Auch der Herbst hat schöne Tage

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Herby

Beitragvon Herby » 15.09.2013, 20:52

Auch der Herbst hat schöne Tage

Dass der Mensch älter wird, ist je nach Standpunkt bedauerlich oder erfreulich, aber auf jeden Fall unabänderlich. Sich darüber aufzuregen, bringt gar nichts, außer vielleicht eine flüchtige seelische Erleichterung. Also habe ich beschlossen, dem Unvermeidlichen so gelassen wie möglich zu begegnen. Ich werde bald dazu Gelegenheit haben, denn in nicht allzu ferner Zukunft werde ich 60. Wenn ich an meine Dekadenwechsel der Vergangenheit zurückdenke, so habe ich die 20er Jahre herbeigesehnt, schließlich war ich mit 21 dem Gesetz nach erwachsen, musste mir nichts mehr sagen lassen, hatte das Abitur in der Tasche und das Studium vor mir – für Gedanken an so etwas wie Alter hatte ich da weder Lust noch Zeit. Den Wechsel von 20 nach 30 habe ich dagegen glatt ignoriert, der ging an mir vorbei ohne Spuren zu hinterlassen, sehe ich einmal von den Verwüstungen ab, die mich am Morgen nach meiner Geburtstagsfete zeichneten. Der von 30 zu 40 ging dann gerade noch, sprachen meine Freunde doch von der Blüte der Jahre oder dem Sommer des Lebens. Anders war das jedoch, als eines Tages die 4 der 5 wich und ich den Eindruck hatte, der Herbst schicke ab und an seine ersten kühlen Winde voraus. Das konnte dazu führen, mich in tiefe Nachdenklichkeit zu stürzen und tiefsinnigen Fragen zu widmen, wie z.B. der, ob hinter dem Schluckauf, der mich hin und wieder befiel, wohl mehr steckte als nur ein Schluckauf oder wer wohl Jacky bekäme, wenn ich vor dem Hund... Ich erwog kurzzeitig sogar testamentarisch zu verfügen, dass der neue Hundebesitzer in pfotenläufiger Entfernung zum Gottesacker zu wohnen habe, denn ich hatte vor kurzem gelesen, dass ein Hund nach dem Tod seines Herrchens täglich ganz allein zum Friedhof trottete und bis zum Abend gramverkrümmt und unter Absonderung geradezu herzzerreißender Laute neben dem Grab saß.

Nun, wie gesagt, steht der Wechsel von der 5 zur 6 an, und noch suchen mich keine Albträume heim. Nur beobachte ich an mir schon seit längerer Zeit eine befremdliche Veränderung. Begann ich bisher meine morgendliche Zeitungslektüre mit der Politikseite, studiere ich nun als erstes auf der Rückseite von „Lokales“ die Todesanzeigen. Todesanzeigen wildfremder Menschen! Besondere Aufmerksamkeit widme ich dabei den Geburtsdaten der teuren Verblichenen sowie den lyrischen und prosaischen Trostsprüchen über den Anzeigen. Wer weiß, vielleicht bekommt man ja schon einmal die eine oder andere Anregung. Die Gepflogenheit scheine ich wohl von meiner Mutter geerbt zu haben, die dieses moribunde Ritual allmorgendlich pflegte, wobei sie mitunter seufzend ausstieß: „Kind, die Einschläge rücken näher!“, nur um sich dann wieder umso genussvoller ihrem Frühstück zuzuwenden.

Tja, und dann kam jener 8. Oktober. Was ist es doch für eine weise Vorrichtung von Mutter Natur, dass man beim Aufwachen noch nicht weiß, was im Laufe des Tages so alles auf einen zukommt. Als ich am Morgen aus dem Haus ging, schien es ein Tag wie jeder andere zu werden. Das Wetter versprach schön zu werden, der Himmel klarte auf, ich hatte gut geschlafen und fühlte mich frisch und fit. Auf meiner morgendlichen Aufgabenliste standen einige Einkäufe sowie ein Besuch im Polizeipräsidium wegen einer Zeugenaussage. Ich hatte vor etwa zwei Wochen nämlich beobachtet, wie ein älterer Herr rückwärts aus einer Parklücke direkt in die Fahrertür eines gegenüber abgestellten Fahrzeugs fuhr und sich anschließend seelenruhig entfernte. Im Polizeipräsidium war der Hauptkommissar, der für meine Angelegenheit zuständig war, in Urlaub und auch sein Vertreter konnte meine Aussage nicht aufnehmen, da er fortbildungsbedingt unanwesend war. Als ich schon wieder unverrichteter Dinge abziehen wollte, stand der Herr an der Telefonzentrale auf, ergriff eine Broschüre und drückte sie mir mit freundlichem Lächeln in die Hand: „Hier, da sind wichtige Tipps drin!“ Als ich im Rausgehen auf das Titelblatt blickte, entglitt mir fast meine Mimik. „Der goldene Herbst. Tipps für Seniorinnen und Senioren.“ Es brauchte mehrere Minuten, bis ich mich wieder halbwegs sortiert hatte.

Ich hielt dann an der nächsten Apotheke an, um mir ein bestimmtes Mundwasser zu kaufen. Die Apothekerin, die mich bediente, war von einer ungesunden gräulichen Hautfarbe ; sie trug ihr Haar zu so etwas wie einem Dutt gebunden, in dem allerdings schon Hitchcocks Vögel gewütet haben mussten. Zudem schien sie an einer Lähmung des Facialmuskels zu leiden, da sie es nicht schaffte, ihre Lippen auch nur zum Ansatz eines Lächelns zu heben, kurz und gut: sie hatte die Ausstrahlung eines usbekischen Zahnarztstuhls. Ich verstaute gerade die Münzen des Wechselgeldes, als sie mich fragte: „Darf ich Ihnen die Apotheken Umschau mitgeben?“ In diesem Moment hätte ich mich am liebsten irgendwohin gebeamt. Ausgerechnet die „Apotheken Umschau“, die Senioren-Bravo! Konnte die Frau Gedanken lesen? War das etwa ihre Art gewesen, sich an mir zu rächen? Ich bedankte mich knapp bei dem fleischgewordenen Dentalmöbel, warf ihr im Rausgehen noch einen vernichtenden Blick zu, wie ich ihn kürzlich bei George Clooney gesehen hatte und verließ diesen Ort des Grauens mit Anstand und Würde. Die Heimfahrt verlief dann sehr vorsichtig und nachdenklich. Der Himmel war inzwischen von einem wolkenlosen Blau, Menschen saßen in Straßencafés und lachten. Es war tatsächlich ein herrlicher Tag geworden. Ja, goldener Herbst!
Zuletzt geändert von Herby am 15.09.2013, 21:10, insgesamt 1-mal geändert.

scarlett

Beitragvon scarlett » 15.09.2013, 20:59

ein echter herby!

wunderbar!

kleiner vertippser im titel.

lg
monika

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birke
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Beitragvon birke » 15.09.2013, 21:03

ja, wunderbar! :daumen:
sehr, sehr gern gelesen, lieber herby.
lg,
birke
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

https://versspruenge.wordpress.com/

Mucki
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Beitragvon Mucki » 16.09.2013, 13:10

Hallöchen Herby,

ich freu mich, endlich mal wieder Prosa von dir zu lesen. ,-)))
Köstliche Schmunzler hast du unterbracht. :mrgreen:

Lachende Grüße
Gabi

Herby

Beitragvon Herby » 16.09.2013, 23:00

Das freut mich, herzlichen Dank, ladies! :smile:

Danke, Monika, auch für den Hinweis auf den Vertipper.

Gabriella hat geschrieben:ich freu mich, endlich mal wieder Prosa von dir zu lesen


Lieb von dir, Gabi! Ja, so gaaaaanz allmählich wird's wieder... es dürfte zwar schneller gehen, aber alle Ungeduld hilft ja nix :rolleyes:

Herzliche Grüße und eine gute Woche,
Herby

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 18.09.2013, 11:03

Eine feine Erzählung, Herby, auch sehr gern gelesen.

Nur, so wie ich dich einschätze, glaube ich nicht, dass du wirklich der Apothekerin einen bösen Blick zugeworfen hast ...

Diese Geschichte beweist mir, dass man, wenn man den Alltag beschreibt, oft viel mehr als durch angestrengte Phantasie erreicht.

LG

Carlos

Herby

Beitragvon Herby » 18.09.2013, 22:48

Danke für dein Lesen und die Rückmeldung, ich hab mich gefreut.

Klimperer hat geschrieben:Nur, so wie ich dich einschätze, glaube ich nicht, dass du wirklich der Apothekerin einen bösen Blick zugeworfen hast ...


Wie recht du hast, Carlos! Bei Clooney sah's jedenfalls zum Fürchten aus. Ich muss noch üben... :mad:

Liebe Grüße,
Herby

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Beitragvon Mucki » 18.09.2013, 23:54

Hallo Herby,

dein "sah zum Fürchten aus" hat mich an diese Fotostrecke in der FAZ erinnert. Ich finde diesen Blick von Axel Prahl unglaublich.

http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft ... 73164.html

Friedliche Grüße
Gabi

Herby

Beitragvon Herby » 19.09.2013, 20:49

Hi Gabi,

Gabriella hat geschrieben:Ich finde diesen Blick von Axel Prahl unglaublich.


Stimmt! Habe ihn heute vor dem Spiegel geübt. Ergebnis: mein Gegenüber lachte schallend! :angst_2:

Ich übe weiter!

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 23.11.2013, 14:51

Lieber Herby,

das hab ich auch sehr gern gelesen und erkenne gut deine Art darin wieder. Hast du dir Senioren-Bravo ausgedacht, das ist genial :-).

Und doppelt schön, dich so lang hier wieder zu lesen.

liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon jondoy » 30.11.2013, 11:39

Hallo Herby,

hab mir heute endlich mal die Zeit genommen, wieder einen Text zu lesen.

dein Text hat mir beim Lesen zunehmend gefallen, vor allem im letzten Absatz stecken schöne Bilder drin, und ich mag diese sanfte Ironie, die in diesem Text mitschwingt.
Er spielt und trotzdem hat er was zu sagen.

Gern gelesen.

Namaste,
Stefan

Herby

Beitragvon Herby » 08.12.2013, 11:22

huch, du lieber mein mon dieu! :blink2: Hatte gar nicht mehr mit weiteren Kommentaren gerechnet. Umso mehr freue ich mich über eure Worte, Lisa und Stefan. :nicken: Danke dafür!

Lisa, das Wort Seniorenbravo war früher unter den Jugendlichen bei mir zu Hause gebräuchlich, wer es "erfunden" hat, kann ich beim besten Willen nicht sagen.

Herzliche Grüße und einen schönen 3.Advent,
Herby


PS: Wie stellt man das eigentlich an, dass man benachrichtigt wird, wenn Komms zu eigenen Texten kommen :frage:

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 09.12.2013, 20:18

Lieber Herby,

wenn du es grundsätzlich dekativiert hast, findest du unter jedem Beitragsfenster(dort, wo du deine Text einstellst oder eine Antwort schreibst) ein paar Optionen zur Auswahl, wo du ein Häkchen setzen kannst und eines davon lautet: "Mich benachrichtigen, sobald eine Antwort geschrieben wurde" :-)

liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


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