Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.04.2016, 18:00

Ja, kann ich bestätigen, geht mir ähnlich, Quoth. Da schwirren Elipsen oder Sätze in meinem Kopf herum. Ich setz mich hin und will schreiben. Es klappt jedoch nicht. Dann lass ich die Notizen erst mal so, wie sie sind. Es gärt dann offensichtlich in meinem Unterbewusstsein weiter (das Thema arbeitet an/in mir), oft träume ich auch davon. Und dann, wie aus dem Nichts, formen sich ganze Sätze und ich springe auf, greife zum Block oder gehe an den Computer und es schreibt sich in einem Rutsch mit einigen Überraschungsmomenten, weil sich da neue Assoziationen mit hineinbringen. Und das ist dann ein tolles Gefühl.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 08.04.2016, 13:27

Jules Renard hat geschrieben: Aufrichtig bin ich nicht, nicht einmal in dem Augenblick, in dem ich sage, dass ich es nicht bin. (1906)

Wie oft habe ich schon mit der Wendung "ich gestehe" eine Aufrichtigkeit vorgetäuscht, die nichts als verfeinerte Eitelkeit war! Ich wollte als der Tapfere dastehen, der gegen allen inneren Widerstand sich zur Wahrheit heldenhaft durchringt ... Ich gestehe: Dieser Aphorismus trifft mich ins Herz!



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 08.04.2016, 14:23

Das Heldenhafte beim Durchringen zum Geständnis übermittelt sich erst durch die im Bild, Ton oder Text enthaltene Brust-raus-Körpersprache.

Gestehen kann man auch mit hängendem Kopf; das wirkt nicht heldenhaft ...

Ich will sagen, die Aufrichtigkeit verbirgt sich in der Körpersprache, nicht allein in der Wendung "ich gestehe".
Zuletzt geändert von Pjotr am 08.04.2016, 18:39, insgesamt 1-mal geändert.

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 08.04.2016, 18:33

Hallo Pjotr,

Wenn du die Sprache ernst nimmst, steckt im "aufrichtig sein" die aufrechte Haltung schon drin, - und im "gestehen" das stehen! Man duckt sich eben nicht weg vor der eventuellen Bestrafung, und erspart sie sich oft gerade deshalb.

Aber in welchem Zusammenhang gestehen wir?

Wenn wir einen Fehler oder eine böse Tat einräumen?
oder nur eine Regelverletzung?

Letzteres kann auch Kritik an der Regel bedeuten. Heldenhaft ohne Schuldeingeständnis.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 08.04.2016, 18:45

Hallo ZaunköniG,

aufrichtig: ja, da sehe ich auch die aufrechte Haltung.

Aber im Stehen nicht notwendig. Ich kann gesenkten Hauptes dastehen, auf der Brücke, und zum finalen Sprung ansetzen ...

Ich gestehe ... bin an allem schuld, ich bin der letzte Dreck, adiöö.

Ich gestehe, ich habe dem fetten Zaren ein Ei in den Arsch geschoben. Na und?


Wobei bei letzerem das Gestehen selbst lächerlich gemacht wird: Ihr wollt, dass ich gestehe? Gut, hier habt ihr es. Ich habe kein Respekt vor all dem, Hochwürden ...

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 08.04.2016, 20:01

Lieber Quoth,

die Anlage des Pfadens gefällt mir, unwillkürliche Zitat und eigene Gedanken dazu - ich werde hier sicher häufiger vorbeikommen.

Liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon Mucki » 08.04.2016, 20:45

Ja, mir auch. Eine schöne Idee. Und ich bin gespannt, welche Zitate da noch kommen. ,-)

Quoth
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Beitragvon Quoth » 09.04.2016, 17:09

Vielen Dank, Lisa und Mucki, für den Vorschusslorbeer! Der "Pfaden" (sehr gut, Lisa!) ist übrigens Birke gewidmet, die mich durch ihre Signatur auf Jules Renard aufmerksam gemacht hat.
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 10.04.2016, 08:36

Jules Renard hat geschrieben: Eine platonische Liebe, bei der die Seelen sich duzen. (1896)

Im Gegensatz zum in dieser Hinsicht sehr vereinfachenden Engländer kann auch der Franzose zwischen Duzen (tutoyer) und Siezen (vouvoyer) unterscheiden. Dieser Aphorismus ist ins (heutige) Englisch nicht übersetzbar. Fortsetzbar ist er eindeutig mit "... aber die Körper einander weiterhin siezen." Das Netz treibt diesen Gegensatz auf die Spitze: Auf der einen Seite Neigungen von Textwesen zu Textwesen, die das Physische draußen vor lassen, auf der anderen Seite eine Explosion von Nudität und Pornografie, die das Seelische ignoriert oder misshandelt. Dass der Verzicht auf Sex ein mächtiger Motor der Poesie sein kann, ist seit Dante und Petrarca ein Gemeinplatz. Hölderlin trieb er in den Wahnsinn. Dass Platon zu Unrecht zum Apostel der Enthaltsamkeit geworden ist, sei angemerkt.

Quelle: Siehe Kopfposting
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Beitragvon birke » 10.04.2016, 12:44

was für ein wunderbarer pfaden :-) , quoth, danke!
hier lese ich gerne mit.
(hätte schon früher was geschrieben, ich war mir nur nicht sicher, ob du hier auch andere kommentare wolltest, und hab erstmal abgewartet.)

zum ersten zitat passend, schrieb ich letztens erst an jemanden: am schönsten ist es, wenn die worte zu einem kommen.
ich habe schon oft festgestellt, dass ich keine texte erzwingen kann, ich kann sie nicht suchen, sie müssen mich finden.

liebe grüße
birke
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 11.04.2016, 08:12

Jules Renard hat geschrieben: Dichter, versuche nichts anderes zu sein. Du bist geschaffen und in die Welt gesandt, um das Bewusstsein von allem zu sein, was kein Bewusstsein hat. (1900)

ZaunköniG hat im Manifest des Dichters das Dichten mit dem Netzfischen verglichen. Hier nun eine ganz andere (und hundert Jahre ältere) Anweisung. Es ist fraglos eine vormoderne Definition des dichterischen Auftrags. Renard war Zeitgenosse der späten Symbolisten, Rilkes und Hofmannsthals. Hat sich sein "du bist geschaffen und in die Welt gesandt" damit erledigt? Was mich vor allem irritiert: Das Bewusstsein zu "sein". Das kann doch kaum genügen. Das liefe auf einen schweigenden Dichter hinaus. Ich werde mich mal auf die Suche nach dem französischen Originaltext machen - obgleich ich weiß, dass Henning Ritter ein sehr guter Übersetzer war. Was mir als Quintessenz einleuchtet: Der Dichter muss Neuland betreten, indem er bisher Unbewusstes bewusst macht. Wer das nicht tut, ist keiner! :-)


Quelle: Siehe Kopfposting
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Beitragvon birke » 11.04.2016, 08:22

jaaaa. :smile:
ich würde das zitat gedanklich erweitern: ... und ihm eine stimme zu verleihen. aber das geschieht vermutlich automatisch - wenn der dichter geschaffen ist, um das bewusstsein zu "sein", dann ist ja die folge davon, dass er das auch zum ausdruck bringt, da er ja schreibt. ich finde den gedanken faszinierend! auch wenn es vielleicht nur wunschdenken ist .... oder das große ideal, dem man sich immer nur annähern kann.
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Beitragvon Quoth » 12.04.2016, 16:22

Jules Renard hat geschrieben: All dies sind Beispiele dafür, wie man seine Erlebnisse in kleine und kleinste Stücke zerbrechen und ihnen durch geeignete Beleuchtung Glanz geben kann. (1901)

Auf welche Notizen sich Renard mit "all dies" bezieht, bleibt mir verschlossen, weil sein komplettes Tagebuch mir nicht vorliegt. Aber deutlich genug wird, dass er eine Methode umreißt. In einem anderen Aphorismus sagt er entsprechend: "Ich bin verrückt nach Kleinigkeiten." Ich glaube, dass ich diese Methode viel gründlicher anwenden und gleichsam mit dem Vergrößerungsglas, ja, dem Mikroskop nach Motiven meiner Schreiberei forschen sollte. Immerhin habe ich aber schon mal eine gründliche Abneigung gegen alles Kosmische! Was ist nun die geeignete Beleuchtung? Und warum brauchen "die kleinen und kleinsten Stücke" Glanz? Ist Amanitas Landschaftsbild, abendlich dafür ein Muster?

Quelle: Siehe Kopfposting
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