Ein warmer Mantel

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Gerda

Beitragvon Gerda » 08.12.2011, 11:16

Ein warmer Mantel Überarbeitung

Die Sonne schickte ein paar zögerliche Strahlen zwischen den hohen Häusern durch. Es war kalt an diesem frühen Dezembermorgen nach der sternklaren Nacht. In der Fußgängerzone herrschte noch Ruhe, die letzten Anlieferfahrzeuge rangierten. Geöffnet hatten vor neun Uhr nur die Bäckereien, deshalb duftete es nach Frischgebackenem und anheimelnd nach Kaffee. Langsam ging sie auf der etwas ansteigenden Geschäftsstraße rechts entlang der Schaufenster. Die Jacke die sie trug, hatte vor Jahren gewärmt, der Stoff war mittlerweile dünn geworden. Neue Winterschuhe würde sie ebenfalls brauchen, sollte der Frost anhalten und Schnee dazukommen. Das Kaufhaus machte wie die meisten anderen Läden nicht vor neun Uhr, manche sogar erst um zehn Uhr auf. Sie hatte keine Eile und sah sich in Ruhe die Auslagen an, um sich ein Bild zu machen von den Dingen, die es gab und was sie kosteten. Sie musste rechnen, mit jedem Euro und wollte feststellen, ob das Geld, das sie sich über Monate abgeknapst hatte, überhaupt reichen würde, eine Jacke und Schuhe zu kaufen. Es waren die schönen, kostbaren Dinge, die sie magisch anzogen.
Natürlich konnte sie sich keinen himmlisch leichten, weichen Cashmere-Mantel leisten. Die Zeiten waren lange vorüber, einen solchen bewundern, sich vorstellen, wie es sich anfühlt ihn anzuprobieren, das war auch ein feines Gefühl. Für einen kurzen Moment sah sie sich in der Schaufensterscheibe in diesen Mantel gehüllt, den sie so eingehend betrachtete. Der Betrag, den sie dafür hätte ausgeben müssen, überstieg bei weitem ihre Ersparnisse. Wenn das Geschäft später geöffnet hatte, könnte sie ihn vielleicht doch einmal … sie verwarf den Gedanken. Zurück in die Realität! Sie setzte sich in Bewegung und blieb wenige Schritte weiter stehen, fasziniert von den Auslagen des Juweliergeschäftes. Sie ließ sich gern ablenken von den gelungenen Kreationen, die sie wie Kunstwerke in Museen betrachten konnte. Es waren erlesene Goldschmiedearbeiten, die die Steine sehr individuell zur Geltung brachten. Das konnte sie beurteilen, denn in ihrer Familie hatte Schmuck eine lange Tradition. Ein großer Brillant, den sie geerbt hatte, war ihr nach den Verkäufen der anderen Schmuckstücke geblieben. Sie trug ihn so gut wie nie weil sie fühlte, dass dieser Ring nicht mehr zu ihr passte. Sie verweilte und schwelgte in den satten Farben eines tiefblauen Saphirs.
Dann entschied sie sich, gegenüber einen Kaffee zu trinken. Dieser wärmte sie bis in die Fußsohlen, den dünnen Stiefel zum Trotz.
Neben dem Juwelier lag ein Schreibwarengeschäft. Wunderschöne Stifte, denen sie ansehen konnte, dass sie gut in der Hand lägen. So, wie der alte Sterlingsilber-Kugelschreiber, den sie von ihrem Vater geerbt hatte und den sie hütete als kostbaren Schatz. Alles war weihnachtlich geschmückt und zwischen all diesen Stiften, Füllhaltern und Etuis lagen Karten mit altmodischen Motiven. Die Abbildungen zeigten Kinder mit pelzverbrämten Mützen und Muffs beim Schlittschuhlaufen oder Schlittenfahren. Trotz roter Nasen sahen sie glücklich aus und keinesfalls so, als ob sie frieren würden. Sie schrieb schon lange keine Weihnachtspostkarten mehr. Ein paar Schritte weiter war das Schuhgeschäft mit preiswerten Schuhen. Sie erschrak dennoch. Wie lange war es bloß her, dass sie jene Stiefel, die sie trug, gekauft hatte? Offensichtlich hatte sie nicht mitbekommen, dass die Preise davon galoppiert waren in den letzten Jahren oder im Jahrzehnt.
Eigentlich - sprach sie vor sich hin - waren die alten Stiefel doch noch ganz gut. Frische Absätze im letzten Winter und wenn sie jetzt ein paar dicke Einlegesohlen kaufen würde, ginge es bestimmt noch eine weitere Saison. Ja, das war eine gute Idee, dann blieb reichlich Geld für einen warmen Mantel.
Die Geschäfte öffneten und nach und nach belebte sich die Straße. Erste Melodien von Straßenmusikanten drangen an ihr Ohr. Wie schön, dachte sie und ging in die Richtung, aus der die Töne ihr Ohr erreichten. Sie ließ ich vom Klang verzaubern und applaudierte begeistert, als die Musiker das erste Stück zu Ende gespielt hatten. Es waren alte Filmmelodien, keine sentimentalen Weihnachtslieder. Sie blieb für vier oder waren es fünf Musikstücke stehen und lächelte fremde Menschen an.
Der Entschluss, keine Stiefel zu kaufen, hatte einen Vorteil. Sie konnte den Musikern, die ziemlich …, jedenfalls ärmer als sie selbst aussahen, ruhig einen kleinen Schein zustecken.
Es war ein Glücksgefühl in ihr, das nur ihr allein gehörte. Sie brauchte im Grunde wenig um sich zu freuen. Und die Traurigkeit war ohnehin ein alter schwarzer Hund, der gern hinterm Ofen schlief.

©GJ20111201/20130403


► Text zeigen
Zuletzt geändert von Gerda am 03.04.2013, 12:07, insgesamt 5-mal geändert.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 11.01.2012, 18:08

Liebe Gerda,
ich habe den Text schon im letzten Jahr gelesen, und zwar sehr gern. Jetzt gerade ein zweites Mal (und wieder gern).
Die Andeutungen, mit denen Du arbeitest, machen die Protag. sehr lebendig und plastisch, ohne andererseits zuviel zu sagen.
Abgesehen von einigem, was meine Vorkommentatoren und -innen schon gesagt haben, wollte ich noch anmerken:

Ein einziges Erbstück, ein großer Brillant, den sie noch nicht verkauft hatte, trug sie fast nie.


Der Satz macht zwei Purzelbäume. Einen grammatikalischen, denn anfangs steht das Erbstück als Subjekt (= ein großer Brillant, den sie noch nicht verkauft hatte), dann wird es plötzlich zum Akkustivobjekt (= trug sie fast nie).
"Ein einziges Erbstück" ist ja insoweit neutral, aber ich empfinde den Dreher im Satz als störend.
Und auch inhaltlich ist im Satz eine unvermittelte Wendung, denn der Satz bedeutet streng genommen, dass sie dieses Erbstück nie trägt, also umgekehrt ihre anderen Erbstücke häufig trägt. Gemeint ist aber doch wohl, dass ihr nur dieses einzige geblieben ist.
Ich würde zwei Sätze daraus machen oder formulieren: "Sie besaß nur ein kostbares Schmuckstück, ein Familienerbstück (besser wäre, genau zu bezeichnen - ein Ring, Brosche, Anhänger? - dann kann man auch das zweimalige -stück vermeiden) und dieses trug sie fast nie."

Der letzte Satz ist wunderschön (das Komma hinter Traurigkeit gehört da aber nicht hin).

Liebe Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Herby

Beitragvon Herby » 11.01.2012, 20:40

Liebe Gerda,

hier nun meine Vorschläge zum sprachlichen "Überbügeln". Ich habe allerdings jetzt nicht die anderen Kommentare durchgelesen - wenn sich da was überschneidet, einfach schnell wieder vergessen.



Gerda hat geschrieben:Und die Traurigkeit, war ohnehin ein alter schwarzer Hund, der gern hinterm Ofen schlief.

Ohne Komma nach Traurigkeit.

Gerda hat geschrieben:Langsam ging sie, auf der etwas ansteigenden Geschäftsstraße rechts, entlang der Schaufenster.

Der Satz klingt durch die Seitenangabe und die Kommas seltsam für mich. Ich würde sie mit den beiden Kommas weglassen. Also: Langsam ging sie auf der etwas ansteigenden Geschäftsstraße entlang der Schaufenster.

Gerda hat geschrieben:Die Jacke, die sie trug hatte vor Jahren gewärmt,

Komma nach trug.

Gerda hat geschrieben:Das Kaufhaus machte wie die meisten anderen Läden nicht vor neun Uhr, manche sogar erst um zehn Uhr auf.

Fehlt hier nicht im zweiten Teil ein Verb? Das erste ist ja Singular (machte), dann kommt aber der Plural (manche)
Also: "(...)manche öffneten sogar erst...

Gerda hat geschrieben:Sie hatte keine Eile und sah sich in Ruhe die Auslagen an, um sich ein Bild zu machen, von den Dingen die es gab und was sie kosteten.

Komma hinter "machen" weg, dafür eins setzen hinter "Dingen".

Gerda hat geschrieben:Die Zeiten waren lange vorüber, aber bewundern, sich vorstellen wie es sich anfühlt ihn anzuprobieren,

Komma nach vorstellen.

Gerda hat geschrieben:Für einen kurzen Moment sah sich in der Schaufensterscheibe in diesen Mantel gehüllt,

Hier fehlt Subjekt "sie" nach "sah".

Gerda hat geschrieben:Aber der Betrag, den sie hätte dafür ausgeben müssen überstieg bei weitem ihre Ersparnisse.

Komma nach "müssen".

Gerda hat geschrieben: Sie setzte sich in Bewegung und blieb wenige Schritte weiter, fasziniert von den Auslagen des Juweliergeschäftes stehen.

Komma vor "stehen".

Gerda hat geschrieben:Wie lange war es bloß her, dass sie die Stiefel, die sie trug gekauft hatte?

Komma nach "trug".

Gerda hat geschrieben:Offensichtlich hatte sie nicht mitbekommen, wie die Preise davon galoppiert waren in den letzten Jahren, oder im Jahrzehnt.

Ohne Komma nach "Jahren".

Gerda hat geschrieben:Wie schön dachte sie und ging in die Richtung,

Komma nach "schön".

Gerda hat geschrieben:Der Entschluss, keine Stiefel zu kaufen hatte einen Vorteil

Komma nach "kaufen".

Gerda hat geschrieben:Wie verzaubert lauschte sie und applaudierte heftig, als die Musiker, das erste Stück zu Ende gespielt hatten.

Ohne Komma nach "Musiker".


Hoffentlich hab ich jetzt nix verschlimmbessert und du kannst mit meinen Vorschlägen etwas anfangen.

Liebe Grüße,
Herby

Gerda

Beitragvon Gerda » 12.01.2012, 10:55

Liebe Zefi,

vielen Dank, dass du mir zu diesem Text noch geschrieben hast. Freut mich sehr!
Du hast Recht, da habe ich etwas nachlässig formuliert, ich werde deinem Vorschlag folgen und zwei (brillante) ;-) Sätze daraus machen.

Lieber Herby,

dir vielen herzlichen Dank für die konkreten Hinweise und sowieso, dafür dass du dir die zeit genommen hast.

Jetzt, so denke ich, haben die "Finde-Füchse" im Blauen Salon alle Schwächen benannt, so dass ich mich heute ans Überarbeiten begebe.

Liebe Alle,


ihr habt gearbeitet wie ein GUTES Lektorat, dafür meinen besonderen und herzlichen Dank.

Alles Liebe euch und einen guten Tag!
Gerda

PS ... liebe Annette, mit dem deutschen "Kaschmir" werde ich nicht wirklich warm ;-)... Cashmere klingt so viel fließender, weicher ... hm ...

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 30.03.2013, 11:27

Eine schöne, traurige, melancholische Geschichte.
Eine offensichtlich alte, alleinlebende, verarmte feine Dame hat vor, sich einen neuen Wintermantel zu kaufen. Und neue Schuhe. Sie hat sich seit Jahren keine neue Schuhe gekauft und stellt fest, wie teuer sie geworden sind ...
Sie trinkt einen Kaffee, um sich zu wärmen, und gibt Straßenmusikanten etwas Geld.
Es ist Weihnachtszeit. "In der Fußgängerzone herrscht noch Ruhe, ein paar Anlieferfahrzeuge rangierten."
"Sie musste rechnen, mit jedem Euro."
"Natürlich konnte sie sich keinen himmlisch leichten, weichen Cashmere-Mantel leisten. Die Zeiten waren lange vorüber... aber bewundern, sich vorstellen wie es sich anfühlt ihn anzuprobieren..."
Frauen können das. Vielleicht gehen sie deshalb so gerne einkaufen, oder einfach "window-shopping".
"In ihrer Familie hatte Schmuck eine lange Tradition." "Ein einziges Erbstück, ein großer Brillant, den sie noch nicht verkauft hatte, trug sie fast nie. Es passte nicht mehr zu ihr. Sie verweilte und schwelgte in den satten Farben eines tiefblauen Saphirs."
"Sie schrieb schon lange keine Weinachts Postkarten mehr."
Trotz Verarmung und Not ist keine Bitterkeit in ihr.
Die Musik der Straßenmusikanten erfreut sie. "Es war eine Freude in ihr, die nur ihr allein gehörte. Sie brauchte im Grunde wenig um sich zu freuen."
Ich lese diese Geschichte fast wie ein Gedicht. Für mich ist es lyrische Prosa.
Es erinnert mich an Baudelaire.

Klimperer

Gerda

Beitragvon Gerda » 01.04.2013, 23:17

Hallo Klimperer / Carlos,

herzlichen Dank für das Hochholen einer alten Geschichte aus der Vorwehnachtszeit 2011. (Die Temperaturen um Ostern waren ganz ähnlich wie in jener beschriebenen Zeit) ;-)
Ich freue mich sehr, dass die Geschichte wie Lyrische Bilder auf dich wirkt.

Von Charles Baudelaire kenne ich einige Gedichte aus "Fleurs du Mal", in verschiedenen Übersetzungen. Interessant für mich dass du beim Lesen an ihn erinnert wurdest. Ich verehre ihn, wäre aber nie auf die die Idee gekommen, dass einer meiner Texte eine Assoziation zu ihm hervorrufen könnte.

Herzliche Grüße
Gerda

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 02.04.2013, 07:34

Hallo Gerda,

ich danke dir für deine Rückmeldung
Ich wollte eigentlich mehr zu deiner Geschichte schreiben, aber ich habe nicht immer die Zeit, die ich mich dafür wünsche.

Zum Beispiel, das sie nicht nur eine schöne, traurige, melancholische Geschichte ist, sondern auch und vor allen Dingen eine optimistische Geschichte.

Sie fängt mit Sonnenstrahlen an, und am Schluss wird die Traurigkeit hinter den Ofen verbannt.

Diese einsame Frau, die du beschreibst, hat einen starken, positiven Charakter.

Das mit Baudelaire hat mit einer seiner kurzen Geschichten zu tun, in der er schreibt, dass er gerne alte Menschen, die er per Zufall auf der Straße sieht, manchmal für eine Weile verfolgt.

Baudelaire ist in Paris, auf dem Friedhof von Montparnasse begraben. Er liegt neben seinem Stiftvater, den er sehr hasste ...
Da du in Frankfurt wohnst, dachte ich am Anfang an die Zeil, nur die leichte Steigung hat mich ein wenig irritiert.

Herzliche Grüße,
Carlos

Gerda

Beitragvon Gerda » 02.04.2013, 11:44

Hallo Carlos,

das Rätsel um die Einkaufsstraße, welche Pate gestanden hat, kann ich gern lüften.
Es handelt sich um die Louisenstraße in Bad Homburg vor der Höhe.
http://de.wikipedia.org/wiki/Louisenstr ... Homburg%29
Bad Homburg ist Kurstadt und ein Ort, in dem viele wohlhabende Menschen leben. Es gibt eine ganz Reihe kleiner "nobler" Geschäfte in der Louisenstraße ...

Bei der Entwicklung der Figur habe ich Beobachtungen, Erfahrungen und den Wunsch verarbeitet, dass man sich trotz finanzieller Enge oder gar Not die Lebensfreude bewahren möge.

Liebe Grüße
Gerda

Gerda

Beitragvon Gerda » 03.04.2013, 12:26

Dank Klimperers Hochholen meines Textes, habe ich mich nun endlich drangesetzt, die vielen guten Tipps, von Monika, Annette, Zefira, und Herby entweder umzusetzen (Kommata) oder aber Dopplungen zu umgehen, bzw. Varianten für "Stolpersteine" zu finden.
Ich kann die winzigen Änderungen, Streichungen nicht im Einzelnen benennen, nur so viel: Ich habe mich an euren Vorschlägen orientiert.
Es hat mich unangenehm berührt, dass ich euch zwar geantwortet habe, die Überarbeitung aber auf der Strecke blieb.


Ich schrieb ja gestern schon etwas unter den Text, was ich heute aus dem Seitenkopf heruntergeholt habe.
Korrektur des von Zefira angemerkten Stolpersatzes ... Sorry Zefi, ich hatte das völlig vergesen.

Tja, ich war wohl etwas voreilig, als ich versprach, alles zu korrigieren, lieber Herby ... du kennst ja meine Kommataschwäche ... Auch das habe ich versäumt ...
Ist jetzt aber für heute Abend vorgemerkt.


Es tut mir leid, dass ich deart lange gebraucht habe, mich mit euren Vorschlägen auseinander zu setzen.
Bitte entschuldigt die verspätete Wertschätzung eurer Beschäftigung mit meiner Geschichte.
Habt vielen Dank!

Auch dir danke ich, Carlos, der du den "Stein ins rollen" gebracht hast.


Herzliche Grüße
Gerda


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 7 Gäste