Was das Kaninchen erzählt

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 27.11.2006, 23:43

Das Kaninchen ist nicht viel größer als eine Männerfaust. Sein weißes Fell ist an den Ohren dunkel gefleckt. Die Mitarbeiterin des Tierheims kennt es erst seit wenigen Wochen und weiß nicht genau, wo es herkommt. Doch kann sie versichern, dass das Tier gesund ist und alle notwendigen Impfungen bekommen hat. Mit vielen guten Wünschen übergibt sie es den neuen Besitzern: zwei Mädchen, die von ihrer Mutter begleitet werden.

Im Tierheim hat das Kaninchen geschwiegen und sich darauf beschränkt, hinter dem Maschendraht Klee zu mümmeln. In seinem neuen Zuhause redet es ununterbrochen.

Die kleine Schwester bemerkt es als erste. Bevor das Kaninchen ins Haus kam, hat sie sich kundig gemacht und ein Buch über artgerechte Haltung gelesen. Aus diesem Buch weiß sie, dass Kaninchen stumme Tiere sind. Nur wenn sie gereizt werden, fauchen oder grunzen sie. Vielleicht können sie auch schreien, aber das tun sie sicher nur in Todesnot.

Das neue Kaninchen mit den gefleckten Ohren schert sich nicht um dieses Verdikt. Wenn die kleine Schwester es im Arm hält, etwa bei den Schulaufgaben oder beim Fernsehen, spricht das Kaninchen leise vor sich hin. Dabei steckt es seinen Kopf in die Armbeuge des Mädchens, als wolle es gar nicht gehört werden. Das Mädchen schaltet den Fernseher aus und lauscht: Ja, das Kaninchen murmelt und knirscht und seufzt in leisen Lauten wie ein Mensch, der sich selbst eine Geschichte erzählt. Die kleine Schwester wagt den einen oder anderen Zwischenruf, aber das Kaninchen geht auf nichts ein. Es schwatzt unaufhörlich weiter wie ein Politiker bei einer Podiumsrede, aber leise, ganz leise.

Das Mädchen holt die große Schwester herbei und auch die Mutter, damit sie sich das seltsame Phänomen zu Gemüte führen, aber die finden es gar nicht weiter merkwürdig. Sie hören auch nicht richtig zu. Sie wollen sich nicht einlassen auf den unaufhörlichen Redestrom über Krokusse und Möhrengrün, Regengüsse und Frost, Unheil und Vernichtung. Das Kaninchen erhebt die Stimme nicht. Mit gleichmäßigem Murmeln, als rede es nur für sich selbst, erzählt es seine Geschichte. Darin kommen Lichtblitze vor aus grellen Scheinwerfern und zu Schlingen gebogene Drähte, unterirdische Gänge, Mondschein und Rübenkraut, Hunde und Gittertüren. Pusteblumen und im Morgengrauen aufjaulende Bagger, die Erdhügel niederreißen; manchmal auch Spritzen und blutende Wunden an den Ohren, und immer wieder der Mond, der volle gelbe Mond. Alles geht kunterbunt durcheinander und nimmt nie ein Ende. Die kleine Schwester versucht sich eine Meinung dazu zu bilden, aber sie begreift es nicht.

Nachts träumt sie manchmal von dem geschwätzigen Kaninchen, wie es eine weiße Straße entlang hoppelt und dabei etwas hinter sich herzieht wie eine Luftschlange: eine dürre Wortgirlande, die sich in die Büsche und Baumstämme am Straßenrand verheddert und immer länger wird. Die Girlande stört das Kaninchen nicht, es schleppt sie einfach nach. Erdklumpen hängen darin und von Raupen zerfressene Salatblätter, Petersilie und Katzenstreu. Die Schwatzgirlande des Kaninchens schlingt sich um die Füße der kleinen Schwester und bringt sie zum Stolpern. Vergeblich sucht sie zu folgen.




Trotzdem hört die kleine Schwester weiter zu, Tag für Tag. Was das Kaninchen erzählt, ist ihr fremd, aber nun will sie alles hören. Bis die Girlande sich vollends entrollt und das Kaninchen ihr über Gewehrschüsse erzählt und Stacheldraht, über Gaswolken, die in den Augen brennen, über fremde stechende Gerüche und leckende Feuerzungen und immer wieder über den Mond, den vollen gelben Mond.

Dann hat das Kaninchen sein Garn zu Ende gesponnen und verstummt für immer. Manchmal faucht es noch, wenn es gereizt wird. Vielleicht kann es auch schreien. Aber das wird es erst sehr viel später tun, wenn überhaupt.

© Anna Rinn-Schad

Zweiten Satz geändert, ursprünglich: Es hat ein weißes Fell mit ein paar schwarzen Flecken im Gesicht und an den Ohren.
Zuletzt geändert von Zefira am 06.09.2009, 20:11, insgesamt 2-mal geändert.
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Peter

Beitragvon Peter » 28.11.2006, 11:16

Hallo Zefira,

eine Kindergeschichte, dachte ich erst, las dann auf Leichtes eingestellt weiter, und bemerkte fast nicht, wie die Geschichte kippt. Ein Kaninchen, befangen von einem Traumata - das finde ich ist eine tolle Idee! Besonders gelungen ist diese Stelle:

"Nachts träumt sie manchmal von dem geschwätzigen Kaninchen, wie es eine weiße Straße entlang hoppelt und dabei etwas hinter sich herzieht wie eine Luftschlange: eine dürre Wortgirlande, die sich in die Büsche und Baumstämme am Straßenrand verheddert und immer länger wird."

Den letzten Absatz deines Textes würde ich aber streichen. Wäre das kein besseres Ende, jener letzte Blick zum Mond? Dadurch würde das Thema hervorgehoben: das verwandelte Weiß, welches ja anfangs so unberührt erscheint, im Laufe des Textes aber immer fahler oder kränklicher wird.

Auch seltsam finde ich, wenn ich mich erinnere, war früher/vorher das Kaninchen in deinem Bild/ in deiner Photographie, und jetzt ist es in deinem Text! als wäre es herausgesprungen. Erstaunlich!

Liebe Grüße,
Peter

Nifl
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Beitragvon Nifl » 28.11.2006, 18:14

Schön flüssig geschrieben.

Inhaltlich: Ein kleines Kaninchen kommt aus dem Tierheim in eine Familie. Die kleine Schwester hat eine besondere Bindung zu dem Tier. Nur sie nimmt wahr, wie der kleine Möhrenfresser Geschichten erzählt. Am Ende verstummt das Stallhäschen plötzlich.

*hm
Die kleine Schwester und der Hopser verfügen beide über ein hohes Maß an Phantasie. Der Hopser, weil er das ja gar nicht alles erlebt haben kann und die Schwester, weil sie den Hopser versteht. So gehe ich als Leser davon aus, dass das Mümmelsche die Geschichte seiner ganzen Ahnen verkündet. Aber warum? Und warum hört es plötzlich damit auf?

Oder doch nur die Phantasie des Kindes? Weil sie sooo unbedingt gerne wissen möchte, wo das Hoppelsche herkommt, was es bisher erlebt hat, bis sie sich eigene Antworten spinnt? Dann plötzlich aufhört, weil sie in der Gegenwart angekommen ist?

Nun, egal wie … die größte Schwäche des Textes ist wohl, dass der versaute Leser sofort bei Alice im Wunderland landet…

Wir hatten auch mal so einen faustgroßen (ist das nicht der geläufige Vergleich für ein Geschwür? ... nicht so schön) Hüpfer, der noch das Fläschen brauchte usw. … er war immer (auch später noch) absolut stubenrein und –das wollte ich eigentlich schreiben- es war immer eine Hochgenuss anzusehen, was der für eine Lebensfreude hatte, wenn er durch die Wohnung hopste … bei jedem dritten Hopser schleuderte er nämlich dann immer seine Hinterläufe in die Höhe … und wie alle Tieren in diesem Hause war er natürlich auch dressiert und konnte zB. Männchen machen… ä ach, ich fange an zu plaudern *lach

Ein paar Kleinigkeiten:

Es hat ein weißes Fell mit ein paar schwarzen Flecken im Gesicht und an den Ohren.

Könntest du auf das erste „ein“ verzichten? Und „hat“ gefällt mich auch nicht … „Sein weißes Fell …“

Die Mitarbeiterin des Tierheims kennt es erst seit wenigen Wochen und weiß nicht genau, wo es herkommt.

Kaninchen sind ja recht schnell ausgewachsen … da müsste es bei „Wochen“ aber schon größer sein? … und im Tierheim geboren?



Schöne Geschichte … liest sich irgendwie fast weihnachtlich.

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 28.11.2006, 21:52

Hallo Peter, hallo Nifl,

danke für die Antworten! Die Geschichte ist Teil einer Serie von Tierporträts, an der ich nach und nach weiterschreibe. Die meisten, wenn nicht alle, haben einen Dreh ins Phantastische (einige stehen auf meiner Apollopark-Seite). Im Zusammenhang gelesen wäre dieser Text jedenfalls bestimmt nicht in Verdacht gekommen, eine Kindergeschichte zu sein. Aber der harmlose Anfang ist natürlich beabsichtigt.

Die "kleine Schwester", Niflchen, ist übrigens eine Reverenz an die schwedische Kinderbuchserie "Kleine Schwester Kaninchen" (Lilla Syster Kanin). An Alice habe ich gar nicht gedacht - auch meines Wissens sonst keiner, der die Geschichte kennt ... aber ich hab nix dagegen.

Das Kaninchen, das früher auf meinem Avatar zu sehen war (es war übrigens auch im Erwachsenenalter nicht viel größer als eine Männerfaust, hatte eher Meerschweinchenformat) war Vorbild für diese Geschichte, weil es tatsächlich ununterbrochen vor sich hin murmelte. Ich habe mich sogar noch in einem Internetforum für Kaninchenhalter erkundigt, was das zu bedeuten habe, und bekam die trockene Antwort, was ich da erzähle, könne gar nicht sein. Klasse.

Du fragst nach dem Warum, Nifl - das habe ich mich in dem Moment auch gefragt ... Wie auch immer, ich möchte den Fokus auf dem Tier haben, wie sich das Tier verhält, und nicht auf dem reagierenden Menschen. Den Menschen möchte ich als Suchenden und Deutenden verstanden wissen ... das Tier weiß, was es tut und warum. Deshalb auch der Schluss, lieber Peter: ich sehe es so, dass das Kaninchen irgendwann aufhört, weil es nichts mehr zu sagen gibt ... egal ob es verstanden wurde oder nicht. Streichen könnte ich allenfalls den Schrei ganz am Ende - der ist wohl tatsächlich der klassischen Tiergeschichte geschuldet; ich überlege mir das mal.

@Peter noch: Mich hat sehr gefreut, dass das Bild mit der weißen Straße so gut ankommt, weil ich die Serie gemeinsam mit meiner Tochter illustriere. Eine Zeichnung des Kaninchens auf der Straße gehört zu diesem Text. Vielleicht krieg ich es mal gebacken, sie hier zu zeigen ...

Der Satz mit dem Fell ist nicht so schön, danke Nifl. Ich stricke das gleich ein bisschen um.

Wackelohrgrüße
Zefira
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Gast

Beitragvon Gast » 28.11.2006, 23:26

Hallo liebe Zefira,

ich habe diese Geschichte sehr gern gelesen, finde sie gut gelungen, (Kleinigkeiten sind schon angemerkt) und für mich muss sie keine reale Ebene haben.
Für mich ist das Kaninchen eigentlich die Stimme eines Mahners aus dem Off und nicht alle können/wollen hören (Hier die Mutter und die große Schwester).
Es gibt Menschen, denen ist wirkliches Hinhören (aktives Zuhören, mit dem Herzen hören) eigen, und so lese ich hier, dass offenbar das jüngere Mädchen diese Eigenschaft besitzt.
Ich finde die Idee, einem Kanninchen diese "Rolle" zuzuteilen, außergewöhnlich einfallsreich.

(Auf die leisen Töne sollte man öfter hören).

Liebe Grüße
Gerda

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.11.2006, 23:33

Liebe Zefi,

ich hätte aber gerne gelesen, was das Kaninchen alles geplappert hat. :lupe:
Es hätte ja eine "weise Botschaft" an die Menschen sein können oder so etwas in der Art.
Mal mein spontaner Gedanke.
Saludos
Magic

Gast

Beitragvon Gast » 28.11.2006, 23:37

Hey, Gabriella, träume ich, oder muss ich noch einmal nachlesen?
Ich meine ganz viel von dem aufgeschnappt zu haben, was das Kaninchen erzählt, da muss keine Botschaft enthalten sein, wenn es die Mängelliste ausplaudert...Lösungen sollen gefälligst die schlauen Menschen finden ;-)

Liebe Grüße
Gerda

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.11.2006, 23:45

nein, ich meine: konkreter schreiben, was das Kaninchen sagt, Gerda. Nicht nur als Aufzählung von Substantiven. Es könnte sogar richtig, ja, richtig laut sprechen. Warum denn nicht? Ich fände das sehr interessant. Aber, ist ja nur ein Gedanke von mir.
Buenas noches
Magic

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 29.11.2006, 00:15

Liebe Magic,

ich verstehe Deinen Wunsch, aber es ist nicht das, was ich möchte. Das ginge mir tatsächlich zu sehr in die Richtung, dass das Tier ein Anliegen an den Menschen hat, das es artikulieren will, wenn es denn endlich jemanden gefunden hat, der bereit ist zuzuhören.

Ich stelle mir die Rede des Kaninchens eher wie eine Art Wörterkette vor - ja, mehr substantivisch, vor allem rein abwickelnd, ohne Aufforderungscharakter - und gerade keine Botschaft. Nur ein abgewickeltes Garn.

Lieben Dank allen, ich schau morgen noch mal genauer, muss jetzt meine Schnupfennase schlafen legen ...

mümmelgrüße
Zefira
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.11.2006, 00:25

Liebe Zefi,

okay, das stimmt, auch würde die Geschichte wesentlich länger werden.
Du auch Schnupfen? Gute Besserung wünsche ich
Magic ebenfalls mit Schnupfnase

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 29.11.2006, 14:34

Hab den zweiten Satz geändert.
Hier eine der Zeichnungen meiner Tochter zu dem Text.
Über den Schluss denke ich nach, ganz zufrieden bin ich nicht damit.
Danke nochmal allen,
Zefira


Bild
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.11.2006, 15:38

Liebe Zefi,

das Bild ist klasse und es passt wirklich gut zu der Geschichte:)
Großes Lob an deine Tochter!
Saludos
Magic

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.12.2010, 19:22

Hallo liebe Mitleser,
mein Leib- und Magen-Vorleser "Ohrenschützer" hat die Geschichte des Kaninchens für seinen Podcast gelesen.
Wer mag, hört einmal hier herein:
Der Ohrenschützer
Ich kann leider nur davon träumen, diese Geschichte überhaupt jemals irgendwo vorzulesen - geht nicht, und selbst wenn ich es könnte, würde es nie auch nur halb so gut.

Wehmütigen Gruß von Zefira
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Beitragvon Mucki » 01.12.2010, 20:08

Hi Zefi,

das war ein richtiger Genuss, auf diese Weise deine Geschichte noch einmal zu hören. :stern:

Saludos
Mucki


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