WORT DER WOCHE
- jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 7 Tage Zeit -
~ N E U S T A R T ~
Wort der Woche ~ NEUSTART ~
Loslassen
Einige Wochen habe ich an diesem Bild gearbeitet. Bei Tageslicht, in der Nacht. Die ursprüngliche Idee hat sich - wieder einmal - verselbständigt. Andere Farben kamen hinzu, andere Materialien. Etliche Male übermalt und vor vorne begonnen. Schicht für Schicht auf die ächzende Leinwand. Warum verwende ich überhaupt Leinwände? Große Holzplatten wären eigentlich geeigneter, da sie mehr aushalten. Na ja, bisher ist keine Leinwand in die Knie gegangen. Und wieder habe ich modelliert und gespachtelt, mit den Händen geformt. Einen Pinsel verwende ich nur für die Ränder oder für's Übermalen. Der letzte Pinselstrich ist getan, die glänzende Schlussfirnis aufgetragen und getrocknet. Ich trage das Bild ins Wohnzimmer und stelle es vor ein Bücherregal, setze mich davor und schaue es an. Denke mich rückwärts durch all die Stadien und Schichten, die unter der Oberfläche schlummern, die niemand jemals sehen wird. Ich schließe die Augen und berühre es. Fahre mit beiden Händen durch die vielen verschiedenen Schluchten, die glatten, die groben Flächen. Es fühlt sich fantastisch an. Es ist ein Anfassbild, ein haptisch sehr wohliges, weiches Bild. Meine Hände fühlen genau, an welcher Stelle ich mich gerade befinde. Vielleicht sollte ich es an einem sehr dunklen Platz aufhängen, damit keiner es sieht, es nur anfassen kann und soll! Man muss es berühren!
Ich gehe in mein Atelier. Obwohl die Schränke vor Farbbehältern und allerlei Materialien wie Pinseln, Spachteln, Modellierpasten etc. platzen, ist es so leer. Die Staffelei dient nur noch als Aufhängung für die Atelierleuchte, damit ich nachts arbeiten kann. Das Bild hat seine Geburtsstätte verlassen. Lange hat es hier gelebt, sich entwickelt, ist gewachsen. Nun muss ich loslassen. Jedes Mal fällt es mir schwer. Es steckt so viel von mir in jedem Bild. So viele Handgriffe. Viel Wut, viele Selbstzweifel und so viel Liebe.
Ich sitze mit angewinkelten Knien auf dem Fenstersims, rauche eine Zigarette.
Und nach einer Weile hole ich eine neue Leinwand, lege sie auf den Arbeitstisch. Ganz weiß und unschuldig liegt sie da und wartet darauf, geboren zu werden, mit einer der tausend Ideen, die in meinem Kopf herumwirbeln, getauft zu werden, durch viele Phasen zu gehen, bis ich auch sie, eines Tages, gehen lassen kann.
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