WORT DER WOCHE
jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 7 Tage Zeit -
~ Nachtschicht ~
WORT DER WOCHE ~ Nachtschicht ~
Bei der Trauerfeier erzählt er mir, dass er nicht mehr schläft. Auf meinen ungläubigen Blick schränkt er ein: „Fast nicht mehr“. Er schläft kurz ein, wacht dann wieder auf, oder er schläft gar nicht erst ein, sondern liegt stundenlang wach; dann steht er auf, wandert im Haus herum, nimmt sich etwas aus dem Kühlschrank (ich sehe ihn vor mir, in der dunklen Küche stehend, gespenstisch beleuchtet von dem kalten Licht aus der offenen Kühlschranktür), geht ins Wohnzimmer, stellt den Fernseher an, schaltet ihn wieder ab …
Dabei ist er todmüde. Einmal hat er seine Frau (sie ist Medizinerin) um eine Schlaftablette gebeten. „Das war die schlimmste Nacht meines Lebens.“ Er sei noch müder gewesen als sonst, hätte aber keine Minute schlafen können.
Mir kommt er nicht übermüdet oder abgekämpft vor, oder burnt-out, wie man das heute nennt. Er sieht aus wie immer. „Wann schläfst du dann eigentlich?“, will ich wissen, kann mir nicht vorstellen, wie jemand einfach fast ohne Schlaf zurechtkommt.
„Ach, gar nicht, am Tag muss ich ja arbeiten.“
Ich versuche mir vorzustellen, wie er nachts im Haus herumläuft; ich sehe ihn Bücher aus den Regalen ziehen, wieder zurückstellen …
„Ja!“ Er hat Gedichte von Heinrich Heine gelesen. Einen ganzen Band! Für einen Roman reicht die Konzentration nicht, eigentlich sollte er ja schlafen. Aber Gedichte von je drei Strophen, die kann er gut lesen, eines nach dem anderen. Er zitiert: „Ach die Nacht ist gar zu lang, und mein Herz kann nicht mehr schweigen! Schöne Nixen, kommt hervor, tanzt und singt den Zauberreigen!“ Niemals hätte er am Tage so etwas gelesen. Überhaupt Gedichte, das ist nichts für ihn, das Buch gehört seiner Frau, oder stammt aus einer Erbschaft, er weiß nicht mal, wie es ins Haus gekommen ist. Eigentlich liest er nur die Zeitung. Aber nachts, wenn er nicht schlafen kann, liest er jetzt Gedichte von Heinrich Heine.
Und Artmann! Begeistert deklamiert er mit hohem Schwung: „Hopplahopp, der Abend purzelt rücklings vom Aldebaran; alles, was noch nicht entwurzelt, schickt sich zum Entwurzeln an!“ Wir prusten in unsere Gläser, hilflos vor Lachen; er zitiert weiter: „Her den Weinkrug, Limonade, Sekt, Champagner, Eiskaffee, gebt der Bratwurst keine Gnade …“ Ich stoße ihm den Ellbogen in die Seite, weil die Kellnerin mit der Kaffeekanne neben uns steht und uns entgeistert anstarrt.
„Ja, ich schlafe nicht mehr“, sagt er, ruckartig wieder ernst. „Das ist die Trauer, weißt du ... Aber das geht vorbei.“
Dabei ist er todmüde. Einmal hat er seine Frau (sie ist Medizinerin) um eine Schlaftablette gebeten. „Das war die schlimmste Nacht meines Lebens.“ Er sei noch müder gewesen als sonst, hätte aber keine Minute schlafen können.
Mir kommt er nicht übermüdet oder abgekämpft vor, oder burnt-out, wie man das heute nennt. Er sieht aus wie immer. „Wann schläfst du dann eigentlich?“, will ich wissen, kann mir nicht vorstellen, wie jemand einfach fast ohne Schlaf zurechtkommt.
„Ach, gar nicht, am Tag muss ich ja arbeiten.“
Ich versuche mir vorzustellen, wie er nachts im Haus herumläuft; ich sehe ihn Bücher aus den Regalen ziehen, wieder zurückstellen …
„Ja!“ Er hat Gedichte von Heinrich Heine gelesen. Einen ganzen Band! Für einen Roman reicht die Konzentration nicht, eigentlich sollte er ja schlafen. Aber Gedichte von je drei Strophen, die kann er gut lesen, eines nach dem anderen. Er zitiert: „Ach die Nacht ist gar zu lang, und mein Herz kann nicht mehr schweigen! Schöne Nixen, kommt hervor, tanzt und singt den Zauberreigen!“ Niemals hätte er am Tage so etwas gelesen. Überhaupt Gedichte, das ist nichts für ihn, das Buch gehört seiner Frau, oder stammt aus einer Erbschaft, er weiß nicht mal, wie es ins Haus gekommen ist. Eigentlich liest er nur die Zeitung. Aber nachts, wenn er nicht schlafen kann, liest er jetzt Gedichte von Heinrich Heine.
Und Artmann! Begeistert deklamiert er mit hohem Schwung: „Hopplahopp, der Abend purzelt rücklings vom Aldebaran; alles, was noch nicht entwurzelt, schickt sich zum Entwurzeln an!“ Wir prusten in unsere Gläser, hilflos vor Lachen; er zitiert weiter: „Her den Weinkrug, Limonade, Sekt, Champagner, Eiskaffee, gebt der Bratwurst keine Gnade …“ Ich stoße ihm den Ellbogen in die Seite, weil die Kellnerin mit der Kaffeekanne neben uns steht und uns entgeistert anstarrt.
„Ja, ich schlafe nicht mehr“, sagt er, ruckartig wieder ernst. „Das ist die Trauer, weißt du ... Aber das geht vorbei.“
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Die Nacht schichtet sich in verschiedene Ebenen.
Die Fantastik-Schicht: ich bin extrem erschöpft und denke gar nicht darüber nach, ob ich wohl gut schlafe oder nicht. Dann leg ich mich ins Bett, schlafe sofort ein und wache in derselben Position auf, in der ich mich hingelegt habe. Fantastisch! Doch dies geschieht sehr sehr selten. Meist läuft es anders.
In der ersten Schicht lasse ich den Tag Revue passieren. Tausend Dinge gehen mir durch den Kopf. Lauter Kleinigkeiten, die ich hätte anders machen können. Was ich nicht erledigt habe. Was ich alles am nächsten Tag zu tun habe. Ein Wort von irgendjemandem, das mich geärgert hat. Ein Wort von jemandem, das mich glücklich gemacht hat.
In der zweiten Schicht denke ich darüber nach, dass ich darüber nachdenke. Das ist ganz schlecht. Dann kann ich nicht einschlafen, weil ich feststelle, dass ich nicht einschlafen kann. Dann habe ich zwei Möglichkeiten: ich denke: okay, dann lieg ich halt einfach so da und döse, bis ich einschlafe. Manchmal funktioniert es, manchmal nicht. Wenn nicht, stehe ich auf, tigere in der Wohnung herum, rauche eine Zigarette und lege mich wieder hin und das Ganze geht von vorne los.
Aber, was ich immer erlebe, mit Ausnahme der Fantastik-Schicht, ist dieser Moment, in dem ich mir für den Bruchteil einer Sekunde bewusst werde, dass meine Gedanken völlig kreuz und quer springen, ohne roten Faden. Die Gedanken lasse ich in diesem Moment los und kann gerade noch denken: jetzt schlafe ich ein.
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die nacht greint
aus meinem bauch
wächst eine wortschicht
traurig schreib ich
ein gedicht
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die nacht greint
aus meinem bauch
wächst eine wortschicht
traurig schreib ich
ein gedicht
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