Von Hunden und Menschen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 11.02.2011, 16:18

Von Hunden und Menschen


Hunde und Alzheimerkranke haben mindestens zwei Dinge gemeinsam. Zum Einen weiß man nie, was in ihrem Kopf wirklich vor sich geht. Wenn ich zum Beispiel meinen Vater bei meiner Schwester abhole, um mit ihm unsere allsamstägliche Spazierfahrt durch den Schlosspark zu unternehmen, dann sitzt er, der Jahreszeit entsprechend eingepackt, in seinem Rollstuhl und würdigt mich meist keines Blickes. Erst wenn meine Schwester ihn mit lauter Stimme auf meine Anwesenheit aufmerksam macht, schaut er kurz auf, nickt ein- oder zwei Mal mit seinem schweren Schädel, um dann wieder in sich zusammenzusacken, die Schultern noch ein wenig weiter nach vorne gebeugt, so dass man den Eindruck bekommt, der anstehende Spaziergang wäre für ihn eine größer Qual, als für mich. Aber prompt komme ich einen Samstag nicht, dann, so berichtet es meine Schwester, ist er unerklärlich unruhig und greift sich aus Regalen oder von Kommoden Gegenstände, die irgendetwas mit mir zu tun haben. Als würde er mich vermissen. Als würde er gerne von mir durch die Gegend geschoben werden, was ich nun wirklich nicht glaube.
Bei einer Gelegenheit jedoch schaute er mich offen an, mit seinen gelben Augen über den schweren Tränensäcken, die seine Lieder herabziehen und die Augen aussehen lassen, wie kleine Spiegeleier, ein Blick, in dem eine Menge Gefühl zu sein schien. Spontan umarmte ich ihn, worauf er grässlich anfing zu heulen und zu schreien, selbst als ich ihn schon lange wieder losgelassen hatte. Seitdem vermeide ich jeden Körperkontakt, auch wenn es manchmal so ausschaut, als bettele er darum. Für Zärtlichkeiten aller Art, ist nur noch meine Schwester zuständig.

Was Hunde angeht, habe ich seit zwei Wochen reichlich Gelegenheit Erfahrungen zu sammeln. Meine Freundin, eine mäßig erfolgreiche freie Journalistin, entschloss sich kurzfristig John Kerry bei der Schlussphase seines Wahlkampfes zu begleiten, um daraus eine Story oder gar ein Buch zu machen. Ihren grizzlybärgroßen Leonberger, den sie sonst bei ihrer Mutter lässt, was dieses Mal aber nicht möglich war, da diese für etliche Wochen auf Kur in Bad Kohlgrub verweilt, gab sie bei mir in Herberge.
Das Tier ist zwar herzensgut, aber reichlich nervös, bei Hunden seiner Größe eher unüblich. Trotzdem akzeptierte er seine neue Umgebung sofort. Geplagt von fortgeschrittener Hüftdysplasie und einer chronischen Hyperthyreose, nähert sich Ulysses mit großen Schritten dem letzten Gang zum Tierarzt, obwohl er mit fünf Jahren noch recht jung ist. Nach der Kerry-Geschichte, so meine Freundin, wolle sie den schweren Weg antreten, damit der Hund nicht länger zu leiden hätte, und sie auch nicht.
Ob der Hund leidet, weiß ich nicht. Ich weiß eigentlich gar nichts, was die Gefühle des Tieres angeht, und wenn mich eine gewisse Unruhe in seinem Verhalten oder ein langer Blick aus seinen, in Form und wässrigem Glanz denen meines Vaters nicht ganz unähnlichen, Augen glauben lässt, er wolle vielleicht mal eben sein Geschäft erledigen, hat das oft zur Folge, dass er, ohne jedwede Anstallten sich zu lösen, in der Wiese vor dem Haus weiterschläft. Genauso gut kann er aber auch, nach einem ausgedehnten Nickerchen vor der Couch oder im Flur, einfach aufspringen und ohne einen Ton von sich zu geben, vor die Badezimmertür urinieren oder koten. Dergleichen passiert mir mit der Fütterei oder anderen Bedürfnissen, die ich aus seinem Gesichtsausdruck herauszulesen meine. Meistens liege ich daneben. Wie bei meinem Vater.

Die zweite Gemeinsamkeit zwischen dem Tier und dem Kranken ist, dass die Konfrontation mit ihnen den wahren Charakter eines Menschen zum Vorschein bringt. Ich schließe mich da nicht aus. Die Unergründlichkeit dieser beiden Wesen ist eine Herausforderung an meinen Altruismus und an meine Geduld. Meinen Vater schiebe ich meist wortlos durch die Grünanlagen des Nymphenburger Schlosses. Wenn ich etwas sage, dann nur, weil er etwas fallen lässt, er anfängt andere Leute in unverständlichen Worten anzureden da er sie für seine Mutter oder seinen Vater hält, oder wenn er, was dann das schlimmste ist, sich die Hosen so voll macht, dass die Windeln weder der Feuchtigkeit noch des Geruchs Herr werden. Ich schimpfe nicht mit ihm, aber rede ihn so an, als hätte er es absichtlich getan, was ja genauso schlimm ist. Er macht nichts absichtlich. Oder umgekehrt. Er macht alles absichtlich, hat aber vergessen, welche Dinge man nicht absichtlich macht.
Mit dem Hund ergeht es mir ähnlich. Das große Tier erweckt so sehr den Eindruck Herr seiner selbst zu sein, da fällt es einem schwer zu akzeptieren, dass er zu hundert Prozent unter dem Diktum seines Instinktes steht. Und seiner Prägung natürlich. So stolz wirkt dieses kalbsgroße Viech mit seinen herabhängenden Lefzen und dem stoischen Gesichtsausdruck, da kann man die Verweigerung eines klaren Befehls, wie Komm, Sitz, Bleib, nur als bewusste Auflehnung gegen die unumstößliche Autorität des (in meinem Fall Interim-) Alphawolfes deuten, oder als Zeichen einer ausgeprägten Abneigung. Wie auch immer, man mag ihn dann spazierenwatschen, den Sauhund.

Aber nicht nur mein Charakter wird in der Konfrontation mit Dementen oder Caniden offenbar, auch der anderer Personen. Ich hatte Ulysses gerade mal ein paar Tage und schon war wieder Samstag und es stellte sich mir die Frage, ob man Hund und Vater in einem Aufwasch hinter sich bringen könnte, zumindest was ihren Auslauf anging. Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen, verstaute Ulysses im Heck meines Kombi, fuhr zu meiner Schwester um Vater abzuholen und danach mit beiden zum Schloss.
Die meiste Zeit ignorierten sie sich. Ulysses ging an der langen Leine etwa drei Meter vor oder hinter uns. Mein Vater zupfte Fussel aus der Decke, die um seine Beine gewickelt war, brabbelte dabei unverständliches Zeugs und ließ, wie der Hund, den Speichel tropfen.
Hundebesitzer nun sind ein ganz eigenes Völkchen, eine Art Sekte sozusagen, zu der niemand Zutritt erhält, es sei denn, ein Vierbeiner, egal welcher Größe oder Rasse, ziert seine Flanke. Für den Hundebesitzer, vor allen für die Fundamentalisten unter ihnen, ist jeder Nichthundehalter ein potenzieller Feind. Der gemeine Spaziergänger ein noch geduldeter, die Mutter mit Kinderwagen oder freilaufenden Gören ein schon argwöhnisch zu beäugender, der Jogger aber, oder schlimmer noch, Inlineskater oder Radfahrer, eine unter größtem Misstrauen zu begegnende Spezies, die es schon bei der geringsten Annäherung an den eigenen Vierbeiner zu beschimpfen gilt. Rollstuhlfahrer und deren Schieber fallen in eine Unterkategorie, zwischen die Spaziergänger und die Mütter. Man teilt sich halt den Lebensraum, gezwungenermaßen. Da Hunde einen geregelten Tagesablauf bevorzugen, passen sich Herrchen und Frauchen schnell an, und so sehe ich jeden Samstag meist die gleichen Mensch/Hund Paarungen auf den weißen Schotterwegen des Schlossparks. Da gibt’s diesen langen Schlacks, schmales Gesicht mit einem ausladenden Kinn wie Nick Knatterton, Beamter oder Arzt im Ruhestand, mit seinem deutschen Pinscher; den dicken weißbärtigen mit Lederweste und dunkler Jeans, schätzungsweise pensionierter Polizist, mit dem obligatorischen deutschen Schäferhund; die etwas knöchrig wirkende Dame um die Fünfzig mit ihrem ebenso knöchrigen Greyhound. Und noch ein paar andere.
So reserviert sich der Hundehalter gegenüber dem tierlosen Artgenossen verhält, so offen ist er gegenüber jedem, der von Vierbeinern begleitet wird. Als ich das zum ersten Mal erlebte, dachte ich mir, einsame Menschen sollten sich einfach einen Hund anschaffen. Es ist schier unmöglich in Begleitung eines Hundes nicht auf die ein oder andere Art und Weise angesprochen zu werden.
Aufgrund seiner Schilddrüsenüberfunktion ist Ulysses an manchen Tagen leicht reizbar. Auch Daddy hatte einen nicht so guten Tag und so kam es, dass nach gut einer Stunde die Aufnahmefähigkeit der Windeln meines Vaters erschöpft war und der Hund alles und jeden anknurrte, dem er begegnete. Leider war ich da gerade am anderen Ende des Parks und wir hatten noch ein gutes Stück Weg bis zum Auto. Unterwegs begegneten wir der Lederweste und Nick Knatterton, Herrchen wie Hundchen miteinander beschäftigt. Ich hatte Ulysses, der ewigen Zieherei überdrüssig, abgeleint und so lief er stracks zu den beiden Hunden, die sich gegenseitig übers Grün jagten.
„Schöner Kerl“, meinte die Lederweste, als ich die beiden erreichte und da es mir schien, dass Ulysses seine Gereiztheit kurzzeitig beiseite gelegt hatte, beschloss ich einen Moment zu verweilen. Es ging ein leichter Wind, der die unguten Gerüche, die unter Vaters Decke hervorstrudelten, in Richtung Wald davon wehte.
„Ja“, sagte ich, „ist von einer Freundin.“
„Leonberger?“, fragte Nick Knatterton und antwortete sich selber mit eifrigem Kopfnicken.
Miss Greyhound stieß zu unserer Gruppe. Ihr graues Gerippe von Hund gesellte sich zu den anderen und beschnüffelte ausgiebig alle anwesenden Hundeärsche.
„Das ist aber ein Schöner“, bemerkte sie und zu mir gewand fügte sie hinzu:
„Ist das ihrer?“
„Ja, von einer Freundin.“
Mein Daddy ließ einen kurzen Rölpser fahren und zog für eine Sekunde die Blicke auf sich. Da die Hunde jedoch nicht von ihrer gegenseitigen Beschnüffelung abgelenkt wurden, beschloss man in stiller Übereinkunft dieses Lebenszeichen des Rollstuhlinsassen zu ignorieren. Der allerdings schien ein wenig Aufmerksamkeit für seine Person für angebracht zu halten und begann laut zu rufen. Irgendwas von „Mami“ und „Schön dich zu sehen“ und dabei streckte er seine Arme in Richtung der Lederweste aus.
„Vaterjetztberuhigdichmal“, flüsterte ich ihm ins Ohr und drückte seine Arme auf die Lehne zurück.
„Syssszzzschlllluxxx“, sagte er feucht und laut. Lauter noch gluckste es in seinen Windeln.
„Alzheimer“, sagte ich entschuldigend mit wedelnder Geste vor dem Gesicht. Ich erntete ein verständnisvolles Nicken der Umstehenden, welches mich ein wenig beruhigte.
„Mit meiner Großmutter ging´s ähnlich“, ließ die Lederweste wissen, „konnte am Ende auch nichts mehr alleine machen, Sie verstehen. Pflege von morgens bis abends. Ein Leben ist das nicht mehr.“
Kollektives Kopfschütteln jetzt, als Zeichen der Zustimmung. Davon ermutigt setzte die Lederweste hinzu:
„Eine Qual für alle Beteiligten. Waren dann irgendwie froh, als es zu Ende war. War schlimm, natürlich, aber besser letztendlich. Ist eine Schande, wenn jemand so dahinvegetiert.“
„Es gibt ja welche“, meinte Miss Greyhound, hielt dann aber inne, als hätte sie sich vor ihren eigenen Gedanken erschreckt. Sagte aber schließlich:
„Naja, welche die dann dafür sorgen, dass das Drama ein Ende hat. Und wenn alle damit einverstanden sind....“ Verstummte wieder, in der Hoffnung, jemand würde den Satz für sie beenden. Tat niemand, aber alle nickten, auch mein Vater, allerdings in Richtung der Begonien unter einer moosbekleideten Steinstatue.
Dann gab´s ein Gerangel zwischen Ulysses und dem Schäferhund, der Hamlet hieß. (Toller Name für einen Hund, dachte ich. Es gibt allerdings ein Gedicht von Sarah Kirsch über eine Frau in einem KZ. Der Aufseher dort im Lager hat auch einen Schäferhund, der Hamlet heißt. Seitdem ich dieses Gedicht gelesen habe, gefällt mir der Name nicht mehr sonderlich.)
Die Lederweste brachte die Streithähne auseinander und bestrafte Hamlet mit einem Tritt ins Hinterteil. Ulysses lief einen großen Kreis um uns herum und lies sich dann neben Miss Greyhound nieder, die das Fellmonster eifrig zu streicheln begann.
„Wie alt isser denn?“, wollte sie wissen.
„Fünf, glaube ich", bekam sie von mir zur Antwort, und weil auch die beiden Herren so freundlich und zustimmend nickten, als sei es mein Verdienst, dass Ulysses schon dieses Alter erreicht hatte, ja weil sich in diesen Augenblick so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl in mir breit machte (und ich frage Sie, wer ist vor solchen Eitelkeiten gefeit?), und ich meinte dieses Gefühl durch eine weitere Äußerung über den Hund noch ein wenig intensivieren zu können, machte ich einen schweren Fehler, indem ich folgendes erwähnte:
„Ja, aber viel älter wird er wohl nicht werden. Meine Freundin denkt daran, ihn einschläfern zu lassen.“
Die, wie mir jetzt auffiel, sehr runzelige Haut von Miss Greyhound formte einen erschreckten Gesichtsausdruck. Nick Knatterton hielt sich seine langfingrige Hand vor den Mund, als wäre dies die einzige Möglichkeit sich am Reden zu hindern.
„Was wollen sie?“, rief die Lederweste, immer noch damit beschäftigt seinen Schäferhund notwendige Erziehungsmaßnahmen zukommen zu lassen.
„Nicht ich“, sagte ich, „meine Freundin. Der Hund ist krank. Schilddrüse, Hüfte und was weiß ich noch alles. Leidet nur noch das Tier, meint sie.“
„Leidet?“, fragte Lederweste, der jetzt direkt vor mir stand, sodass ich zwischen grauen und braunen Barthaaren genau unterscheiden konnte.
„Ja“, entgegnete ich, gegen ein aufkommendes Unbehagen ankämpfend. „Schmerzen, ständige Nervosität, Schlafstörungen, Aggressionsverhalten.....“
„Wo ist der Hund denn aggressiv?“, unterbrach mich Nick Knatterton. „Spielt doch wie ein frommes Lämmchen.“
„Ist er ja nicht immer“, versuchte ich zu erklären, „kommt aber oftmals vor. Erregungspotenzial immer auf höchstem Level, sie verstehen. Marihuana müsste man dem Hund geben, dass würd vielleicht helfen. Ich weiß ja auch nicht.“
„So ein schöner Hund“, seufzte Miss Greyhound traurig, als läge Ulysses schon präpariert für die Todesspritze auf dem Behandlungstisch des Tierarztes.
„Ich sag ihnen was“, meinte Lederweste. „Die Leute glauben immer, wenn ihr Hund älter wird und ein paar Wehwehchen bekommt, oder anfängt ein wenig zu humpeln, müsste man gleich zum allerletzten Mittel greifen. So ein Quatsch! Sehen sie sich doch mal die Hunde an. Das sind nicht nur einfach Tiere, das sind Wesen. Die genießen das Leben, auch wenn´s hie und da mal wehtut oder zwackt. Mein letzter Schäfer, der Iltschi, der hatte auch HD, konnte zum Schluss gar nicht mehr laufen. Na und, hab‘ ein kleines Wägelchen gebastelt, ihn reingesetzt und ein bisschen rumgefahren. Im Haus hatte er eine Decke vor der Tür, da konnte er sein Geschäft hinmachen. Glücklich war der noch eine ganze Zeit. Erst als er gar nicht mehr aufstehen konnte, haben wir dann Schluss gemacht. Da war er aber schon bald sechzehn Jahre alt.“
Miss Greyhound streichelte Ulysses immer noch, hatte sich aber zwischen mich und den Hund gestellt, als müsste sie ihn vor mir beschützen.
„Sagen sie ihrer Freundin“, meinte sie, „wenn man kein Herz für Hund hat, sollte man sich keine anschaffen. Der Hund ist immer für den Menschen da. Da ist es nur recht und billig, dass der Mensch auch für den Hund da ist, wenn er ihn braucht.“
Damit wurden die Hunde zu ihren respektiven Herrchen bzw. Frauchen gerufen, angehängt und zogen, sprichwörtlich, Leine. Vater hob die Hand und rief laut: „Auf Wiedersehen!“
„Lass das!“, sagte ich grob und drückte seine Hand unsanft nach unten. Und zu Ulysses:
„Komm!“, so knapp und gefühllos, wie man das Wort nur aussprechen kann.

Ich glaube, meine Freundin wird mit ihrem John Kerry Projekt scheitern. Sie will zu sehr, dass er gewinnt. Sie reist ihm mehr als Fan, denn als Journalistin hinterher. Sosehr hasst sie den Bush, dass ihr dieser konturlose Mensch Kerry wie der Heilsbringer persönlich vorkommt. Sie ist einfach zu sentimental. Das vernebelt den Blick für die Realität. Auch ein Grund, warum sie mit dem Hund nicht klar kommt. Sie ist nicht in der Lage die Realität zu akzeptieren, kann sich aber auch keine eigene zurechtbasteln. Mir geht’s mit meinem Vater ja ähnlich. Da haben diese Hundebesitzer uns schon etwas voraus, so wie sie Lebensberechtigungen verteilen. Ich glaube, auf die Art lebt man viel besser. Und dem Hund hilft´s ja auch.
Einen Unterschied gibt’s zwischen Alzheimerkranken und Hunden. Die leicht angetrocknete Hundescheiße riecht stark nach Ammoniak.
Zuletzt geändert von Sam am 13.02.2011, 08:06, insgesamt 1-mal geändert.

Sam

Beitragvon Sam » 16.02.2011, 18:59

Hallo Zusammen,

ich danke euch schon mal herzlich für eure Kommentare. Aus Zeitgründen kann es sein, dass ich vielleicht erst am Wochenende dazu komme, euch zu antworten.

Bas dahin viele Grüße

Sam

Yorick

Beitragvon Yorick » 16.02.2011, 23:18

Quoth schrieb:

"Das Hauptleiden besteht dann aber darin, einen einstmals geliebten, vielleicht bewunderten, mündigen und in seinen Entscheidungen starken Menschen so - ja, wohl kein zu starker Ausdruck - entwürdigt zu sehen."

Das ist eine Möglichkeit. Und hat mit Sicherheit eine Wirkung. Eine weitere: "Ich bin so wütend auf meinen Vater, aber ich darf es nicht sein. Ich würde ihn am liebsten einschläfern lassen - ich Schwein."

"Die zweite Gemeinsamkeit zwischen dem Tier und dem Kranken ist, dass die Konfrontation mit ihnen den wahren Charakter eines Menschen zum Vorschein bringt."

"eine Herausforderung an meinen Altruismus und an meine Geduld."

Diesen Zwiespalt zwischen Wut und dem Gefühl von Schuld finde ich gut eingefangen in der unverfänglichen Hunde-Szene im Park. Locker wird über das Undenkbare geplaudert, ohne dass es direkt beannt wird.

Die Hundebesitzer würden ihre Hunde nie einschläfern lassen, weil sie die Tiere *lieben*.
Der Prot fürchtet um seinen *Altruismus*.

Das ist genauso hart wie witzig, finde ich. Für mich ist das die Geschichte in dem Text. Die Ohnmacht. Die Wut. Das Erschrecken über die eigenen Gedanken. Und locker erzählt, wie ein Spaziergang.

Das müsste aber noch weiter gestützt und ausgearbeitet werden im Text, damit das ganze erlebbar wird. Mehr Gefühl, weniger Meta-Mind-Ebene :-)

Viele Grüße,
Yorick.

Sam

Beitragvon Sam » 19.02.2011, 18:33

Hallo ferdi,

mir erscheint die Aufregung über Tilmann Jens Buch in erster Linie eine feuilletonistische Ereiferei gewesen zu sein.
Natürlich hat Walter Jens eine außerordentliche Stellung unter Deutschlands Intellektuellen und darüber zu lesen, wie er nun in Windeln durchs Haus läuft, ist wirklich befremdend. Aber Walter Jens ist genauso "geistiges Eigentum" wie er auch einfach nur Vater ist, und wer will es dem Sohn verdenken, dass er sich mit dem körperlichen Verfall seines Vaters auseinandersetzt. Und dies ist ja nur ein Aspekt der Geschichte. Die Haupterschütterung des Sohnes begründet sich ja in der verleugneten NS-Vergangenheit des Vaters. Ob seine These, der Vater habe sich sozusagen in die Demenz geflüchtet, um einer Konfrontation mit dem Thema auszuweichen, stimmig ist, kann ich nicht beurteilen. Ebenso wenig, ob Tilman Jens sich nur wichtig machen wollte, oder sein Buch eine aufrichtige Abarbeitung an der Vaterfigur ist. Ich fand das Buch sehr interessant, eben weil ich schon viel von Walter Jens gelesen habe und seinen Gedankenbewegungen bezüglich Literatur, Kritik und Moral sehr gerne und auch immer wieder aufs Neue folge. Es hat mich berührt und ich fühlte mich zu keiner Zeit als Voyeur, oder als jemand, der Dinge erzählt bekommt, die ihn nichts angehen.
Bei Gelegenheit möchte ich übrigens das neueste Buch von Arno Geiger lesen. Da geht es ja um die gleiche Thematik.


Hallo Gerda, Yorick, Lisa, Quoth, Gabriella,

ich hoffe, es stört euch nicht, wenn ich eine zusammenfassende Antwort euch allen gebe, da sich eure Bedenken, wir mir scheint, in die gleiche Richtung bewegen. Da ich, wie oben schon erwähnt, den Text vor recht langer Zeit geschrieben, aber mir ob seiner tatsächlichen „Tauglichkeit“ sehr unsicher bin, schätze ich eure Ansichten sehr, weil sie meinen eigenen Bedenken, die ich bisher nicht wirklich zu begründen wusste, nachvollziehbare Erklärungen liefern.
Wenn ich euch richtig verstehe, dann gibt es drei „Hauptproblemzonen“ bei dem Text:
1. Die indifferente, kalte Haltung des Erzählers
2. Der Vergleich kranker Mensch/kranker Hund
3. Das Glossenhafte, z.B. was die Hundebesitzer angeht

Vielleicht darf ich kurz erzählen, welchen Hintergrund der Text hat. Als ich ihn schrieb, arbeitete ich in einer Steuerkanzlei. Diese bestand allerdings nur aus der Steuerberaterin und mir als Azubi und befand sich in ihrer Wohnung. Meine Chefin hatte einen Hund und einen an Alzheimer erkrankten Mann, der entweder in seinem Bett oder im Wohnzimmer auf der Couch lag. Der Hund aber war immer bei uns in den beiden Büroräumen, die im vorderen Teil der Wohnung lagen. Neben der Arbeit bestimmten die Bedürfnisse des Hundes und die des kranken Mannes den Tagesablauf meiner Chefin. Wobei Entscheidungen zum Wohle (oder zur Willenserfüllung) des Hundes immer emotionale, in Verbindung mit dem Mann aber stets rationale waren. Natürlich passierte im Laufe eines Tages das ein oder andere „Unglück“ und so manches Mal ging ich meiner Chefin bei der Beseitigung der Schäden zu Hand. Oder ich half ihr, diverse Umbauarbeiten vorzunehmen, die das Zusammenleben mit einem Dementen leichter und pragmatischer gestalteten.
Zur gleichen Zeit hatte ich ebenfalls einen Hund, und zwar einen, der ähnliche Symptome zeigte, wie Ulysses. Ich persönlich kam zwar nicht auf die Idee, ihn einschläfern zu lassen, aber ein Tierarzt legte es mir ans Herz. Meine Chefin fand den Gedanken natürlich auch furchtbar.
Aus dieser „Spannung“ heraus entstand der Text. Ich wollte einen Erzähler, der in dem Spannungsverhältnis zwischen krankem Menschen und krankem Tier steht, beides aber gleichwertig betrachtet. Diese Gleichwertigkeit ist natürlich befremdend und verlangt nach einer Gegenposition, bzw. nach einer Situation, die eine Gewichtung in die eine oder andere Richtung provoziert. Naturgemäß die, in Richtung des Menschen. Da kommen aber nun die Hundehalter ins Spiel und kippen alles in die „falsche“ Richtung. Trotz seiner Indifferenz, lässt sich der Erzähler nicht darauf ein. Beide, Hund wie Vater werden von ihm nach dem Gespräch mit den Hundebesitzern gleich lieblos behandelt. Der Erzähler trifft keine Entscheidung.
Da kommt jetzt die Freundin ins Spiel, mit ihrem Kerry Projekt und der Aussage, sie könne die Realität nicht akzeptieren, sich aber auch keine eigene zurechtbasteln. Was ja auch auf eine Unentschiedenheit hinausläuft.
Soweit der Hintergrund zu dem Text.
Die Geschichte ist verbesserungswürdig, keine Frage. Aber wo ansetzen? Am ehesten an dem Punkt, den Yorick und Lisa ansprachen: Das Glossenhafte. Hier ist mir ganz klar der Gaul des „Ich mag Hunde, aber keine Hundebesitzer“ durchgegangen.
Sollte der Erzähler mehr Einfühlungsvermögen zeigen, wärmer sein?
Yorick hat in seinem letzten Kommentar ja einige Passagen zitiert, die zeigen, dass der Erzähler so gefühllos gar nicht ist. Er ist sich seiner selbst bewusst, auch seiner unangebrachten Einstellung seinem Vater gegenüber.
Bei der Einschätzung des Erzählers sollte man auch nicht jene am Anfang erzählte Passage außer Acht lassen, wo erzählt wird, wie er seinen Vater umarmen möchte, diese Annäherung aber völlig misslingt. Woraufhin die Zärtlichkeiten komplett der Schwester überlassen werden. (Für mich im Übrigen die „härteste“ Stelle des Textes.)
Die Frage ist vielleicht weniger, ob der Erzähler mehr Gefühle zeigen sollte, sondern ob das Verhältnis zum Vater mehr erklärt werden müsste. Ich sträube mich gegen beides. Lakonie ist ein entscheidendes Element des Textes.
Die Spannung zwischen kranker Hund/kranker Mensch sollte ebenfalls bleiben. Ich finde sie sogar sehr interessant. Ich würde behaupten wollen, dass die Zahl kranker Menschen, die aus reinem Pflichtgefühl von ihren Angehörigen gepflegt werden, die der aus den gleichen Gründen gepflegten Haustiere um ein vielfaches übersteigt. Dies liegt natürlich vor allem daran, dass ein Hund nur wenige Möglichkeiten hat, das Verhältnis zu seinem Herrchen oder Frauchen auf Dauer zu zerstören. Einem Menschen dagegen stehen da unzählige Wege offen, diejenigen zu verletzen, die ihm am nächsten stehen. Und nicht selten geht er sogar mehrere davon. Kein Wunder also, wenn es dem kranken Hund am Ende besser ergeht.

Nochmals vielen Dank euch allen für eure Meinungen und Anregungen. Beizeiten werde ich mir den Text nochmals vornehmen und, eure Kritik im Sinn, umarbeiten.

Viele Grüße

Sam

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 19.02.2011, 19:01

Hi Sam,

du hast klar und nachvollziehbar geschildert, warum du den Text so und nicht anders geschrieben hast. Deshalb würde ich auch an Punkt 1 und 2 nichts ändern.
Lediglich bez. Punkt 3, das Glossenhafte, könntest du vielleicht ein bisschen "abmildern", aber nur in Nuancen. Soweit jedenfalls meine Meinung.

Saludos
Gabriella

Sam

Beitragvon Sam » 20.02.2011, 13:07

Hallo Gabriella,

schön, dass du dieser Meinung bist. Das motiviert mich, den Text wirklich nochmal anzugehen.

Gruß

Sam

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 20.02.2011, 20:31

Lieber Sam,

das, was ich das "Glossenhafte" nenne ist ja eigentlich auch kein einzelner Punkt. Ich glaube, dass es einige Beobachtungen eben nur nicht ankommen, resultiert einfach daraus, dass irgendwas im Text noch nicht ganz durchkomponiert/entschieden ist. Ich würde 1 und 2 auch nicht ändern. Für mich ist das Problem ja nicht, die kalte Erzählhaltung, sondern dass ich meine, dass der Erzähler anders spricht/offen ist, als er meint, dass da eine Differenz ist, die "literarisch" nicht beherrscht wird. Dass der Erzähler eher abgeklärt/hart ist, passt in meinen Augen schon gut.
Übrigens fand ich es spannend, dass du den realen Hintergrund, der dich dazu gebracht hat, diese Geschichte zu schreiben, erzählt hast. Das ist bei weitem nicht immer so, aber die Konstellationen dort stelle ich mir fast noch spannender vor als deine Variante (Chefin mit Hund und Vater, der), komischweise stellt sich da gleich das Gefühl ein, dass der Erzähler, so wie er jetzt ist, an richtiger Stelle säße. Vielleicht hast du ihm zuviel Beteiligung angelastet, um ihm dann wieder unbeteiligt wirken zu lassen? Na ja, das sind nicht wirklich hilfreiche Anmerkungen.
Ich bin auf jeden Fall gespannt, was eine überarbeitete Version ergibt! Der Text ist es allemal wert.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Sam

Beitragvon Sam » 21.02.2011, 15:15

Hallo Lisa,

ehrlich gesagt, fiele es mir schwer, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich wirklich abgespielt hat. Ich sähe da immer mich selbst und kein gesetztes Ich im Text, was mich wahrscheinlich sehr hemmen würde.

Bei einem erneuten Anlauf werde ich dem Erzähler etwas mehr Beteiligung zugestehen, auf dass seine Unbeteiligtheit glaubhafter wird.

Vielen Dank!

Gruß

Sam

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 26.04.2013, 10:30

Ein Schlaganfall kann von heute auf morgen unser Leben ändern. Vom Rollstuhl-Schiebender zum Geschobenen. Oder ein Unfall. Wie bei Christopher Reed, dem Superman-Darsteller.
Auch ohne Unfall und Krankheit, ein sehr hohes Alter macht eine Karikatur aus uns.
Wir werden zu Etwas, was wir nie werden wollten. Von heute auf morgen und bei vollem Bewusstsein würde keiner von uns das ertragen können, sowie niemand unerträgliche Schmerzen permanent ertragen kann, jeder von uns würde den augenblicklichen Tod verlangen. Aber meistens ist es die Folge eines sehr langsamen Prozesses ...
Es gehört zu unserem Menschendasein, dass wir alles mit Humor betrachten können, auch der schwarze Humor gehört dazu. Menschen, die das nicht können, sind, auch trotz hohem IQ, irgendwie dumm.
Humorvoll geschrieben finde ich diese Geschichte. Ohne Gefühlsduselei.
Nur der letzte Absatz, insbesondere der letzte Satz, finde ich eine Idee zu hart. Der Schluss könnte viel besser sein, ich bin sicher, das wäre für den Autor kein Problem.

Sam

Beitragvon Sam » 26.04.2013, 19:36

Hallo Klimperer,

der Zynismus des letzten Satzes passt m.E. zum Protagonisten. Nicht des Zynismus wegen, sondern weil hier ein letztes Mal des Erzählers Oberflächlichkeit dokumentiert wird.

Gruß

Sam


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 7 Gäste