Lieber John

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Cicero
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Beitragvon Cicero » 14.05.2012, 19:30

Lieber John,

kühl ist die Nacht, kühl, wie so viele Nächte vorher. Ich habe die Vorhänge zugezogen, kann das fahle Licht des Mondes, das Funkeln der Sterne nicht mehr ertragen. Ich bin müde, unendlich müde. Wenn nur der Schlaf endlich käme, Schlaf, tief und traumlos. Schlaf, der mein Denken an Dich, meine Nächte ohne Dich, das leichte Ziehen in der Herzgegend erträglicher macht. Vielleicht ist es die Angst doch zu träumen, die mich nicht einschlafen lässt.

Die Pailletten an dem Kleid, das ich zu Deinem Geburtstag trug, sind heute Nacht meine Sterne. Es liegt neben mir, funkelnd wie damals, auf meinem Bett, das für mich allein viel zu groß ist. Den Blick Deiner Frau, als ich „Happy Birthday“ sang, den werde ich nie vergessen, Deinen auch nicht. Ausgezogen hast Du mich, mit Deinen Augen. Robert sah Dich an und schmunzelte, er wusste Bescheid, alle wussten Bescheid. Der Präsident und die Hollywood-Diva, was für ein heimliches Paar. Erinnerst Du dich, John?

In den wenigen Nächten, die uns gehörten, da warst Du nicht der Präsident, nicht der mächtigste Mann der Vereinigten Staaten, da warst Du nur ein Liebender. Hast Du mich überhaupt geliebt, John? Oder war ich nur eine von vielen, die Du genommen hast, um Dein Ego zu befriedigen? Du warst ein guter Lover, im Gegensatz zu Deinem Bruder Robert. Der erinnerte mich eher an einen schwitzenden, keuchenden Rammler, rein und raus und fertig.

Ich bin müde, John, sehr müde. Nachmittags habe ich Dich im Radio gehört, Deine Stimme, sie klang so klar und nüchtern. Dabei kenne ich sie ganz anders, flüsternd und zärtlich, sanft und sinnlich, jedes Wort streichelte meine Sinne, damals.

Ich könnte ein paar Tabletten nehmen, um einzuschlafen. Die Nacht ist noch lang, mir graut vor dem Morgen, vor dem Tag. Wieder Stunden voll Sehnsucht und Hoffnung, dass Du anrufst.

Liegt sie jetzt bei Dir? Schläfst Du in ihren Armen, den Kopf in ihre Achselhöhle gebettet? Zwischen ihren Brüsten? In ihrem Schoß? Krault sie sanft Deine Nackenhaare?

Ach, John, wären wir uns doch anders begegnet. Nicht als Präsident und Filmdiva, ohne Heimlichkeiten, ohne Angst, dass unsere Liebe eine Staatsaffäre geworden wäre, wenn man sie entdeckt hätte. Warum bist Du nicht Regisseur oder Schauspieler geworden? Es wäre so einfach gewesen, wir wären Hand in Hand über den roten Teppich zur Oscar-Verleihung gelaufen. Ein glückliches Paar, strahlend und verliebt. Aber es ist müßig, darüber nachzudenken. Es ist, wie es ist, und es macht mich traurig, dass es so ist.

Ich streiche mit der Hand über das Kleid neben mir, die aufgenähten Pailletten fühlen sich kalt an, kalt wie die Stunden dieser Nacht, in der ich liegend an die Decke starre. Ich werde jetzt meine Tabletten nehmen. Schlafen, einfach nur schlafen will ich, und vergessen.

Gute Nacht, John.
Die Sprache sei die Wünschelrute, die gedankliche Quellen findet. (Karl Kraus)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 14.05.2012, 20:27

Hallo Franz,

es gibt ja viele "Verschwörungstheorien" und Mutmaßungen, wie Marilyn Monroe starb und ebenso viele über ihre Affaire mit Kennedy. Ich könnte mir jedoch gut vorstellen, dass sie, kurz vor ihrem Tod, genauso verzweifelt und romantisch dachte und geschrieben hätte.
Deshalb finde ich deinen Text gelungen.

Liebe Grüße
Gabi

Yorick

Beitragvon Yorick » 30.05.2012, 18:07

Hallo Cicero,

mir gefällt die Idee, Marilyn (und ihr Verhältnis zu JFK) ganz persönlich und sehr privat in diesem Brief darzustellen, der sogar ihr Abschiedsbrief sein könnte.

Allerdings wird sie für mich nicht wirklich spürbar. Ich lese von einer einsamen Frau, die müde ist vom Ruhm und der Öffentlichkeit. Die sich nach Geborgenheit und Liebe sehnt. Die diese Wünsche auf eine Person projiziert, die unerreichbar ist.
Aber es ist auch schon alles entschieden, nichts geht mehr, nichts kann mehr gewonnen werden. Es sind die müden Worte der Depression, in der die Gefühle entwichen sind. Die Zeilen wirken sonderbar unpersönlich.

Auch das die Protagonistin so unreflektiert ist in Bezug auf John macht es für mich flach. Zwar zweifelt sie an der Liebe von John, doch letztlich hängt sie ihr Glück doch an diese Beziehung - und sie weiß es auch und das es nicht gut ist. Gabriella hat die romantische Schwärmerei bereits erwähnt, doch dem gegenüber steht ja eben die Enttäuschung und bricht eigentlich die Figur.

Das passiert eigentlich im dritten Absatz. Aber den empfinde ich als nicht glaubwürdig, das scheint mir nicht die Stimme der Protagonistin zu sein. Er wirkt auf mich brutal und nicht eingebettet in den Ton des Briefes.

Natürlich ist ein zentrals Element in diesem Text der Fakt Präsident/Filmdiva/verboten. Doch es ist ja eben die menschliche, die empfindsame Seite der Figuren, die interessant ist - die bewegend ist, wenn die aufgesetzten Rollen wegfallen. Würde der Text auch tragen, wenn es um die Liebe zweier "normaler" Menschen ginge?

Der überwiegend feine Gesamtton hat mir gefallen, gerne hätte ich hier mehr von den sehr persönlichen (und sicherlich auch widersprüchlichen) Gefühlen Marilyns erfahren.

Gruß,
Yorick.

Gerda

Beitragvon Gerda » 01.06.2012, 12:03

Hallo Cicero,

Yorick hat geschrieben:Natürlich ist ein zentrals Element in diesem Text der Fakt Präsident/Filmdiva/verboten. Doch es ist ja eben die menschliche, die empfindsame Seite der Figuren, die interessant ist - die bewegend ist, wenn die aufgesetzten Rollen wegfallen. Würde der Text auch tragen, wenn es um die Liebe zweier "normaler" Menschen ginge?


Genau das habe ich mich auch gefragt.
Ich habe den Text gelesen und gedacht, wäre eine wirklich öffentliche Beziehung möglich geworden? Wäre sie dann "Erfüllung" gewesen?
Für mich ist das Ganze etwas zu einseitig, ja zu romantisch, an das in M. hineinprojizierte Wunschdenken gekoppelt und deshalb meine ich auch, es ei nahezu seicht, wäre da nicht die zurückgenomme feine Sprache.
Häufig geschieht es doch, dass ein "Verhältnis" solange es noch "geheim" ist, einen großen Reiz auf die beteiligten Partner ausübt, aber sobald tatsächlich eine echte Beziehung in aller Offenheit, verantwortung und Konsequenz möglich wird, verfliegen Reiz und Libido ...
Ich finde, du hast du einiges an Potential verschenkt, den Blick zu schablonenhaft ausgerichtet, statt ihn in die Tiefe zu lenken.

Liebe Grüße
Gerda

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Cicero
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Beitragvon Cicero » 01.06.2012, 12:43

Hallo Gabriella, Yorick und Gerda,

herzlichen Dank für Eure Kritik und Anregungen, da werde ich wohl Marilyn bitten müssen, ihren Brief nochmal zu schreiben. Dann sollten Eure Gedanken dazu mit einfließen.

Den Brief im Ordner "Flops und Nieten" abzulegen, dafür ist mir die Grundidee des Textes zu schade.

Liebe Grüße
Cicero
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Klimperer

Beitragvon Klimperer » 22.03.2013, 07:56

Salve Cicero!
"Kuhl ist die Nacht, kühl wie so viele Nächte vorher. Ich habe die Vorhänge zugezogen, kann das fahle Licht des Mondes, das Funkeln der Sterne nicht mehr ertragen."
Dies ist der erste Satz deines Briefes. Ich könnte, ich müsste einfach den ganzen Brief abschreiben, um zu zeigen, dass ich ihn perfekt finde.
Es muss so passiert sein.
Filmschauspieler gehören zur mythologischen Welt des modernen Menschen. Manche Politiker auch.
Wir können dafür oder dagegen sein, aber sie sind da, in unserer Gedankenwelt. Wie manche Melodien.
Neben dieser Frau soll ein abgehängtes Telefon gelegen haben, auf jeden Fall, man vermutete, sie habe im letzten Moment versucht, jemanden anzurufen.
Dies veranlasste den nicaraguanischen Dichter Ernesto Cardenal zu einem Gedicht, das er mit folgendem Vers abschließt:
Oh Gott,
egal wen sie hat anrufen wollen,
geh du dran ans Telefon!

Liebe Grüße,
Carlos

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Cicero
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Beitragvon Cicero » 24.03.2013, 14:59

Hallo Carlos,

danke für die "Exhumierung" meiner Marilyn. Das Gedicht von Ernesto Cardenal würde ich gerne ganz lesen, kannst Du es mir bei Gelegenheit posten?

Herzliche Grüße
Cicero
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Klimperer

Beitragvon Klimperer » 25.03.2013, 00:07

Salve Cicero!

Hier der Text von Ernesto Cardenal, in spanisch:

http://www.poesi.as/ec0001.htm

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.03.2013, 00:42

Hola Carlos,

Ernesto Cardenal lebt noch. Du darfst deshalb keine Texte von ihm veröffentlichen, das ist eine Copyrightsverletzung.
Ich habe den spanischen Text deshalb durch einen Link ersetzt.

Saludos
Gabriella

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 25.03.2013, 02:01

Alles klar Gabriella.

Von dem Gedicht wusste ich nur noch den Schluss.

Ich finde es unheimlich gut, die Wahrheit, so wie man sie selten hört.

Vor etwa drei Monaten habe ich einer Lesung von ihm beigewohnt. Er ist sehr alt geworden, ein sehr kleiner Mann, spricht wie ein typischer Nikaraguenser. Wie ein Mann des Volkes. Du weißt, dass er ein Priester ist.

Wenn du willst, können wir zusammen das Gedicht übertragen.


Saludos

Carlos

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 25.03.2013, 08:50

Hallo zusammen,
hier ist eine Übertragung; wie gut sie ist, weiß ich nicht.

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.03.2013, 11:40

Ja Zefi, diese Übersetzung ist sehr gut! Hätte ich nicht besser machen können. Was meinst du, Carlos?

Saludos
Gabriella

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 25.03.2013, 19:11

Nun, ich bin ja besonders doof im Umgehen mit dem
Komputer, aber bei mir erscheint keine Übersetzung ...

Kansst du es mir direkt schicken?

Danke

Saludos

Carlos

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.03.2013, 20:06

Hola Carlos,

hinter dem Wörtchen "hier" in dem posting von Zefira verbirgt sich dieser Link:

http://turmsegler.net/20070305/gebet-fu ... yn-monroe/

Einfach draufklicken und loslesen. ,-)

Saludos
Gabriella


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