Anhörung

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Quoth
Beiträge: 1853
Registriert: 15.04.2010
Geschlecht:

Beitragvon Quoth » 19.01.2012, 12:19

Sind Sie schon mal zu einer Anhörung aufs Gericht geladen worden? Das ist natürlich nichts Alltägliches, jedenfalls nicht für mich. Ich verbringe meine Tage in Ruhe und Bescheidenheit und huldige dem Grundsatz: Glücklich ist, wer mit Behörden nichts zu tun hat! Vor einigen Wochen teilte mir das Finanzamt mit, dass ich eine Steuererklärung nicht abgeben müsse. Das war ein Festtag, ich habe eine Flasche Blauburgunder darauf geöffnet und fröhlich heruntergeschüttet. Nun also zur Anhörung! Was zieht man zu einer Anhörung an? Natürlich nichts Buntes! Vor Gericht gilt der Grundsatz der Dezenz, und die Dezenz liebt graue bis schwarze Töne, unterbrochen allenfalls vom strahlenden Kragenweiß eines frisch gewaschenen und von der Liebsten gebügelten Hemds. Also hinein in all das anthrazitfarbene Zeug, die Schuhe noch mal übergebürstet und ein Taxi geordert. Normalerweise setze ich mich neben den Fahrer und beginne mit ihm ein Gespräch über Wetter und Straßenverhältnisse, das dann oft überraschende Weiterungen erfährt. Neulich berichtete mir einer, wie er sich als Geburtshelfer betätigen musste und den Nabel des kleinen Frischlings mit dem Schnürsenkel abband. O nein, das hab ich aus einem dieser famosen Almodóvar-Filme geklaut!

Diesmal nahm ich auf der Rückbank Platz. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass der Fahrer zum Chauffeur wird und man sich selbst wie Graf Koks fühlen kann. Mein Ziel „Amtsgericht!“ suggerierte Verwicklung in hochwichtige Vorgänge, wenn nicht Prozesse! Ich konnte Kläger sein, Angeklagter, Zeuge, Anwalt, ja, Staatsanwalt oder Richter ... Ich sah dem Fahrer förmlich an, wie gern er nähere Aufklärung von mir erhalten hätte. Mehrfach traf mich im Rückspiegel sein bohrender Blick. Aber ich erwiderte ihn nicht, sondern blickte unheilschwanger, ja, tragikumflort und leicht geschmerzt in die Ferne. Sollte er sich doch ausmalen, was er wollte! Z.B. dass ich zu einer Testamentseröffnung eilte, die mich mit einem wahren Geldregen überschütten würde! Oder zur Fürtoterklärung meines geliebten auf einer Fotosafari in Borneo verschollenen Onkels! Um die Testamentsvariante zu begünstigen, gewährte ich dem Fahrer, ihn für seine taktvolle Schweigsamkeit gleichsam belohnend, ein fürstliches Trinkgeld, das er durchaus mit einer etwas tieferen Verbeugung hätte annehmen können.

Und schon betrat ich das bezaubernde Barockpalais, in dem bei uns Iustitia mit entblößter Brust und verbundenen Augen ihres Amtes waltet! Ein Wachtmeister in blauem Pullover mit ledernen Schulter- und Ellenbogenstücken sowie dem Landeswappen auf dem Arm wies mich nach Vorzeigen meiner Ladung zum Saal 3 im ersten Stock. Gedankenvoll stieg ich die knarrenden Holzstufen hinauf. So hatten auch die Stufen geknarrt in dem Gericht, in dem wir in meiner Kindheit einmal gewohnt hatten. Es war wie ein Nachhausekommen! Im ersten Stock wollte ich schon auf der noch leeren Wartebank aus dunkel gebeizter Eiche Platz nehmen, als ich einen Zettel an der Saaltür sah. Er führte alle in diesem Saal geplanten Termine auf, und neben meine Anhörung war gesetzt: Verlegt in Raum 103! Aber wo befand sich der?

Ich klopfte einfach an die nächstliegende Tür und erhielt ein brummiges „Ja, bitte?“ Den Rücken zu mir stand da ein Herr vorm Bügelbrett und plättete einen schwarzen Talar. „Zimmer 103? Moment, ich bringe Sie hin!“ Während er mir vorauseilte, zählte ich die Haare, die er sich über die Glatze geklebt hatte, und erwähnte, dass ich zunächst auf ein Gericht geladen worden war, das schon seit Jahren nicht mehr existierte. „Das habe ich 2007 aufgelöst!“ rief er mir stolz über die Schulter zu und schnalzte dabei mit den Fingern in der Luft. Zimmer 103 lag in einem engen, abgewinkelten Flur, den ich ohne meinen Cicerone nie gefunden und mich blamabler Weise noch verspätet hätte! Denn schon trat meine Richterin aus der Tür, eine in Amt und Würden ergraute Dame in tailliertem Kostüm, die mich mit einem Blick maß, der mich zu Boden zwang. Kniend ergriff ich ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen: „Fragen Sie mich! Fragen Sie mich, was Sie wollen! Ich sage Ihnen alles!“ „Ihr Verhalten ist ungehörig,“ sagte sie streng. „Aber ich verzeihe Ihnen, denn die Aussicht, dass Sie alles zugeben, ist ein guter Anfang für einen arbeitsreichen Tag!“
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Gerda

Beitragvon Gerda » 20.01.2012, 10:18

Hallo Quoth,

ich habe das mit Vergnügen gelesen und geschmunzelt.
Wenngleich ich es für das übersteigerte Verhalten des Protagonisten nicht genügend entwickelt empfinde. Mir fehlt zum Schluss, die ausführlichere Schilderung der Befindlichkeiten, sonst nehme ich dem Protagonisten das "Knien" nicht einmal sinnbildlich ab. Anfangs ist jedes Detail geschildert. Zum Ende hin, geht es mir zu schnell.
Aber Ton und Sprache gefallen mir gut. Ich frage mich gerade, ob es nicht unter Humor/Satire passte.

Liebe Grüße
Gerda

pjesma

Beitragvon pjesma » 20.01.2012, 11:07

selten, dass jemand meine meinung so vortrefflich formuliert hatte wie gerda :-)
ich habe das abschnitt mit taxifahrt mehrmals gelesen, es ist wirklich ein juwel des leisen humor, genau wie ich es mag, lieber quoth :-)
ende dann lässt mich enttäuscht, kommt zu schnel und irgendwie wie erstversion, bzw. kurzzusammenfassung der ende worum es gehen wird wenn es dann ausgearbeitet wird...bitte nicht verfallen lasen, sondern umarbeiten :-)

lg

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 20.01.2012, 16:37

Das habe ich mit viel Vergnügen gelesen, lieber Quoth! Und hätte es zum Ende hin auch sehr gerne noch etwas ausführlicher, um den Lesegenuss noch zu verlängern!

Liebe Grüße

leonie

Quoth
Beiträge: 1853
Registriert: 15.04.2010
Geschlecht:

Beitragvon Quoth » 20.01.2012, 22:29

Vielen Dank für die freundlichen Lektüreberichte, Leonie, pjesma, Gerda! Der merkwürdige Zusammenbruch, das Kleinwerden des prosaischen Ich am Schluss schien mir vorbereitet, es ist ein Weg zurück in der Zeit, der dort zurückgelegt wird. Ich habe jetzt mehrere Versuche gemacht, der Richterin in ihr Büro zu folgen - aber sie befriedigen mich alle nicht. Aber ich habe noch nicht aufgegeben!

Mit Dank für Befassung
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 12 Gäste