Beobachtungen

[Herby]

Beobachtungen*
Innenstadt, Fußgängerzone
17. November 2006,
ca. 18 Uhr.

Kunstschneeromantik, Budenglanz und Hüttenzauber;
„Glühweinstraße“ überfüllt, kollektiver gemischter Chorgesang, innbrünstig, aber leicht kakophon, schwere Zungen: „… ich bin so toll, ich bin der Anton aus Tirol.“

Modeschmuck im unvermeidlichen „Designerlook“, es folgen Kochlöffel, Kartoffelstampfer und Co., dicht gefolgt von Heizdecken neben elektrischem Fußmuff aus Fell von glücklichen Schafen;

Fettschwaden; Backfisch und Calamares schwitzen brüderlich im Teigmantel, ihr Fritteur sieht aus, als wäre er selbst auch schon fast gar; Nordseekrabben in miraculösem Dip, rettungslos eingequetscht in blasse Brötchenhälften, dazwischen welken Salatblätter dekorativ vor sich hin.
Nebenan dezente Eleganz und lukullische Extravaganz: Spitzkerzen auf rubinrotem Wachstuch, Deckenkandelaber der Epoche „Spätes Woolworth“; gestoßenes Eis in Kübeln, San Pelegrino für durstige Marktpilger, Austern an Moet et Chandon, foie gras de canard trufée benetzt mit Taittinger, Tranchen von der Flugentenbrust; zwei tierliebende Damen der Gucci Fraktion gönnen ihren Nerzen einen verfrühten Ausgang, halten dabei Small Talk mit der alten Witwe Clicquot und goutieren Beluga, amuse geul für den kleinen Hunger zwischendurch. Angesichts der ihn umgebenden Dekadenz ist der Hummer Thermidor rot angelaufen.

Über allem schwebt beharrlich ein musikalischer Quilt: Andrérieureggaepoppschlagersalsagittiunderika;

Stolpere über Kabelstränge auf dem Pflaster, Lebensadern des Festkommerzes. Stelle mir vor, wie es wäre, sie zu kappen: plötzliches Dunkel und gnädige Stille. Schön!
Kinderwagentroika im Schritttempo, glänzende Äugelchen, stimmgewaltiges Schnullerterzett, Arien in Schissmoll, glücklich plaudernde Mütter, Folge: Rückstau von mehreren Metern;
Kerzenstand geschlossen, wahrscheinlich zu warm für das Wachs;
dahinter Mittelalter: Bier, Met, Feurige Johanna und Ritterfurz, Geigenhansel zwischen Korbmacher und Feuerschlucker; Sauereyen vom Spieß;

biege links ab in die Gasse der kulinarischen Völkerverständigung: Prager Schinken, chinesische Bratnudeln, Krakauer Würstchen, Pizza Romanesca, Argentinisches Hüftsteak. Für Gutbürgerliche: Grünkohl mit Pinkel, Sauerkraut mit Kassler;
ich trete auf frittierte Kartoffelstäbchen mit Mayo.
Drei Jugendliche, bierflaschengeschmückt, Aufdruck „Fan – Club Voll Blau“ auf ihren Anoraks, lallend.

Jahreszeitlich adäquate Körperdekoration: rote Nikolauszipfelmützen mit Blinklämpchen in Saum und Bömmel, silbern funkelnde Eiskristalle als keck wippender Kopfschmuck, Engelsflügel zum Umschnallen und Abheben; alles sehr preiswert.
Plötzlich artifizielles Glockengeläut unter schweigendem Kirchturm, geballtes Festambiente in einer Holzhüttenfiliale des Ganzjahresweihnachtsbedarfsmutterhauses von Käthe W. ob der Tauber: Tanz um den goldenen Baum zu „Stille Nacht, Heilige Nacht“; Lurexlametta zwischen Cloisonnékugeln über Luxusstall mit beheizbarer Krippe, falls Ochs und Esel abhanden gekommen sein sollten, oder Wellnesskrippenwiegebett für den neugeborenen Erlöser und seine erschöpfte Mutter mit batteriebetriebenen Schaukelbewegungen; Liebhaber des christlichen Landhausstils schlendern vom Erzgebirge über Oberbayern ins Engadin.

Zum Schluss noch einen (liquiden Schuss Exotik) für den Weg: Lumumba, Vulcano, Bombalino;
Ein Mann, schwankend, erleichtert sich auf zwei Tannenbäume, die in einer unbeleuchteten Ecke liegen; immerhin pinkelt er nur, hätte schlimmer kommen können.

Alle Jahre wieder?
Alle Jahre früher!

*Die Änderungen erfolgten auf Anregungen Lisas, der ich herzlich danke.

[Mucki]

Großartig geschrieben und akribisch gut beobachtet, lieber Herby!

Das ist doch ne Kolumne!
Saludos
Magic

[Zefira]

Klasse beobachtet ...

Andrérieureggaepoppschlagersalsagittiunderika;

... Du weißt gar nicht, wie gut Du es hast, da "Rudolph, the red-nosed raindeer" nicht dabei ist!!!

*grummel*
Zefira

[Gast]

Andrérieureggaepoppschlagersalsagittiunderika

dreamingofawhitechristmasjinglebellsdashingthroughthesnowihaveabluechristmasiwithoutyou





fehlt eigentlich nur wolle petri

höllehöllehölle




Köstlich Herby


:) Bea

[rya]

Hey Herbie.
Gut angekommen?
Warst du im Ruhrpark?
Gute Beobachtungsgabe,und auch übertragbar auf alle anderen "Weihnachtsmärkte".
Kommerzgeschiss!
Ich habe sehr gelacht.
Der Tag fängt gut an.Danke.
Frank.

[MarleneGeselle]

Hallo Herbie,

alle Jahre wieder. Deine Kolumne passt dermaßen gut, dass du sie aufheben und jedes Jahr neu reinsetzen könntest.

Liebe Grüße
Marlene

[Herby]

Ein freundliches Hallo in die Runde,


Ich danke Euch allen ganz herzlich für Eure positiven Rückmeldungen, die mich sehr gefreut haben.

Ja, ich befürchte, der musikalische Quilt ist noch erweiterbar, wobei ich Rudy, liebe Zefira, immer noch am besten ertragen kann.

Ich halte den Text selbst nicht für eine Kolumne. Ich habe ihn Tom mal zugeschickt und auch er meint, da müsse noch einiges geändert werden, bis eine brauchbare Kolumne daraus wird. Doch da ich z. Zt. einen älteren Prosatext überarbeite und einige neue Gedichte in der Entstehung sind, weiß ich nicht, wann ich dazu komme, meine „Beobachtungen“ zu bearbeiten, aber mit Sicherheit zu spät, um noch den aktuellen Zeitbezug wahren zu können. Aber ich glaube, Marlene, Du hast Recht, wenn Du schreibst, dass der Text auch im nächsten Jahr noch oder wieder aktuell ist. Also kann ich mir ja Zeit lassen.

Nein, Frank, es war nicht der Ruhrpark, aber auch der weist seine vorweihnachtlichen Schrecken auf, wie ich schon mehrfach erleben durfte. In einem großen Buchgeschäft dort scheint es häufig besonders „stimmungsvoll“ zuzugehen …

Schön, dass ich zu einem für Dich heiteren Tagesanbruch beitragen konnte.

Liebe Grüße an Euch und einen schönen Abend!
Herby

[leonie]

Lieber herby,

ach, wie sprichst Du mir aus der Seele. Ich hasse den Weihnachtsmarkt fast. Deine Formulierungen, köstlich. Und über die Aktualität brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen, ich halte den Text fast für zeitlos, ich fürchte, er wird in dreißig Jahren noch genauso treffend sein wie heute (abgesehen davon, dass man die dann neuesten technischen Errungenschaften einbauen müsste....)

Liebe Grüße
leonie

[Max]

Lieber Herby,

ich bin am vorletzten feitag von einer Prüfung kommend unwissentlich in die ersten Buden des Münsteraner Weihnachtsmarkets gestolpert. Dem Ekel, den ich dabei entfand, spricht Dein Text aus dem herzen (falls diese verwegene Satzkonstrruktion Sinn macht). Einer meiner liebsten Texte von Dir (das klingt schon wieder widersinnig).

Liebe Grüße
max

[Gast]

Lieber Herby,

dieser Text ist eine Wucht!!!
(Warum denn keine Kolumne?, ich weiß nicht, was da denn so gravierend zu ändern wäre)
Die Verballhorunungen sind nicht an den Haaren herbeigezogen sondern völlig einleuchtend und naheliegend.
Der "gute alte deutsche Weinachstmarkt" gespickt mit Spezialitäten aus aller Herren Länder, so richtig zum Genießen brrrrrrrrrr
Das Lachen bleibt mir häufig in der Kehle stecken.
Du hast unsere Gesellschaft bestens vorgeführt. Wieder einmal mehr die Bestätigung für mich, dass ich da nichts verloren habe. Und kein erhobener Zeigefinger sondern "nur" erzählt was zu erzählen war.

Also wirklich prima!!!

Liebe Grüße
Gerda

[Mucki]

Lieber Herby,

was Gerda schreibt, kann ich nur unterstreichen. Der Text ist so klasse. Da gibt es nichts zu ändern!
Ich finde diesen Text einen der besten und Kolumnengeeignetsten Texte von ALLEN Kolumnentexten, die ich bisher gelesen habe!
Anerkennende Grüße
Magic

[rya]

heyhey Herbie....

was war denn das für eine Anspielung????
da muss ich mich doch wundern....ich schreibs mal (meinem) Wein zu....

[Lisa]

Lieber Herby!

ganz toll - ja....so ist es!! Also ich würd das auch an Tom schicken, ich find das richtig gut so wie es ist!!

Minidinge:

Für Gutbürgerliche : Grünkohl mit Pinke

<---Leerzeichen vor Doppelpunkt weg

( liquiden Schuss Exotik )

<.----Leerzeichen vor liquiden und nach Exotik weg

Das Ende würde ich so umgestalten:

Ich trete die Heimfahrt an, müde, nachdenklich und wütend.<---unbedingt streichen, hier verliert der Erzähler sein durch die vorher einfach köstlich sarkastischen Äußerungen erhaltene Erhabenheit zugunsten einer Moralfloskel. Das zerstört für mich fast den ganzen Text (überspitzt formuliert). Nachdenken wird der Leser auch so über deinen Text

Alle Jahre wieder?
Alle Jahre früher!

Ansonsten einfach nur toll (achso: spielen sie den Anton wirklich noch? ist schon etwas alt...sowas spielt man eigentlich nur leicht aktuell verzögert?)
Herby, das finde ich total gelungen!

Liebe Grüße,
Lisa

[Herby]

Hallo leonie, Max, Gerda, magische Gabriella, Frank und Lisa,

du leever Jott … so viel Lob hat mich wirklich riesig gefreut und, das ist jetzt keine Koketterie, ein wenig beschämt. Ich danke Euch von Herzen für Eure Resonanz, die mich darin bestärkt, mich weiter im Prosabereich „freizuschwimmen“.

Zum Thema Kolumne: Wie ich schon schrieb, hatte ich Tom diesen Text vor einigen Tagen mal zugesandt. Um ihn zu einer Kolumne umzuarbeiten, schlug er vor, a) etwas weniger Aufzählung, stattdessen ein paar Begebenheiten raus greifen und verdichten, b) mehr eigene Meinung explizit einfließen lassen und c) vielleicht mehr ganze, vollständige Sätze.
Ich habe viel zu wenig Erfahrung im Umgang mit dieser Art Text um sicher beurteilen zu können, ob es nun eine Kolumne ist oder nicht. Ich werde aber mal versuchen, Toms Anregungen umzusetzen, doch das wird ein Weilchen dauern.
Dennoch würde es mich schon interessieren, als was dieser Text nun eigentlich zu bezeichnen ist.

Liebe Lisa, Dir danke ich sehr für Deine konkreten Vorschläge. Was die Leerzeichen angeht, hab ich wieder was gelernt von Dir, da ich bisher der festen Überzeugung war, nach einer geöffneten und vor einer geschlossenen Klammer müsse ein Leerzeichen stehen (wie war das noch ... "Es irrt der Mensch, so lang ...") Werde ich ändern. Besonders wertvoll und einleuchtend sind mir Deine Anmerkungen zum Schlusssatz. Er kann tatsächlich entfallen.

Euch allen liebe Grüße
Herby