Die Sonne schickte ein paar zögerliche Strahlen zwischen den hohen Häusern durch. Es war kalt an diesem frühen Dezembermorgen nach der sternklaren Nacht. In der Fußgängerzone herrschte noch Ruhe, die letzten Anlieferfahrzeuge rangierten. Geöffnet hatten vor neun Uhr nur die Bäckereien, deshalb duftete es nach Frischgebackenem und anheimelnd nach Kaffee. Langsam ging sie auf der etwas ansteigenden Geschäftsstraße rechts entlang der Schaufenster. Die Jacke die sie trug, hatte vor Jahren gewärmt, der Stoff war mittlerweile dünn geworden. Neue Winterschuhe würde sie ebenfalls brauchen, sollte der Frost anhalten und Schnee dazukommen. Das Kaufhaus machte wie die meisten anderen Läden nicht vor neun Uhr, manche sogar erst um zehn Uhr auf. Sie hatte keine Eile und sah sich in Ruhe die Auslagen an, um sich ein Bild zu machen von den Dingen, die es gab und was sie kosteten. Sie musste rechnen, mit jedem Euro und wollte feststellen, ob das Geld, das sie sich über Monate abgeknapst hatte, überhaupt reichen würde, eine Jacke und Schuhe zu kaufen. Es waren die schönen, kostbaren Dinge, die sie magisch anzogen.
Natürlich konnte sie sich keinen himmlisch leichten, weichen Cashmere-Mantel leisten. Die Zeiten waren lange vorüber, einen solchen bewundern, sich vorstellen, wie es sich anfühlt ihn anzuprobieren, das war auch ein feines Gefühl. Für einen kurzen Moment sah sie sich in der Schaufensterscheibe in diesen Mantel gehüllt, den sie so eingehend betrachtete. Der Betrag, den sie dafür hätte ausgeben müssen, überstieg bei weitem ihre Ersparnisse. Wenn das Geschäft später geöffnet hatte, könnte sie ihn vielleicht doch einmal … sie verwarf den Gedanken. Zurück in die Realität! Sie setzte sich in Bewegung und blieb wenige Schritte weiter stehen, fasziniert von den Auslagen des Juweliergeschäftes. Sie ließ sich gern ablenken von den gelungenen Kreationen, die sie wie Kunstwerke in Museen betrachten konnte. Es waren erlesene Goldschmiedearbeiten, die die Steine sehr individuell zur Geltung brachten. Das konnte sie beurteilen, denn in ihrer Familie hatte Schmuck eine lange Tradition. Ein großer Brillant, den sie geerbt hatte, war ihr nach den Verkäufen der anderen Schmuckstücke geblieben. Sie trug ihn so gut wie nie weil sie fühlte, dass dieser Ring nicht mehr zu ihr passte. Sie verweilte und schwelgte in den satten Farben eines tiefblauen Saphirs.
Dann entschied sie sich, gegenüber einen Kaffee zu trinken. Dieser wärmte sie bis in die Fußsohlen, den dünnen Stiefel zum Trotz.
Neben dem Juwelier lag ein Schreibwarengeschäft. Wunderschöne Stifte, denen sie ansehen konnte, dass sie gut in der Hand lägen. So, wie der alte Sterlingsilber-Kugelschreiber, den sie von ihrem Vater geerbt hatte und den sie hütete als kostbaren Schatz. Alles war weihnachtlich geschmückt und zwischen all diesen Stiften, Füllhaltern und Etuis lagen Karten mit altmodischen Motiven. Die Abbildungen zeigten Kinder mit pelzverbrämten Mützen und Muffs beim Schlittschuhlaufen oder Schlittenfahren. Trotz roter Nasen sahen sie glücklich aus und keinesfalls so, als ob sie frieren würden. Sie schrieb schon lange keine Weihnachtspostkarten mehr. Ein paar Schritte weiter war das Schuhgeschäft mit preiswerten Schuhen. Sie erschrak dennoch. Wie lange war es bloß her, dass sie jene Stiefel, die sie trug, gekauft hatte? Offensichtlich hatte sie nicht mitbekommen, dass die Preise davon galoppiert waren in den letzten Jahren oder im Jahrzehnt.
Eigentlich - sprach sie vor sich hin - waren die alten Stiefel doch noch ganz gut. Frische Absätze im letzten Winter und wenn sie jetzt ein paar dicke Einlegesohlen kaufen würde, ginge es bestimmt noch eine weitere Saison. Ja, das war eine gute Idee, dann blieb reichlich Geld für einen warmen Mantel.
Die Geschäfte öffneten und nach und nach belebte sich die Straße. Erste Melodien von Straßenmusikanten drangen an ihr Ohr. Wie schön, dachte sie und ging in die Richtung, aus der die Töne ihr Ohr erreichten. Sie ließ ich vom Klang verzaubern und applaudierte begeistert, als die Musiker das erste Stück zu Ende gespielt hatten. Es waren alte Filmmelodien, keine sentimentalen Weihnachtslieder. Sie blieb für vier oder waren es fünf Musikstücke stehen und lächelte fremde Menschen an.
Der Entschluss, keine Stiefel zu kaufen, hatte einen Vorteil. Sie konnte den Musikern, die ziemlich …, jedenfalls ärmer als sie selbst aussahen, ruhig einen kleinen Schein zustecken.
Es war ein Glücksgefühl in ihr, das nur ihr allein gehörte. Sie brauchte im Grunde wenig um sich zu freuen. Und die Traurigkeit war ohnehin ein alter schwarzer Hund, der gern hinterm Ofen schlief.
©GJ20111201/20130403
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