Der Chef inszeniert

Rubrik für Theaterstücke, Szenen, Sketche, Dialoge, Hörspiele, Drehbücher und andere dramatisch angelegte Texte
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Cicero
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Beitragvon Cicero » 02.03.2012, 00:10

Der Chef inszeniert

Einmal im Jahr tauscht der Intendant seinen ledergepolsterten Chefsessel gegen einen samtbezogenen Theaterstuhl im "Großen Haus", 10. Reihe Mitte, hinter dem Regiepult. Da er keine Experimente eingehen will, das Abo bedienen muss, eine Sängerin zur Frau hat und selbst noch gerne in einer kleinen Sprechrolle auf der Bühne steht, ist Operette die ideale Lösung. Jene, die sich auf dem Besetzungszettel wiederfinden, rollen mit den Augen, die anderen feiern in der Kantine feuchtfröhlich ihr "nicht dabei sein".

Technik, Maske, Schneiderei und Requisite, sie alle üben sich in vorauseilendem Gehorsam. Zustände, von denen Gastregisseure nur träumen können. So ist es nicht verwunderlich, dass beim Konzeptionsgespräch zur "Fledermaus" Bühnen- und Kostümbildner mit perfekten Modellen und Figurinen überzeugen. Die Maskenbildner präsentieren stolz Styroporköpfe mit den sorgfältig geknüpften Perücken und Haarteilen. Der Generalmusikdirektor findet den Einfall großartig, die Rosalinde statt des "Csardas" im zweiten Akt die "Habanera" aus "Carmen" singen zu lassen. Die Frau des Chef´s darf man schließlich nicht enttäuschen. Den "Frosch", die Paraderolle für jeden Operettenkomiker schlechthin, gibt der Intendant persönlich.

Er hat sich akribisch auf seine Inszenierung vorbereitet, sein Video- und DVD-Archiv durchforstet, und alles was an "Fledermäusen" auf Bild- und Tonträgern zur Verfügung stand angesehen. Der erste Akt gleicht verblüffend einer Inszenierung der Wiener Staatsoper, das Fest bei Orlowsky im zweiten Akt klaut er schamlos aus Londons "Convent Garden" und den dritten Akt erkennt der Musikliebhaber als 1:1-Kopie einer Everding-Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper. Schnell merken die Sänger wie der Hase läuft, besorgen sich die DVD`s, und der Intendant freut sich, wie toll das Ensemble "seine" Regieideen umsetzt.

Die Premiere wird ein Riesenerfolg, das Senioren-Abo kreischt wie die Fans bei einem Popkonzert, der Intendant verspricht seiner Frau auf der Premierenfeier endlich die "Carmen" für die nächste Spielzeit, nur der GMD kriegt sein Fett weg. "Sehen Sie sich mal an, wie sensationell der Carlos Kleiber in München die Overtüre dirigiert hat. Zufällig habe ich davon eine DVD, ich lege sie Ihnen Morgen im Künstlerischen Betriebsbüro in Ihr Fach."

Der GMD leert sein Sektglas in einem Zug, dann ordert er eine Flasche Schnaps.
Die Sprache sei die Wünschelrute, die gedankliche Quellen findet. (Karl Kraus)

pjesma

Beitragvon pjesma » 02.03.2012, 11:09

gerne gelesen!!!

ach ach verlogenheit der kreativen berufe ;-), originalität und abkupfern, gott und mamon, echte schönheit und vorgegebene schönheit...bitte mehr davon! (krieg echt die lust was paralleles aus meinem *kreativberuf* aus der kiste herauszuzerren ;-)

lg

Quoth
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Beitragvon Quoth » 02.03.2012, 11:20

Hallo Cicero,
irgend ein alter Römer hat angesichts der Missstände seiner Zeit geseufzt: "Difficile satyrias non scribere!" Das gilt wohl im Bühnenjob ganz besonders! Gut tut diesem Text, dass er nicht ganz so heftig übertrieben scheint wie sein Vorgänger über "Aida" auf der Provinzbühne.

Gruß
Quoth

Ja, Pjesma, heraus damit!
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 02.03.2012, 12:02

Erinnert mich (im besten Sinne) an Petra Mosbachs Opernroman. Die hat aus solchen Szenen ein ganzes Buch zusammenmontiert, und ich habe es mit großem Vergnügen gelesen, wie diesen Text auch.

Habanera, lieber Himmel, so ein schwieriges Stück.

Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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Cicero
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Beitragvon Cicero » 02.03.2012, 13:25

Herzlichen Dank für Eure lobenden Rückmeldungen! :-)

Hallo Pjesma,

gern gelesen??? Das lese ich gern!!! :-)
Ich kann mich Quoth nur anschließen: "Ja, Pjesma, heraus damit!" Bin schon neugierig, was Du aus Deiner "Kreativberuf-Kiste" herauszerrst. :-)

Hallo Zefira,

wenn die Carmen vor dem Einsingen mit Mezzo-Mix gurgelt, dann klappt es sicher auch mit der "Habanera". :-)
Petra Mosbachs Opernroman steht schon auf meiner Liste für den nächsten Besuch bei "Amazon". Danke für den Tipp! :daumen:

Hallo Quoth,

Dein alter Römer hat mich auf eine wunderbare Idee gebracht, die man ja auch dem Intendanten flüstern könnte. Dürrenmatts "Romulus der Große" wäre eine köstliche Bereicherung seines Spielplans. Komödie vom Feinsten! :-)

Liebe Grüße in Euer Wochenende,
Cicero
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Rosebud

Beitragvon Rosebud » 13.03.2012, 15:22

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 17:28, insgesamt 1-mal geändert.

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Cicero
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Beitragvon Cicero » 22.03.2012, 10:25

Hallo Rosebud,

das ist ja eine köstliche Fortsetzung meiner "Chefinszenierung", wunderbar!

In Ratzeburg habe ich vor vielen Jahren mit dem SH-Landestheater gastiert, der heißt ja tatsächlich "Burgtheater", der Ratzeburger Musentempel. Da ging mir als Wiener natürlich das Herz auf. ;o)

Gruß
Cicero
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