Stammbücher

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 13.03.2011, 15:51

Stammbücher

Jeden ersten Freitag im Monat besuche ich Frau Denner. Ab elf Uhr wartet sie auf mich, und wenn kurz vorher noch jemand kommt und was von ihr will, heiraten oder so, schickt sie ihn weg und sagt: Montag wieder. Trauungen werden erst gar nicht anberaumt.
Meine Kollektion habe ich immer dabei, damit es aussieht wie ein offizieller Besuch, aber selten packe ich sie aus. Nur manchmal, da schauen wir uns einige der Bücher an und lachen. Ab und zu kauft sie welche.

Ich nenne Frau Denner natürlich Sibylle und sie mich Franz. Und da Sibylle etwas Derbes an sich hat, eine Stimme, die sich anhört, als führe ein Hobel über Holz, zackige Gesten macht und ihre Zigaretten beim Rauchen erwürgt, klingt es für mich, wenn sie Franz sagt, immer so, als sagte sie Schwanz. Das macht mich mächtig an.

Wir ficken im Archiv, zwischen den Personenstandsbüchern der Jahre 1892 – 1914. Das ist der letzte Gang im Keller. Da hört man früh, wenn jemand kommt, weil derjenige erst an den ungefähr fünfzehn Regalen der Jahre 2010 bis 1915 vorbei muss, was uns genügend Zeit gibt, die Hosen wieder hochzuziehen.
Hinterher sitzen wir in ihrem Büro und trinken Kaffee oder Sekt, je nach dem, ob noch Kollegen da sind. Das ist dann auch der Zeitpunkt, wo ich ihr ein paar meiner Bücher zeigen kann. Das Standardprogramm kennt sie. Es kommen jeden Monat ungefähr acht bis zehn Vertreter zu ihr. Manche Kollektionen sind haarsträubend, manche überteuert, manche wirklich gelungen. Meine ist durchweg Scheiße, wie Sibylle sagt, und zudem teure Scheiße, teure romantische Stammbuchscheiße, lila Herzenscheiße, rosa Herzenscheiße, grüne Zweigescheiße, und blaue Chagallscheiße. Was mal wirklich geil wäre, sagt sie, das wäre eine gelbgrünblaurote Hundertwasserscheiße. Das würde sie den blöden jungen Orgelpfeifen, die sich bei ihr verheiraten sogar noch mit Elan anzudrehen versuchen. Und für die älteren eine Echtlederscheiße mit Stadtwappen. Aber die älteren, die haben ja alle schon ein Stammbuch, die brauchen gar keins mehr. Sagt Sibylle und zeigt mir, wenn keiner der Kollegen mehr da ist und wir Sekt anstatt Kaffee trinken, durch das Spreizen ihrer Beine, dass sie ihren Schlüpfer im Archiv gelassen hat.
Vor vier Jahren, sagt sie, hatte ich hundertzwanzig Hochzeiten im Jahr. Und jetzt. Gerade mal achtzig. Achtzig, wiederholt sie und dehnt die Zahl in ihrem Mund, als müsste die nochmals abgeschmeckt werden.
Man heiratete nicht mehr, ist ihr Resümee.
Mir braucht sie das nicht zu sagen, ich bin seit fünfundzwanzig Jahren Stammbuchverkäufer. Ich weiß, wohin der Hase rennt. Ich kenne jedes verdammte Standesamt in diesem Bundesland, kenne jeden Standesbeamten und mindestens drei seiner Vorgänger. Ich weiß, wie viele Stammbücher vor zwanzig, vor zehn und auch noch vor fünf Jahren zu verkaufen waren. Und wie es jetzt aussieht. Beschissen, um es nett zu formulieren. Kaum jemand heiratete noch, und die es taten, waren entweder jung und knauserig, was heißt, dass sie gänzlich auf den Luxus eines Stammbuches verzichteten und sich einfach ihre Heiratsurkunde in einer billigen Mappe aushändigen ließen, oder sie waren schon älter und damit Wiederholungstäter, die schon mindestens ein gebrauchtes Stammbuch im Bücherschrank hatten und was eine erneute Verwendung desselben betraf, keinerlei Skrupel erkennen ließen. Hauptsache dreißig Öcken gespart. So eine Hochzeit ist ja teuer genug.

Sibylle zieht hörbar den Rotz die Nase hoch.
In Sankt Frohlein, sagte sie, da haben sie diese Scheißburg über diesem Scheißfluss, in den Scheißweinbergen. Die haben Hochzeiten ohne Ende. Und machen das auch noch sonntags.
Ich kenne Sankt Frohlein, sage ich, da sind der Herr Schrabsau und seine nymphomane Elevin…
Die Ömisbauer …
Genau, die Ömisbauer. Die kotzen immer, wegen der Sonntagshochzeiten. Haben sich ein perverses Spiel ausgedacht, um auszulosen, wer es machen muss. Derjenige, der zuerst Dreck am Stecken der Brautleute findet, ist fein raus. Deswegen bläst die Ömisbauer dem debilen Hipo ab und zu einen. Schließlich reicht einmal falsch Parken schon aus, wenn sonst nichts zu finden ist. Schabsau steht mehr auf polizeiliche Führungszeugnisse und Facebook. Ist damit meines Wissens auch erfolgreicher.

Ich lernte Sibylle auf meiner Hochzeit kennen. Sie trug einen blauen Zweiteiler mit weißer Bluse. Auf der Nase eine randlose Brille, die sie unverschämt intelligent aussehen ließ. Nur ihre Stimme klang damals schon wie eine knarzende Tür, dass ich mich fragte, wie es so jemand zur Standesbeamtin bringen konnte. Da kannte ich aber noch nicht ihren Vorgesetzten, ein schwindsüchtiges Hascherl, der sich gerne mal in der Toilette einen herunterholte, bis Sibylle das übernahm.
Meine Frau war enttäuscht von der Trauung. Mir war es egal, ich hatte sowieso nicht zugehört.
Kurz darauf wechselte ich vom Formulargeschäft ins Stammbuchgeschäft. Mein erster Gang war in unser Standesamt, aber da war Sybille schon nicht mehr da. Sie hatte ebenfalls geheiratet und war mit ihrem Mann irgendwohin gezogen. Ein Vierteljahrhundert später kam sie zurück und ergatterte einen Job im Standesamt der Nachbargemeinde. Sie erkannte mich nicht, aber ich sie, weil ich, berufsbedingt, ein fotographisches Gedächtnis habe. Ich kam mit meinen zwei Koffern voller Stammbücher in ihr Büro, sie war gerade am Telefon und machte nur eine verächtliche Geste in meine Richtung, die mich natürlich nicht abschreckte. Stattdessen breitete ich alle Bücher auf dem Tisch vor ihr aus, während sie weiter telefonierte und ihr dabei merklich die Halsschlagader anschwoll.
Dann ging alles sehr schnell. Sybille legte auf und schaute etwa anderthalb Sekunden auf die Bücher.
Keinerkauftdenscheiß, sagte sie und ich sagte, alleliebendenscheiß, meinen Mercedes hab ich allein davon bezahlt.
Den will ich sehen, sagte sie, die meisten, die kommen, haben höchsten einen Astra oder einen Skoda. Keiner von euch Stammbuchhanseln fährt einen Mercedes.
Ich zeigte ihr meinen Mercedes und sie zeigte mir ihr Archiv. Und als ich das erste Mal in ihr war, sagte ich, du hast mich getraut. Da hat sie fast einen Krampf bekommen, aber danach ging es um so besser.

Nach meiner Frau fragt Sibylle nie, obwohl sie genau weiß, dass ich noch verheiratet bin und zwei Kinder habe. Ich glaube, sie genießt es, auf eine ganz besondere Art mit den Früchten ihrer Arbeit verbunden zu sein. Sie selbst ist dreimal geschieden und lebt im Moment mit einem fünfundsiebzigjährigen Maler zusammen, der regelmäßig in der Sparkasse und im Rathaus seine Bilder ausstellt. Eine Tochter hat sie aus zweiter Ehe, die wohnt aber bei deren Vater in der Schweiz. Bei Trauungen, an jener Stelle, wo Sybille über Familie und Kinder spricht, da zwickt es ihr manchmal unterm rechten Lid und es möchte eine Träne herauskullern, was aber nicht erlaubt wird.

Nächste Woche bekomme ich neue Bücher. Lodenscheiße, samtene DU&ICH-Scheiße für schwule und lesbische Paare, die auf das Wort Stammbuch oder Familie nicht mehr so stehen. Und auch eine dicke Lederscheiße, richtig fett, wie für Jäger oder Verteidigungsminister, mit einem Schloss daran, als wäre es ein Keuschheitsgürtel. Ich weiß schon, was Sibylle dazu sagen wird. Gar nichts. Sie wird nur einen flüchtigen Blick darauf werfen, wenn wir aus dem Archiv zurückkommen. Und danach einen Kaffee trinken. Oder einen Sekt.

Kleine Korrekturen nach Hinweisen von Pjotr und Gerda
Zuletzt geändert von Sam am 14.03.2011, 17:50, insgesamt 1-mal geändert.

Sam

Beitragvon Sam » 15.04.2011, 15:46

Hallo Sabine,

vielen Dank fürs Lesen und deine postive Einschätzung des Textes!

Zwei, die auf den Idealen, die sie einfordern und die sie ernähren, herumtrampeln.


Das bringt das moderne Leben manchmal mit sich. Dass man von dem lebt, was man eigentlich verachtet, Dinge einfordert, die man zu geben überhaupt nicht mehr bereit oder nicht mehr in der Lage ist. Und so mancher endet dann als praktizierender Zyniker.

Danke auch für den Hinweis auf den Verschreiber.


Gruß

Sam

heinz

Beitragvon heinz » 17.04.2011, 18:05

... und ich frag mich, wie der Stammbuch-Verkäufer zu seinem Mercedes kommt. Weil er sich so gelungen durch die Büros vögelt? Sybille kauft wohl auch nichts - jedenfalls wohl nicht viel?

Ob man das, womit man seinen Lebensunterhalt verdient, gut finden sollte/muss/kann/darf? Einen solchen Luxus werden sich nur wenige Menschen leisten können.

Da haben sich zwei ihr Leben eingerichtet. Freudlos (bis auf das gemeinsame Ablästern), lustlos (bis auf unbequemes rain-raus), perspektivlos (alles schon probiert). Verschissen halt.

--

passt alles perfekt, ein gelungener Text

Sam

Beitragvon Sam » 25.04.2011, 13:00

Hallo Heinz,

heinz hat geschrieben:... und ich frag mich, wie der Stammbuch-Verkäufer zu seinem Mercedes kommt.


Einer der abgestandenen Verkäufersprüche: Kunden kaufen von Siegern.

Und Sieger fahren nun mal einen Mercedes und keinen Skoda, ob sie es sich leisten können, oder nicht ;-)

Vielen Dank für das "gelungen".


Gruß

Sam

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 15.04.2013, 00:21

Ich bin sicher, dass alles sich genau so abspielt.

Der Mensch ist alles, Engel und Teufel.

Nichts kann mich schockieren, auch die Wahrheit nicht.

Staub, der in einer Urne unter dem Meer liegt.

Staub, der von dem Wind weggetragen wird.

Sam

Beitragvon Sam » 26.04.2013, 19:39

Klimperer hat geschrieben:
Der Mensch ist alles, Engel und Teufel.



Das muss auch so sein. Schließlich hat er diese überirdischen Protagonisten selbst erdacht.


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