles schwingt. ja, ich mag ihn sehr und wünschte mir nur, der letzte absatz würde verschwinden.

Sam

Beitragvon Sam » 22.10.2010, 16:54

Hallo Yorick,

im Gegensatz zu meinen Vorkommentatoren, halte ich den letzten Absatz nicht für entbehrlich, sondern für essentiell, zumindest so, wie ich den Text verstehe. Und ich denke, es ist immer besser einen Text so verstehen zu wollen, wie er geschrieben wurde, statt zu versuchen ihn durch Streichungen an das eigene Verständnis anzupassen.
Welche Angst bliebe, ohne den letzten Absatz? Es bliebe die etwas diffuse Angst eines Kindes und ein Echo, das im erwachsenen Erzähler nachhalt. Aber im Grunde nichts, was die drei Wünsche des Erzählers rechtfertigen bzw. begründen würde.
Dass sich Eltern nichts mehr zu sagen haben, dass sich die Emotionen zwischen ihnen abkühlen und statt dessen auf das Kind konzentrieren ist keine Seltenheit. Das kann beim Kind (und dem späteren Erwachsenen) die hier beschriebene Reaktion hervorrufen, aber auch ganz andere, gegensätzliche.
Eine ausreichende Begründung für die Wünsche des Erzählers sehe ich nicht. Zumal einem noch mit Modellautos spielenden Kind hier doch sehr viel Erkenntnis- und Verständnisvermögen zugesprochen wird.
Der Schrecken des Kindes rührt meines Erachtens nicht von den Worten der Eltern her und deren Scham danach. Um das aber zu verstehen braucht es den vierten Absatz. Nur weil der Erzähler hier von Namenlosigkeit und Sprachlosigkeit spricht, heißt das nicht, dass die Erinnerungen nur in ihm brodeln und er dafür keine Ausdrucksmöglichkeit findet. Er findete eine, aber diese stellen das genaue Gegenteil dessen dar, was er erlebt hat. Das, was er sich wünscht, bei seinen Eltern gesehen zu haben, ist das, was er selbst tut. Er ist ein wütender, wahrscheinlicher gewalttätiger Mensch, der eine Begründung für seine Wut sucht, sie aber nicht finden kann. Außer in den Momenten nach seinen Wutanfällen, wenn ihn die Kraft verlässt Lärm zu machen, sein Körper zu ihm spricht, da schein es ihm zu dämmern, dass es die erträumte Parallelität zwischen seiner Situation und der seiner Eltern gar nicht braucht, um Erklärungen zu finden. Denn in dem, was wirklich war und ist steckt schon genug Grauen. Was den Jungen damals den Atem raubte, war das für ihn nicht zu bestimmende Gefühl, dass etwas dieses Schweigen, dieses Geräusch der umgeblätterten Seiten zerreissen müsse, um endlich Erleichterung zu finden. Und so ist das, was ihm heute Angst einflößt, nicht der Mangel an Emotionen bei seinen Eltern, sondern ihr unkontrolliertes Ausbrechen bei ihm selbst.

Vielleicht irre ich mich ja völlig, aber mit dieser Lesart ergibt der letzte Absatz einen Sinn und ist nicht nur ein überflüssiges, texterklärendes Anhängsel.

Gruß

Sam

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.10.2010, 17:35

Hallo Sam,

gerade über diesen Satz:

Wenn mich die Kraft verlässt Lärm zu machen

habe ich lange nachgedacht und ihn mir umgekehrt vorgelesen: "Wenn ich die Kraft dazu habe, still zu sein".
Dies kann man in der Tat so interpretieren, wie du es getan hast, nämlich, dass LI ein sehr lauter, vielleicht brutaler Mensch ist. Und
Yorick hat geschrieben:wenn ich hören kann, wovon mein Körper mir erzählt
könnte man als den inneren Drang lesen, eben so laut und brutal zu handeln.
Und dann wäre dieser letzte Absatz tatsächlich sehr wichtig.
Die Frage, die ich mir jetzt stelle: ist es folgerichtig, dass jemand so wird, gerade, weil es in seiner Familie niemals laut wurde, niemals brutal vorging? Oder wäre das nicht stimmig? Wäre eine solche Konsequenz falsch?
Jemand, der in einer Familie lebte, in der Emotionen jeglicher Art immer unterdrückt wurden, wird auch selbst seine Emotionen immer unterdrücken? Interessantes Thema allemal, bei dem man sicher keine "Schablone" anlegen kann.

Saludos
Gabriella

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 22.10.2010, 18:01

hallo, yorick,


ich lese deinen für mich sehr gelungenen text wie sam.
mit dem letzten absatz als dem schließen eines kreises. nämlich des kreisens um dieses diffuse empfinden, lärm erzeugen zu müssen, um das gefühl haben zu können, lebendig zu sein.

wer sich mit dem thema des "tabus" in familien schon einmal näher beschäftigt hat, weiß, dass totgeschwiegenes tatsächlich "lähmt" und vorgelebt wird, dass man in einer beziehung (oder im leben überhaupt) nicht für die eigenen interessen einstehen darf. die auflösung der eigenen bedürfnisse als auflösung der eigenen identität. solche beziehungsmuster machen diejenigen, die sie so leben, zu untoten ohne ein recht auf eigene identität losgelöst vom partner. ein scheiterkonzept, das zu depressionen führt, gelingt es nicht, daraus auszubrechen.

der erzähler also erkennt aus der erwachsenen-sicht - zumindest gefühlsmäßig -, warum er immer lärm machen muss (wie immer das aussieht - die vermutungen, die sam und gabriella anstellen, sind nicht abwegig. aber es stört überhaupt nicht, wenn das im text nicht näher definiert wird). es ist sein weg, sich lebendig und selbstbestimmt fühlen zu können. den kontakt zu sich und der eigenen identität nicht zu verlieren.

das finde ich hier sehr gut ausgeführt und sprachlich schön in worte gefasst.

gernst gelesen!


gruß,

keinsilbig

Yorick

Beitragvon Yorick » 22.10.2010, 20:25

Vielen Dank an alle für die Beschäftigung mit dem Text und eure Beiträge! Es ist für mich wunderbar zu diesem Text Rückmeldung zu erhalten, auch und gerade weil es zu der Thematik mindestens so viele Aspekte wie Worte im Text gibt und jeder Leser vielleicht auch an anderen Stellen angetickt wird. Daher für mich besonders spannend, ob und was „rüberkommt“.

Alle Beiträge enthalten sehr interessante (etwas allgemeinere) Gedanken über das emotionale Eltern/Kind-Verhältnis, über die Verarbeitung kindlicher Gefühle. Bei vielen Sätzen kann ich sagen: genau, so habe ich das auch gedacht, auch wenn ich vielleicht der anschließenden Schlussfolgerung nicht zustimmen kann. Deshalb würde ich gerne von meiner Textintention ausgehend auf die Beiträge eingehen und hoffe, dass ich nicht allzu viel übersehen habe.

Leonie, dein Beitrag von 11:56 beschreibt meine Intention ziemlich gut, und auch der von Zefira und Gabriella. Sam, deinen Beitrag würde ich gerne an einigen Stellen zitieren, da er mM als Kontrapunkt das kritisiert, was ich beabsichtigt habe.

Das erwachsene Ich spürt Angst und Schmerz in sich. Sucht in seiner Kindheitsgeschichte nach Ursachen, findet aber nur Zustände „die doch ganz normal sind“.

Mein Plan: 3 Absätze, krass überzeichnete Wünsche (plakativ, aus Funk und Fernsehen bekannte Klischees), mit jeweils dagegen gesetzter Realität (unspektakulär, aber irgendwie erschütternd).
4 Absatz, zweigeteilt: a) Erkenntnis/Bewusstwerdung der Angst, b) Benennen der Lösungsmöglichkeit.

Sam schreibt:

„Welche Angst bliebe, ohne den letzten Absatz? Es bliebe die etwas diffuse Angst eines Kindes und ein Echo, das im erwachsenen Erzähler nachhalt. Aber im Grunde nichts, was die drei Wünsche des Erzählers rechtfertigen bzw. begründen würde. „

Genau diese Haltung möchte ich mit dem Text aushebeln, bewusst machen. Was muss schlimmes passieren, damit Angst und Schmerz „gerechtfertigt“ empfunden werden dürfen? Als „vorhanden“.

Ein als Kind von seinen Eltern geschlagener, missbrauchter Erwachsener würde a) von einer Umwelt verstanden und (im Rahmen) akzeptiert werden, und er hätte b) (wenn er sich dem nähern kann) Orientierungspunkte für seine jetzigen Gefühle.
Aber ein Kind, welches sogar gestreichelt wurde, „das ist doch normal“, „das geht doch vielen so“. Tatsächlich wirkt elterliche emotionale Kälte ebenso traumatisierend wie konkret erlebte Gewalt. Dieser Text wendet sich gegen eine „Bewertung der Tatvorgänge“ und möchte die Aufmerksamkeit auf die „emotionale Realität“ lenken.

Sam schreibt:
„Eine ausreichende Begründung für die Wünsche des Erzählers sehe ich nicht.“

Das kann nun an der Qualität meines Textes liegen. Beabsichtigt ist das natürlich schon.
In der Realität des ersten Absatzes deute ich eine „sexuelle Übergriffigkeit“ an. Jedes Kind kann spüren, woher die Energie kommt, ob das Fürsorge ist oder Begierde. Aber nicht sagen. Worüber soll jemand klagen, der das fühlt? Dass er vom Vater ins Bett gebracht wurde? Andere würden ihn darum beneiden!!! Das verdammt zur Sprachlosigkeit, denn es kann nicht artikuliert werden – und wird auch nicht „geglaubt“.
Wenn diese Eindringlichkeit nun nicht vom Text vermittelt wird, verfehlt er seine (na, meine) Absicht.

Gerda, auf dich wirkt es steril. Meine Absicht war ein Bild zu finden, was auf den Leser wirkt, ohne die (eben nicht bewusst nennbaren) Gefühle des Kindes zu erzählen. Eigentlich in den drei Absätzen nur an der von dir zitierten Stelle gelockert. Ich scheue mich vor solchen Erklärungssätzen wie „Ich fühlte mich irgendwie schmierig und hatte Angst“.


Sehr verwundert hat mich die Reaktion auf den vierten Teil des Textes. Normalerweise sage ich zu wenig, lasse zuviel „im Auge des Betrachters“, es wirkt beliebig. Hier nun ist mein Ziel, konkreter zu werden, aber über eine Zusammenfassung oder Leseanleitung hinaus neue Erkenntnisse zu vermitteln. Vielleicht wird hier zu sehr ein „therapeutischer Anspruch“ spürbar, der über die Bilder hinausgeht. Der Bruch wird ja offensichtlich als zu stark wahrgenommen, auch hier wären Bilder dann wohl die bessere Wahl. Meiner Meinung nach birgt der letzte Absatz einen wichtigen Aspekt im Umgang mit der vorherigen Wahrnehmung, auf den ich nicht verzichten möchte. Aber wohl anders verpacken sollte.

Sam, keinsilbig, die Lesart des „brutalen Handelns“ in der Gegenwart ist natürlich auch möglich, sie wäre auch ebenso aus dem erlebten herleitbar (die Realität zeigt das). Aber nicht meine Absicht.

Mit dem „Lärm“ meinte ich etwas anderes. Nämlich die Geschäfte des Alltags. Arbeiten, lieben, kochen, Fernsehen, Probleme schaffen, Probleme lösen. Wer spricht kann nicht zuhören. Der Körper spricht jeden Tag, jede Stunde, in jedem Moment von erfahrenem Leid, Missbrauch und Unrecht. Das tut so weh, das will niemand hören. Deshalb immer in Bewegung bleiben: Lärm machen. So lange bis die Kraft nicht mehr reicht.
Auch ein gewalttätiges Lärmen ist möglich (und wahrscheinlich sogar häufig, und häufig auch kombiniert mit Starre.), das wäre ein „konkreter“ Lärm. Aber in meiner Intention nicht notwendig gewalttätig.

Gabriella, vielen Dank für deinen Beitrag und die vielen orthografischen Korrekturen (gerade die Kommata würgen mich ständig – ich entschloss mich irgendwann aus Überforderung sie nur noch nach meinem Sprachgefühl/Vorlesegefühl zu setzen – meine kleine Flucht).

Leonie, Zefira, Gerda, Gabriella, Sam, Xanthippe, keinsilbig, vielen Dank für eure Antworten. Falls ich etwas nicht richtig verstanden habe oder vergessen habe darauf einzugehen, zeigt bitte noch einmal mit dem Finger drauf.

Über eine bildhafte Umgestaltung des letzten Abschnitts muss ich mir noch mal Gedanken machen, wenn er so krass als Blinddarm angesehen wird.

Viele Grüße,
Yorick.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.10.2010, 23:49

Hallo Yorick,

du schreibst:
Yorick hat geschrieben:In der Realität des ersten Absatzes deute ich eine „sexuelle Übergriffigkeit“ an. Jedes Kind kann spüren, woher die Energie kommt, ob das Fürsorge ist oder Begierde. Aber nicht sagen. Worüber soll jemand klagen, der das fühlt? Dass er vom Vater ins Bett gebracht wurde? Andere würden ihn darum beneiden!!! Das verdammt zur Sprachlosigkeit, denn es kann nicht artikuliert werden – und wird auch nicht „geglaubt“.
Wenn diese Eindringlichkeit nun nicht vom Text vermittelt wird, verfehlt er seine (na, meine) Absicht.

daraufhin habe ich mir diesen Passus noch mal durchgelesen:
Yorick hat geschrieben:Manchmal wünsche ich mir, mein Vater hätte gesoffen. Das er wankend und fluchend in der Nacht nach Hause gekommen wäre, seine Schuhe in die Ecke gepfeffert und wütend nach mir gebrüllt hätte, ich solle ihm helfen ins Bett zu kommen. Und wenn ich nicht schnell genug da gewesen wäre, dann hätte er ausgeholt und mir mit seiner rauen Hand eine Backpfeife verpasst, dass ich quer durch das Zimmer geflogen wäre.
Doch ich sehe meinen Vater, wie er an meinen Bett sitzt mit müden Händen, sprachlos, schließlich aufsteht und mir eine gute Nacht wünscht. Und in der Dunkelheit meine ich ihn noch immer dort sitzen zu sehen, mit vorgebeugtem Kopf, als ob er die Wärme meines Körpers einatmen wolle.

Ich lese hier von einem müden Vater, der gute Nacht wünscht. Eine Andeutung auf sexuelle Übergriffigkeit kann ich hier nicht herauslesen. Auch der letzte Satz dieses Abschnitts gibt mir da keinen Hinweis.

Saludos
Gabriella

Yorick

Beitragvon Yorick » 23.10.2010, 12:34

Hallo Gabriella,

letztlich bleibt es an dieser Stelle auch Interpretationssache. Man kann es so lesen, dass es einfach nur ein müder Vater ist. Man kann sich aber auch vertiefen in das Bild des Einsaugens des Duftes der warmen Haut unter der Bettdecke. Und wie sich das anfühlt, wenn man meint, noch immer den Schatten des Vaters am Bett zu haben.

Der Unterschied scheint nicht groß zu sein zwischen Führsorge und Begierde. Tatsächlich wird es auch häufig verwechselt.

Wenn niemand ein ungutes Gefühl bei dieser Szene hat (irgendwo tief drinnen), dann ist sie vielleicht zu seicht geraten. Aber meine Absicht ist natürlich, dieses Gefühl "ganz unten" anklingen zu lassen.

Danke für deine Rückmeldung Gabriella,

viele Grüße
Yorick.


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