Sommerwinter / Notiz 1

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 23.02.2014, 18:28

Sie ist alt geworden, dachte es in mir.
Der Gedanke, eine seltsame Feststellung, ließ mich unberührt, wohl, weil die Berührung bedeutet hätte, meinem eigenen Mitaltern gegenüberzusitzen.
Ich hätte den Satz über die Tastatur in ein Handy eingeben und als sms an alle meine Freunde verschicken können oder ins Diktiergerät sprechen, nur, um ihn loszuwerden.
Ich würde ihn später aufschreiben: SIE IST ALT GEWORDEN.
Es gab den Satz. Es gab sie. Und es gab mich.
Ihr Haar, ihr schönes Haar, auf das sie immer so stolz gewesen war und das sie während der Therapie komplett verloren hatte, war erst nach Monaten kräuslig und schütter nachgewachsen. Sie hatte es jetzt eichhornrot gefärbt.
Die Gesichtshaut schimmerte in der Sonne fleckig und brüchig, um Augen und Mund zeichneten sich wie Risse in einer Häuserfassade feine Fältchen ab.
„Schenk mir keine Bücher mehr“, hatte sie sie mir vor einigen Monaten ernst mitgeteilt. „Ich kann sie nicht mehr lesen, nach wenigen Zeilen versinken die Buchstaben in den Zeilen.“
So lange ich mich erinnern konnte, lagen Stapel von Büchern und Zeitschriften neben ihrem Bett. Manchmal hatte ich heimlich darin gelesen.
„Es gibt Hörbücher“, hatte ich zu bedenken gegeben, aber genau gewusst, dass auch der Abschied von den Büchern ein Abschied für immer war.
Wir saßen auf der Terrasse, im Schatten eines Perückenstrauches, der jedes Frühjahr so tat, als sei er über den Winter erfroren. Wir tranken Tee statt Kaffee , wechselten wenige Worte und hingen nun schweigend unseren Gedanken nach. Ich tastete nach meinem Handy.
Aus der gegenüberliegenden Grundschule ertönte ein Pausenklingeln und Kinder liefen lärmend auf den Hof. Manche von ihnen wurden bereits von ihren Eltern erwartet, andere traten ohne Eile den Heimweg an.

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noel
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Beitragvon noel » 12.03.2014, 14:41

Sie ist alt geworden, dachte es in mir.

diese passivwendung ist mir gelungen, nahm mich gleich für den text ein.
ich mag es wie du den vergeblichen versuch des unberührtseins vom altwerden in worte fasst. sie sind fast so neutral gewählt, wie die angebliche neutralität der protagonisten gegenüber dem älterwerden. & dann der schlenker zu den geliebten „verrichtungen“, zum lesen & die
lapidare aussage
dass auch der Abschied von den Büchern ein Abschied für immer war.

diese beiläufigkeit nimmt einen umso mehr in bann, je beiläufiger du sie erzählst.
auch der ringschluss am schluss zur grundschule…
chapeau
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 14.03.2014, 09:51

liebe noel, danke für die rückmeldung! (man ist ja immer geneigt, einen text, zu dem gar keine kommentare kommen, in gedanklich in den misslungen-ordner einzuheften. umso mehr habe ich mich wieder einmal gewundert und gefreut, dass er es in die monatstexte geschafft hat. an dieser stelle: danke!)

a.

Sigrine

Beitragvon Sigrine » 30.03.2014, 17:17

Hallo allerleirauh,

dein Text gefällt mir gut. Ich halte ihn für eine gelungene, aus dem Leben gegriffene Momentaufnahme und lesenswerte Kurzgeschichte.
Über einen Satz bin ich allerdings gestolpert. Ich fände ihn besser lesbar, wenn du ihn umstellen würdest:

Die Gesichtshaut schimmerte in der Sonne fleckig und brüchig, wie Risse in einer Häuserfassade zeichneten sich um Augen und Mund kleine Fältchen ab.

Herzliche Grüße

Sigrine


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