sturmflut

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 14.07.2011, 02:02

sturmflut


nach der großen flut
sammelten die frauen und kinder
angeschwemmte schiffsplanken
und treibgüter

während wir männer
den schiffbrüchigen das gold
von steifgequollenen fingern
und aus erstickten kiefern brachen

und sie dann
begruben

-

wir schielten rüber
zu den jungen witwen
und witterten
unsere chance
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 14.07.2011, 09:42, insgesamt 2-mal geändert.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Oldy

Beitragvon Oldy » 14.07.2011, 08:14

Hallo Thomas,

heftig und wohl in früheren Zeiten an den KüstenGang und Gäbe. Erinnert mich ein wenig an die Bewohner von Antonio-Bay in dem Film "The Fog", die ein Schiff mit Absicht auf Klippen lockten und dann Schiff und Passagiere plünderten. Die kamen dann allerdings nach 200 Jahren zurück und rächten sich blutig.
Bei deinem Text ist das Kopfkino gleich angesprungen.
Der erzählt kurz und prägnant eine Geschichte der Gier, körperlich wie materiell.

Korrekturvorschlag entfernt, habe erst jetzt gesehen, wo ich mich hier befinde.

lg
Uwe

Niko

Beitragvon Niko » 14.07.2011, 22:42

diese verlyrisierte piraterie ist mir zu plakativ, zu derbe. mich als betrachter schauert eine mixtur von piratenromantik, horrorkrimi und holocaust. und das ziemlich dick aufs leserauge gedrückt. manchmal mag ich´s deftig. hier aber hätte ich mir feinsinnige, subtile bearbeitungen des themas gewünscht. der autor mag das abtun mit "so ist die rauhe wirklichkeit". ich sage aber, dass mir zumindest ein kleiner aspekt im ganzen fehlt, warum es so ist, das rauhe, wirkliche.

so werde ich mit einer gewissen brutalität überfallen, die mich aber nicht mitreißt, sondern eher ein klein wenig (wirklich nur ein klein wenig) abstößt.

liebe grüße: niko

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 15.07.2011, 00:56

So schön und prägnant das Gedicht ist, mir scheint es doch allzu deutlich durch fremde ZUnge gesagt. Die Ich-Form funktioniert nicht, zumindest bei mir nicht - das vom Text evozierte Ich würde nicht so formulieren.

Schade, ich habe da auch kein Rezept dafür.

Nachtgruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 15.07.2011, 12:19

Hallo Tom, darf ich einen Vorschlag wagen?

Es sollen

die Frauen und Kinder - nach der großen Flut
angeschwemmte schiffsplanken
und treibgüter
gesammelt haben

während die männer
den schiffbrüchigen das gold
von steifgequollenen fingern
und aus erstickten kiefern brachen

und sie dann
begruben

-

derweil schielten sie rüber
zu den jungen witwen
und witterten
ihre chance


so (in etwa) gefällt es mir sehr gut, mit diesem Abstand ...

lg
R

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 15.07.2011, 12:38

FAQs Publicus

Was ist der Sinn dieses Unterforums?
Der blaue Schlegel soll eine Alternative zu allgemeinen Textarbeit im blauen Salon darstellen. Er ist für Autoren gedacht, die sich ihrer Texte sicher sind und denen an einem Leseeindruck liegt, der jenseits von Änderungsvorschlägen, Korrekturanregungen oder einem knappen, gerne gelesen’ oder ‚nicht gerne gelesen’ liegt. Hier wird der Ernstfall simuliert: Ein Text wurde veröffentlicht und ist nun der Beurteilung der Leser und Kritiker ausgeliefert, ohne dass der Autor die Möglichkeit hat, sich zu erklären.

Desweiteren soll der blaue Schlegel Lesern die Möglichkeit bieten, ihre Eindrücke ganz subjektiv zu formulieren, ohne sich Gedanken über den Autor zu machen. Der hat durch das Einstellen seines Textes schon deutlich zu verstehen gegeben, dass er mit jeder Art von Kritik umzugehen weiß.
Man schreibt weniger für den Autor, als für sich selbst und andere Leser. Kritik in Form von wortgewordener Leseerfahrung – wodurch die Kritik/Interpretation selbst zu einem Stück Literatur wird.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 15.07.2011, 12:42

Der Blaue Schlegel ...

ja.

das habe ich einfach nicht gesehen. Eine Unsitte: ich gehe immer über das Portal auf die Texte zu, nicht nach Kategorie ...

werde versuchen aufmerksamer zu sein ...


lG
R

Sam

Beitragvon Sam » 18.07.2011, 18:05

Mit das Verstörendste am Tod ist, dass das Leben weiter geht. Nur für den Gestorbenen hört die Welt sich auf zu drehen. Den Lebenden aber ist kein Stillstand vergönnt, und im Rahmen der jeweiligen Konvention gilt es nicht nur so weiter zu leben wie vorher, sondern auch die Lücken zu schließen und sich den Veränderungen anzupassen. Und wenn's so ist, auch Kapital daraus zu schlagen. Sei es in Form einer Erbschaft oder weil man dem Toten die Goldzähne aus dem Kiefer hebelt. Eine Hinterlassenschaft anderer Art sind durch den Tod gekappte Beziehungen, deren lose Enden von den noch Lebenden aufgenommen werden können. Das ist heute nicht anders wie vor hundert oder tausend Jahren. Nicht umsonst ist die enge Beziehung zwischen Thanatos und Eros durch die Jahrhunderte ein so zentrales Thema in der Literatur, weil gerade im Angesicht des Todes das Leben sich mit aller Gewalt behaupten will, gleichzeitig aber so fragwürdig zu handeln versteht. (Ich habe einmal eine Spanierin kennengelernt, die am Tag der Beerdigung ihres Mannes von den beiden Brüdern des Verstorbenen vergewaltigt wurde).

Das Gedicht erzählt also nicht wirklich etwas Neues. Die Rahmenhandlung ist durchaus austauschbar. Natürlich kommen durch das Archaische auch gewisse Besitzansprüche ins Spiel, die uns heute befremdlich erscheinen. Wer sich an des Toten Kiefer gütlich tut, kann sich doch auch des Schoßes bemächtigen, den er einst sein eigen nannte.

Ich frage mich allerdings, ob das alles so zusammen geht. Wenn denn die Witwen der Ertrunkenen vor Ort sind, dann kann es sich bei den Verstorbenen doch nicht um Fremde gehandelt haben, sondern um Nachbarn, Freunde vielleicht. Und denen bricht man das Zahngold heraus und streift ihnen die Ringe ab? Zweiteres vielleicht, um sie den Witwen zu übergeben. Aber ich kenne mich mit den nordischen Gebräuchen nicht wirklich aus. Es erscheint mir nur wenig glaubhaft.

Da das Thema ein schon sehr oft beackertes Feld ist und sprachlich, außer den "erstickten Kiefern", nicht ein wirklich neuer Weg gegangen wurde (im Gegenteil: "witterten unser Chance" ist so nahe am Ungangssprachlichen, dass es fast trivial wirkt), hinterlässt das Gedicht bei mir den schnell verblassenden Eindruck einer reinen Nacherzählung.

Jelena

Beitragvon Jelena » 20.10.2011, 09:49

Das Gedicht erzählt eine Tragödie, die über die einer Naturkatastrophe hinaus geht. Die Tragödie wirkt auf mich unaufhaltsam und unendlich, eine Tragödie zwischen Männern und Frauen. Wir Männer, so heißt es hier. Wir, die wir das begraben, von dem wir vorher genommen haben. Wir Männer und Jäger. Die Witterung geht hier deshalb für mich über das Umgangssprachliche hinaus. Der Mann tritt als Tier auf. Die Frauen treten als Sammler auf, als wollten sie etwas bewahren, den Tod nicht akzeptieren. Die Männer schlachten aus, brechen Gold aus den Kiefern, das angeschwemmte Treibgut entgültig zerstörend. Steifgequollene Finger scheinen Teil ihres Alltags zu werden, ein Tribut für den Genuss des schweren Seegangs, in diesem Fall halt mit tödlichem Ausgang. Die Frauen, die Witwen, am Ende auch nur ein Stück Treibgut, was sie vereinnahmen können. Sie wollen siegen, sie wollen begraben.
Die Grausamkeit, die eben auch das nackte Leben ist, wird hier in einfachen Worten erzählt. Trotzdem sind die Worte mit Bedacht gewählt, haben Tiefe und Symbolcharakter. Das macht für mich die Qualität dieses Gedichts aus.

pjesma

Beitragvon pjesma » 27.10.2011, 18:32

so ähnlich wie jelena sehe ich das auch...es geht in diesem gedicht um überleben (in extremsituationen). bei männern fallen die moralschranken ins nichts, die frauen wittern auch ihre chance zu überleben wenn sie sich dem sieger hergeben...es beunruhigt mich seltsam, dieses gedicht...es ist wie ein altes schlachtgemälde, ein wahres stück blutigen krieges...aber gleichzeitig spricht das gedicht auch den unmoralisches alltägliches "handel" an...

am "begraben" stolpere ich...hat es bedeutung? will es mir sagen dass das immernoch menschen sind, weil der begräbnissritual sie noch von den tieren unterscheidet? will mich dieses "begraben" versöhnlich stimmen? ich weiß es nicht...mir passt das nicht zu dem rest. mindestens gilt in meiner vorstellung dieser akt der gnade nicht zu dem ethischresistentem rest...

ein starkes gedicht, bleibt hallen. und beunruhigen.


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