Im Spätsommer des vergangenen Jahres kam J. in meine Klasse die Klasse.
Sie war dünn, durchscheinend dünn, und schaute ihre Mitmenschen aus großen braunen Augen an. Ernst meistens, aber manchmal lächelte sie auch. Wenn sie lächelte, ahnte man, dass sie gern fröhlich war.
Im Jahr zuvor waren bei ihr bösartige Tumore in der Halswirbelsäule entdeckt worden. Man hatte sie in Boston operiert und die Halswirbelsäule mit Metall verstärkt. Infolgedessen konnte J. ihren Kopf nicht mehr nach links und rechts drehen. Durch Chemotherapie und Bestrahlung hatte sie ihre Haare verloren, aber sie waren kräftig wieder nachgewachsen. Schon bald trug sie wieder einen Pferdeschwanz.
J. schminkte sich dezent und sorgfältig, ihre Fingernägel waren stets manikürt.
Mit großer Ernsthaftigkeit folgte sie dem Unterricht. Wenn sie etwas nicht auf Anhieb verstand, legte sie den Kopf ein wenig schief. Sie fragte nach. Gab sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Wollte verstehen. Auch das, was nicht zu verstehen war.
Die Tage strengten sie an. Sie kämpfte. Wollte durchhalten. Und endlich den Schulabschluss schaffen.
Die Späße ihrer spätpubertären Klassenkameraden nahm sie nachsichtig und kopfschüttelnd zur Kenntnis. Zwischen ihrem Leben und dem der wilden, ungezügelten Jugendlichen lagen Welten. Ein Ozean. Operationen. Infusionen und Bestrahlungen. Krankenhäuser.
Schon im Herbst war ihr anzusehen, dass es ihr mit jedem Tag schlechter ging. Sie hatte Schmerzen und konnte nicht mehr lange in der Schulbank sitzen. Sie klagte nicht, versuchte, nicht aufzugeben.
Dann die schreckliche Diagnose: der Krebs war zurück. Neue Tumore waren gewachsen. Erneut musste sich J. einem operativen Eingriff und einer Bestrahlung unterziehen.
An Unterricht in der Schule war anschließend nicht mehr zu denken. Zu schwach war sie geworden, zu anfällig.
Die Lehrer unterrichteten sie zuhause. Akribisch bereitete sie sich auf den Unterricht vor. Sorgfältig eignete sie sich den Lernstoff an. Ihr Lächeln war noch seltener geworden. Aber sie hielt durch.
Im März bat sie um ein Gespräch mit Lehrern und Schulleiter. Gefasst verkündete sie dort, dass die Krankheit in einem Maße von ihrem Körper Besitz ergriffen habe, das eine Heilung unmöglich machte. Sie gelte als austherapiert und wolle nun in ihren letzten Wochen Dinge erleben, für die ihre Altersgenossen noch Jahrzehnte Zeit hätten.
J. machte noch einmal mit ihrer Familie Urlaub, in den Bergen. Sie saß noch einmal auf dem Rücken eines Pferdes. Sie spielte Klavier. Und sie durfte einen Film sehen, der erst im Sommer in die Kinos kommen würde. Die Tage strengten sie an. Sie kämpfte. Sie wollte durchhalten.
Die Familie kehrte auf ihren Wunsch hin eher nach Hause zurück. J. wollte wieder in ihrer vertrauten Umgebung sein. Sie wurde mit jedem Tag schwächer. Sie konnte nicht mehr laufen, nicht mehr sitzen. Nicht mehr essen. Und das Brautkleid, das sie so gern einmal getragen hätte, nicht mehr anprobieren.
Sie tröstete ihren Eltern und ihren kleinen Bruder. Das Leben würde weitergehen. Ihren Platz auf dem Friedhof hatte sie längst ausgesucht.
In den Morgenstunden eines Maimontags, kurz nach Ostern, starb J. zuhause, so wie es ihr Wunsch gewesen war. Die Familie war bis zuletzt bei ihr.
Im Spätsommer des vergangenen Jahres kam J. in meine Klasse.
Meine Welt hat sich seitdem verändert. Ich weiß einmal mehr um die Endlichkeit unseres Daseins. Ich habe miterlebt, wie wichtig Liebe, Fürsorge und Wärme sind. Und mir ist bewusst geworden, dass wir unsere Zeit hier auf der Erde geliebt und liebend verbringen sollten.
Am 12. August wäre J. 19 Jahre alt geworden. Es ist nicht zu verstehen.
J.
- allerleirauh
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Zuletzt geändert von allerleirauh am 07.12.2018, 11:51, insgesamt 1-mal geändert.
Liebe allerleirauh,
mich stört in diesem wunderbaren Text ein wenig das J. ...
Ich würde ihn durch einen Vornamen ersetzen, kann ja ein erfundener sein.
Ich kann nicht mal sagen, warum mich der Buchstabe stört, denn andererseits lässt gerade diese Anonymisierung den Text authentisch wirken.
Über das Brautkleid bin ich gestolpert, da sonst nirgends von einem Freund oder Verlobten die Rede ist. Wenn es nur darum geht, dass das Mädchen gern die Chance gehabt hätte, in Zukunft zu heiraten und eine Familie zu gründen, würde ich das anders formulieren, denn "das Brautkleid anprobieren" klingt für mich so, als sei das Brautkleid schon ausgesucht.
Nur Winzigkeiten, die eigentlich auch nicht stören; für mich eine schöne, einfühlsam geschriebene Geschichte.
ps. Übrigens, das muss ich rasch erzählen - ich habe neulich in einer Onlinezeitung, wahrscheinlich der ZON, einen Artikel eines Mannes gelesen, der im Alter von neun Jahren seine kleine Schwester verlor.
Er schrieb, er hätte sich jede Trauer versagt, nicht geweint, nie zum Grab gegangen. Seine Eltern hätten ihn zu einer Jugendfreizeit geschickt mit lauter Kindern, die auch einen nahen Angehörigen verloren hatten. Die Kinder hätten gespielt und getobt wie überall. Zum Essen hätte immer eine Flasche Tabasco zum Nachwürzen auf dem Tisch gestanden, und jeden Tag hätten die Kinder mehr davon übers Essen geschüttet. Die Flasche sei jeweils nach wenigen Tagen leer gewesen. Die Kinder gossen sich scharfe Würze aufs Essen, aßen davon und weinten. Jeden Tag mehr. Ein unglaublich einprägsames Bild, es geht mir ständig im Kopf herum.
mich stört in diesem wunderbaren Text ein wenig das J. ...
Ich würde ihn durch einen Vornamen ersetzen, kann ja ein erfundener sein.
Ich kann nicht mal sagen, warum mich der Buchstabe stört, denn andererseits lässt gerade diese Anonymisierung den Text authentisch wirken.
Über das Brautkleid bin ich gestolpert, da sonst nirgends von einem Freund oder Verlobten die Rede ist. Wenn es nur darum geht, dass das Mädchen gern die Chance gehabt hätte, in Zukunft zu heiraten und eine Familie zu gründen, würde ich das anders formulieren, denn "das Brautkleid anprobieren" klingt für mich so, als sei das Brautkleid schon ausgesucht.
Nur Winzigkeiten, die eigentlich auch nicht stören; für mich eine schöne, einfühlsam geschriebene Geschichte.
ps. Übrigens, das muss ich rasch erzählen - ich habe neulich in einer Onlinezeitung, wahrscheinlich der ZON, einen Artikel eines Mannes gelesen, der im Alter von neun Jahren seine kleine Schwester verlor.
Er schrieb, er hätte sich jede Trauer versagt, nicht geweint, nie zum Grab gegangen. Seine Eltern hätten ihn zu einer Jugendfreizeit geschickt mit lauter Kindern, die auch einen nahen Angehörigen verloren hatten. Die Kinder hätten gespielt und getobt wie überall. Zum Essen hätte immer eine Flasche Tabasco zum Nachwürzen auf dem Tisch gestanden, und jeden Tag hätten die Kinder mehr davon übers Essen geschüttet. Die Flasche sei jeweils nach wenigen Tagen leer gewesen. Die Kinder gossen sich scharfe Würze aufs Essen, aßen davon und weinten. Jeden Tag mehr. Ein unglaublich einprägsames Bild, es geht mir ständig im Kopf herum.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Ja, ein Text, den ich bis zu Ende gelesen habe; gespannt darauf, wie es J. ergeht.
Der letzte Absatz könnte Leute enttäuschen, die gerne „Literarisches“ lesen. Det mit de
geliebt und so, musst de streichen, ist auch zu direkt und wirkt so zu einfältig. Vielleicht lieber einen Endsatz verblümt mit Metapher.
LG Kurt
Der letzte Absatz könnte Leute enttäuschen, die gerne „Literarisches“ lesen. Det mit de
geliebt und so, musst de streichen, ist auch zu direkt und wirkt so zu einfältig. Vielleicht lieber einen Endsatz verblümt mit Metapher.
LG Kurt
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)
Liebe allerleirauh,
mir geht es genau wie Zefira - eine gute, melancholische Schilderung, die aber durch das "J." etwas unpersönlich wirkt und durch das "Brautkleid" eine etwas irritierende Engführung erfährt. Es wird ja wenig gesagt, was auf die Lebenspläne von J. hindeutet, und es gibt ja noch den einen oder anderen Lebensweg, den eine junge Frau gehen kann.
Liebe Grüße
Merlin
mir geht es genau wie Zefira - eine gute, melancholische Schilderung, die aber durch das "J." etwas unpersönlich wirkt und durch das "Brautkleid" eine etwas irritierende Engführung erfährt. Es wird ja wenig gesagt, was auf die Lebenspläne von J. hindeutet, und es gibt ja noch den einen oder anderen Lebensweg, den eine junge Frau gehen kann.
Liebe Grüße
Merlin
Hallo,
mich hat der Text zum Weinen gebracht. Sehr berührend durch die Schlichtheit.
Allerdings würde ich die Botschaft am Ende streichen. Die kann ich mir selbst er-lesen, als Leserin, empfinde ich als Entmündigung bzw. als "Ich erklär dir jetzt mal das Leben". Und er rückt die Erzählerin in die Mitte, die aber in der Mitte nichts zu suchen hat. Der ganze Platz sollte "J. gehören." Als Textschluss mit "wie es ihr Wunsch gewesen war", (ob die Familie bei ihr war, nonstop, kannst die Erzählerin-Lehrerin ja eigentlich nicht wissen, oder?) Am Anfang würde ich auch schreiben "in die Klasse", nicht in "meine Klasse". So nüchtern wie möglich, beschreibend. Vertrau dem Text, ohne ihn zu kommentieren! Er erklärt das Leben! Das Fühlen und, wenn überhaupt, Schlüsse ziehen, sollten die Lesenden (selbst) übernehmen, das soll man mir nicht aufdrücken und abnötigen, zumal diese Schlussbotschaft, so richtig sie sein mag, banal und beliebig ist - und von "J." weg führt.
Herzlich
Klara
mich hat der Text zum Weinen gebracht. Sehr berührend durch die Schlichtheit.
Allerdings würde ich die Botschaft am Ende streichen. Die kann ich mir selbst er-lesen, als Leserin, empfinde ich als Entmündigung bzw. als "Ich erklär dir jetzt mal das Leben". Und er rückt die Erzählerin in die Mitte, die aber in der Mitte nichts zu suchen hat. Der ganze Platz sollte "J. gehören." Als Textschluss mit "wie es ihr Wunsch gewesen war", (ob die Familie bei ihr war, nonstop, kannst die Erzählerin-Lehrerin ja eigentlich nicht wissen, oder?) Am Anfang würde ich auch schreiben "in die Klasse", nicht in "meine Klasse". So nüchtern wie möglich, beschreibend. Vertrau dem Text, ohne ihn zu kommentieren! Er erklärt das Leben! Das Fühlen und, wenn überhaupt, Schlüsse ziehen, sollten die Lesenden (selbst) übernehmen, das soll man mir nicht aufdrücken und abnötigen, zumal diese Schlussbotschaft, so richtig sie sein mag, banal und beliebig ist - und von "J." weg führt.
Herzlich
Klara
liebe allerleirauh, ein berührender, bewegender text. mich stört das "j." nicht.
allerdings sehe ich es ähnlich wie klara und kurt mit dem schluss, diese zeilen braucht der text an sich nicht, denn genau das spricht von selbst aus ihm. ja, vertraue deinem eigenen text. er ist gut!
herzlich,
birke
allerdings sehe ich es ähnlich wie klara und kurt mit dem schluss, diese zeilen braucht der text an sich nicht, denn genau das spricht von selbst aus ihm. ja, vertraue deinem eigenen text. er ist gut!
herzlich,
birke
- allerleirauh
- Beiträge: 766
- Registriert: 26.06.2010
- Geschlecht:
Liebe Amanita, liebe birke, liebe klara, lieber mnemosyne, lieber kurt, liebe Zefi,
danke für eure zahlreichen Rückmeldungen.
Der Text war eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt, nur eine Selbstverständigung, aber als ich ihn nach einem Jahr wiederfand, dachte ich, dass ich ihn eventuell doch vorzeigen könnte. Eure Einwände, den Schluss betreffend, kann ich nachvollziehen. Den streiche ich. Ich denke, eine großartige Metapher muss auch nicht sein, ich will das so schlicht und nüchtern wie möglich haben.
Klara, "in die Klasse" übernehme ich. Viel besser.
Zum Brautkleid kann ich noch schreiben, dass es also, warum auch immer, tatsächlich so war, dass J. den Wunsch geäußert hatte, noch einmal ein Brautkleid anziehen zu können. Eine Kollegin von mir, eigentlich eine eher hart verpackte, sagte mir ein paar Tage später, dass sie nachts nicht mehr schlafen könne, weil ihr dieser Wunsch im Kopf umhergeistere und sie nicht aushalten könne, dass er nicht erfüllt würde. Sie ist dann also in so eine Brautmodenbude gestiefelt und wollte eigentlich versuchen, unter irgendeinem Vorwand ein Kleid auszuleihen. Als sie vor den Kleidern stand, war sie sicht mehr in der Lage, sich den Vorwand auszudenken und erzählte der Besitzerin die wahre Geschichte. Diese zeigte sich großzügig und meine Kollegin durfte kostenlos zwei beliebige Kleider ausleihen für eine unbestimmte Zeit. Leider war J. zu dem Zeitpunkt dann schon so schwach, dass sie das Anziehen nicht einmal mehr mit Hilfe bewältigt hätte. der Brautkleidtraum blieb ein Traum.
Ich ringe noch mit mir, ob ich den Eltern, mit denen ich seit dem Hausunterricht in einer recht engen und fast merkwürdig vertrauten Verbindung bin, den Text irgendwann einmal zeige....
a.
danke für eure zahlreichen Rückmeldungen.
Der Text war eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt, nur eine Selbstverständigung, aber als ich ihn nach einem Jahr wiederfand, dachte ich, dass ich ihn eventuell doch vorzeigen könnte. Eure Einwände, den Schluss betreffend, kann ich nachvollziehen. Den streiche ich. Ich denke, eine großartige Metapher muss auch nicht sein, ich will das so schlicht und nüchtern wie möglich haben.
Klara, "in die Klasse" übernehme ich. Viel besser.
Zum Brautkleid kann ich noch schreiben, dass es also, warum auch immer, tatsächlich so war, dass J. den Wunsch geäußert hatte, noch einmal ein Brautkleid anziehen zu können. Eine Kollegin von mir, eigentlich eine eher hart verpackte, sagte mir ein paar Tage später, dass sie nachts nicht mehr schlafen könne, weil ihr dieser Wunsch im Kopf umhergeistere und sie nicht aushalten könne, dass er nicht erfüllt würde. Sie ist dann also in so eine Brautmodenbude gestiefelt und wollte eigentlich versuchen, unter irgendeinem Vorwand ein Kleid auszuleihen. Als sie vor den Kleidern stand, war sie sicht mehr in der Lage, sich den Vorwand auszudenken und erzählte der Besitzerin die wahre Geschichte. Diese zeigte sich großzügig und meine Kollegin durfte kostenlos zwei beliebige Kleider ausleihen für eine unbestimmte Zeit. Leider war J. zu dem Zeitpunkt dann schon so schwach, dass sie das Anziehen nicht einmal mehr mit Hilfe bewältigt hätte. der Brautkleidtraum blieb ein Traum.
Ich ringe noch mit mir, ob ich den Eltern, mit denen ich seit dem Hausunterricht in einer recht engen und fast merkwürdig vertrauten Verbindung bin, den Text irgendwann einmal zeige....
a.
traurig...
tja, mit dem den eltern zeigen ist es so eine sache, da würde ich hundertprozentig auf dein bauchgefühl hören.
übrigens würde ich wohl diesen satz: "Am 12. August wäre J. 19 Jahre alt geworden." als schlusssatz stehen lassen, er wirkt für mich als starker schluss, er zeigt für mich noch einmal die verletzlichkeit, ihre, so jung! - aber auch unsere eigene.
ansonsten ... ja, aber sicher ist dein text vorzeigbar, danke, dass du ihn hier gezeigt hast.
liebe grüße, birke
tja, mit dem den eltern zeigen ist es so eine sache, da würde ich hundertprozentig auf dein bauchgefühl hören.
übrigens würde ich wohl diesen satz: "Am 12. August wäre J. 19 Jahre alt geworden." als schlusssatz stehen lassen, er wirkt für mich als starker schluss, er zeigt für mich noch einmal die verletzlichkeit, ihre, so jung! - aber auch unsere eigene.
ansonsten ... ja, aber sicher ist dein text vorzeigbar, danke, dass du ihn hier gezeigt hast.
liebe grüße, birke
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