I
Es war ein gruselig-schöner Anblick: Jeden Vormittag schlich Gerd zu dem alten Schuppen im Niemandsland hinter den Nachbargrundstücken: in einem kleinen Holundergebüsch stand er, mit alten, verfaulenden Planken, die an manchen Stellen Einlicke in das Dunkel des Inneren boten, zerbröckelnden Dachschindeln und flechtengrünen Flanken. Aber nicht das braunschwarze, baufällige Gebäude war es, das ihn faszinierte: nein, hinter die an verrostenden Eisenhaltern hängenden Fensterrahmen schaute er dann immer, Tag für Tag, Woche für Woche, monatelang, wenn er keine dringenden Aufgaben zu erledigen hatte oder in die Schule mußte. Denn da saß in einem höhlenartigen Fadentrapez, das so lang war wie sein Unterarm und an der ebenen Oberfläche so breit wie seine Hand, an den Holzflügel gepresst, eine riesige, langbeinige, dunkelbraun-fleckige, behaarte Spinne. Mit einer Mischung aus Ekel und unbegründbarer Furcht, diese könnte plötzlich nach vorne, auf ihn zuschnellen, stand er davor und wartete minutenlang, dass sie irgendein Zeichen von Leben, von Bewegung zeigte. Doch die Spinne saß nur da, mit angewinkelten Beinen und stierte vor sich hin, hungrig und lauernd.
II
Erst nach einigen Monaten, als der Hochsommer schon erste Ermüdungserscheinungen zeigte und die Schatten länger wurden, schöpfte er Verdacht. Er nahm ein langes, dünnes Ästchen und näherte sich dem Tier und als es sich auch dann nicht bewegte als er es berührte, piekste er es damit, und richtig, statt des insgeheim immer noch befürchteten Angriffs fiel das Tier auseinander. Zuerst brach eines der Beine ab und dann zerfiel die ihm zugewandte Außenseite des Körpers zu Staub und hinterließ ein Loch, den Durchbruchstellen des Holzschuppens nicht unähnlich. War Gert nun enttäuscht von dem trügerischen Objekt oder seinen eigenen Gefühlen, die ihn auf fast blamable Weise genarrt hatten? Er wußte es nicht genau, war insgeheim aber froh, dass er niemanden als Augenzeugen mitgenommen hatte, jetzt da der Beweis für die völlige Gefahrlosigkeit erbracht war.
III
Jahrzehnte später, als er schon erwachsen war, seine Ausbilung bei der Polizei und vier jahre Streifendienst absolviert hatte, fiel Gerd dieser Anblick spontan wieder ein. Er war seit ein paar Monaten bei der Kriminalpolizei und sah bei einen Einsatz seinen ersten menschlichen Toten. Es hatte vor einer Disco eine Schiesserei gegeben und als er ankam, sah er eine männliche Gestalt dort liegen, etwas älter als er, dunkler Teint und dunkle Haare. Der Tote lag in einem Gespinst aus Blut und breiigen Gehirnresten und starrte ihn mit aufgerissenen, schwarzschillernden Spinnenaugen an. Ah, so ist das, sagte Gerd halblaut, Du bist es, diesmal kriegst Du mich nicht mit Deiner leeren Hülle und laut rief er den eingetroffenen Sanitätern zu, sie sollten für den Toten eine Decke mitbringen.
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Häutungen
Lieber Arne,
ein ganz toller, feiner Text - wobei ich ihn nicht völlig ohne Widerwille unter den Titel/das Thema "Häutungen" bringe, auch wenn Hüllen vorkommen, es geht für mich eher um den Schreck des Unbeweglichen, leeren, vor allem auch das nicht zu begründete an diesem Schreck, der aber trotzdem nicht wegzumachen ist, und die Strategien, die man sich zurecht legt, scheinen auf bestimmte Art skurril und nicht teilbar.
Ein paar (mehr) .-) sprachliche Anmerkungen noch:
Formuierung passt nicht zu einem Kind/jungen Menschen, zudem ist vorher von "vormittags" die Rede. Würde ich streichen.
was ist das?
langbeinige
Besser: unergründbarer oder nicht zu begründender?
zuschnellen
Ich würde nach „angewinkelten Beinen“ streichen. Hier fände ich weniger mehr, gerade das unbewegliche, das Nicht erzeugt ja die Spannung.
hinterlies --> hinterließ
genarrt hatten ? <-- Leerzeichen vor Fragezeichen weg
schwarzschillernden. Wobei ich den ganzen Schlussteil eigentlich streichen würde: "und starrte ihn mit aufgerissenen schwarschillernden Insektenaugen an." . In den vorangehenden Teilen schilderst du nur den Spinnenkörper, seine Haltung und genau daraus zieht der Vergleich hier seine Kraft. Natürlich sind die Augen eines toten Menschen besonders eindrücklich (oder zumindest ist das gängige Vorstellung, ich habe noch nie einen gesehen), aber hier wirkt dieser Vergleich eher schwächend, eben weil du vorher so intesiv und gelungen den Spinnenkörper beschrieben hast. Darin steckt die Energie, nicht in den unheimlichen Spinnenaugen.
Schiesserei --> Schießerei
würde ich streichen, ist mir zu explizit, eben diese Beschreibung leistet der Text als Ganzes
Trotz der vielen kleinen Anmerkungen finde ich den Text wirklich sehr gelungen! Das Bild einer angsthervorrufenden Spinne stand mir total vor Augen für II und III und funktionierte sehr um die Angst und Unsicherheit zu vergegenwärtigen, die dort herrscht (aber eben gerade zu großen Teilen nicht zu sehen ist direkt).
liebe Grüße,
Lisa
ein ganz toller, feiner Text - wobei ich ihn nicht völlig ohne Widerwille unter den Titel/das Thema "Häutungen" bringe, auch wenn Hüllen vorkommen, es geht für mich eher um den Schreck des Unbeweglichen, leeren, vor allem auch das nicht zu begründete an diesem Schreck, der aber trotzdem nicht wegzumachen ist, und die Strategien, die man sich zurecht legt, scheinen auf bestimmte Art skurril und nicht teilbar.
Ein paar (mehr) .-) sprachliche Anmerkungen noch:
, immer wenn er es zeitlich einrichten konnte.
Formuierung passt nicht zu einem Kind/jungen Menschen, zudem ist vorher von "vormittags" die Rede. Würde ich streichen.
Webentrapez
was ist das?
langarmige
langbeinige
Unbegründbarer
Besser: unergründbarer oder nicht zu begründender?
zu schnellen
zuschnellen
Doch die Spinne saß nur da, mit angewinkelten Beinen und stierte vor sich hin, hungrig und lauernd.
Ich würde nach „angewinkelten Beinen“ streichen. Hier fände ich weniger mehr, gerade das unbewegliche, das Nicht erzeugt ja die Spannung.
Er nahm ein langes (KOMMA) dünnes Ästchen und (KOMMA) näherte sich dem Tier und als es sich auch nicht bewegte (KOMMA) als er es damit berührte, piekste er es, und richtig, statt des insgeheim immer noch befürchteten Angriffs fiel das Tier auseinander
hinterlies --> hinterließ
genarrt hatten ? <-- Leerzeichen vor Fragezeichen weg
schwarschillernden
schwarzschillernden. Wobei ich den ganzen Schlussteil eigentlich streichen würde: "und starrte ihn mit aufgerissenen schwarschillernden Insektenaugen an." . In den vorangehenden Teilen schilderst du nur den Spinnenkörper, seine Haltung und genau daraus zieht der Vergleich hier seine Kraft. Natürlich sind die Augen eines toten Menschen besonders eindrücklich (oder zumindest ist das gängige Vorstellung, ich habe noch nie einen gesehen), aber hier wirkt dieser Vergleich eher schwächend, eben weil du vorher so intesiv und gelungen den Spinnenkörper beschrieben hast. Darin steckt die Energie, nicht in den unheimlichen Spinnenaugen.
und vier jahre
Schiesserei --> Schießerei
mit Deiner leeren Hülle und laut rief er den eingetroffenen Sanitätern zu, sie sollten eine Decke mitbringen, für den Toten.
würde ich streichen, ist mir zu explizit, eben diese Beschreibung leistet der Text als Ganzes
Trotz der vielen kleinen Anmerkungen finde ich den Text wirklich sehr gelungen! Das Bild einer angsthervorrufenden Spinne stand mir total vor Augen für II und III und funktionierte sehr um die Angst und Unsicherheit zu vergegenwärtigen, die dort herrscht (aber eben gerade zu großen Teilen nicht zu sehen ist direkt).
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Hallo Lisa, danke für Deinen Kommentar und die vielen entdeckten Fehlen. Diese und viele Deiner Vorschläge sind in die Korrektur eingeflossen, nur "unbegründbar",die "angewinkelten Beine" und den Schlussteil lies ich stehen.
Ersterer erschien mir im Zusammenhang einer ängstlichen Haltung mit möglicherweise Rechenschaft fordernden Eltern im Hintergrund angemessen, die angesprochene Haltung kommt bei Häutungen größerer Spinnen wohl sehr häufig vor und der Schluß ist mir als Rückkehr zur Hauptperson schon wichtig.
Danke nochmals und viele Grüße !
Ersterer erschien mir im Zusammenhang einer ängstlichen Haltung mit möglicherweise Rechenschaft fordernden Eltern im Hintergrund angemessen, die angesprochene Haltung kommt bei Häutungen größerer Spinnen wohl sehr häufig vor und der Schluß ist mir als Rückkehr zur Hauptperson schon wichtig.
Danke nochmals und viele Grüße !
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