Aufbruch in der Dämmerung

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
ecrivain

Beitragvon ecrivain » 27.11.2006, 23:44

Hallo Leute,
Dank für eure Kritik, dank für euer Lob! Stilistisch - das kündigte ich weiter oben schon an - will ich den Kurztext noch gründlich ausmisten. Er soll aber vorläufig ein Kurztext mit Notizcharakter bleiben. Dem Thema würde eine größere Form gut stehen, doch behalte ich mir eine größere Ausarbeitung für später vor.

Hier also meine Version II:


Nach allen Richtungen fletscht der Krebs die Scherenzähne. Langsam, unaufhaltsam beißt er sich voran. Schmerzen säumen seine Kriechspur. Totes Gewebe gibt ihr die Richtung vor.

Das Leben dieser Frau war Opfergang aus Sorge um die Kinder, kleine, große, ewige. Fremde Leben komfortabel einzurichten, hielt sie stets für ihre Pflicht; wir haben davon profitiert und rümpfen doch die Nasen, die emanzipierten. Wir finden, dass sie ernten sollte, was sie jahrzehntelang gesät. Wir finden, dass sie aufleben sollte nach soviel Selbstverleugnung und Entbehrung. Wir finden, dass es Zeit sei für ein heroisches: "Und jetzt komme ICH"; aber bitte keine Hartköpfigkeiten, keine Abweisung best gemeinter Hilfen, kein gegeneinander Ausspielen, kein Verschweigen eigenbrötlerischer Maßnahmen, keine undankbaren Mätzchen ...

Versteh doch, rufen wir befremdet, wir schätzen deinen Eigensinn, doch Sturheit, die Vernunft nicht kennt, wollen wir nicht hinnehmen!
Wo Eigensinn sich regt, sind WIR es, die ihn beatmen, sonst wucherte er noch wie ein gewisses Geschwür ...

Sie hängt am Leben, leugnet den Verfall. Will nichts hören von Fristen und nahem Ende, verstopf ihre Ohren vorm Stimmengewirr, das sie einspinnt in ein Netz von Dos und Don´ts, damit sie gut versorgt und glücklich in die Zielgerade schwenkt.

Es gehe ihr gut, es gehe ihr sogar besser, lässt sie uns immer wieder wissen. Lobt unser aller Bemühungen um ihren Komfort. Gern hören wir das, wir wollen stets nur ihr Bestes -, oh ja, sie kennt ihn gut, diesen vielzitierten Satz ... Und glaubten schon, dies Beste jetzt für sie erreicht zu haben. Doch wandelt sich die Freude darüber in zorniges Schweigen, als sie beiläufig sagt, sie würde spätestens kommende Woche den Pflegedienst abbestellen.
(ecrivain, 11/2006)
Zuletzt geändert von ecrivain am 04.12.2006, 14:37, insgesamt 2-mal geändert.

Peter

Beitragvon Peter » 28.11.2006, 11:57

Hallo ecrivain,

eine Notiz..., die sich mir nicht ganz erschließt. Dem Titel nach, versuchst du einen Moment einzufangen, den Moment des Aufbruchs, nur müsste dieser, damit er sich mitteilt, allgemeiner gehalten sein. Wir sehen das Ende eines Lebens - wird nicht mit diesem Ende eines Lebens sehr eng verfahren? "Aufbruch in der Dämmerung" könnte der Aufbruch sein in die Nacht - bleibt davon nichts zurück als das, was du schreibst, ein Gedanke an den Eigensinn, raunend? Ich finde, die Frau, von der du sprichst, müsste mehr Raum bekommen - wenn ich bös sein darf, ist deine Notiz auch eine Art Krebs, der das Lebendige/ das Leben beschneidet.

Andrerseits könnte dieser Text auch sehr privat gemeint sein - ist er? Dann würde ich einen solchen nicht in das Forum stellen, denn dann fällt es schwer, fällt es dir sicher schwer, ihn auf eine eher objektive Ebene zu heben. Und eine Kritik an deinem Text kann dann sehr leicht sehr kalt erscheinen.

Kalt soll meine Kritik nicht gemeint sein. Ich wünsch dir, zum Ausgleich, ein warmes, herzliches Willkommen.

Liebe Grüße,
Peter

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 28.11.2006, 12:26

Hallo ecrivain,

auch von mir ein Willkommen im Forum.

Ich sehe in dem Text einen Zwiespalt, von dem ich nicht sicher bin, ob er beabsichtigt ist: Es wird ein Mangel an Eigensinn festgestellt, bzw. ein Versäumen, auf das "Raunen des Eigensinns" zu hören; andererseits stellt sich gerade diese Haltung für mich als Eigen-Sinn dar, nur eben nicht als die Sorte Eigensinn, die der Text offenbar erwartet.

Aus eben diesem Grund habe ich auch ein wenig Probleme mit dem Topos "Leben als Opfergang für andere". Auch das ist eine Form von Eigen-Sinn.

Vieles an dem Text gefällt mir, vor allem eine angedeutete sprachliche Widersprüchlichkeit, die vielleicht die inhaltliche spiegelt -
ein Bienenschwarm aus Ermahnungen, der ihr kommen will mit Vernunft und all sowas.

Es gehe ihr gut, es gehe ihr sogar besser

- aber es wäre schon gut zu wissen, ob dieser Widerspruch bewusst eingearbeitet wurde oder sich in den Text - vielleicht weil er persönliches Erleben wiedergibt? -, unbeabsichtigt eingeschlichen hat.

Lieben Gruß
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

ecrivain

Beitragvon ecrivain » 28.11.2006, 14:14

Hallo Peter, hallo Zefira,
danke für eueren Willkommensgruß und für euere Kritik. Ich sehe schon auch, dass der Text etwas sehr Persönliches hat, aber nicht so Intimes, dass man es nicht verallgemeinern könnte und dass er sich Fremden nicht erschließen würde.

Peter:
"Dem Titel nach, versuchst du einen Moment einzufangen, den Moment des Aufbruchs, nur müsste dieser, damit er sich mitteilt, allgemeiner gehalten sein. "

Wie meinst du das, allgemeiner? Was ist zu speziell an dem beschriebenen Aufbruch?
Warum verfahre ich mit dem aufbrechenden Leben zu "eng"? Die Entdeckung des Eigensinns nach Jahrzehnten der Anpassung und der Unterordnung ist doch nicht wenig! Es ist vielmehr eine grundsätzliche Weichenstellung (wenn sie denn mit allen Konsequenzen ausgeführt werden würde).

"Ich finde, die Frau, von der du sprichst, müsste mehr Raum bekommen - wenn ich bös sein darf, ist deine Notiz auch eine Art Krebs, der das Lebendige/ das Leben beschneidet."

Der Text ist nicht in der Ich-Form verfasst. Ein Sohn, das Erzähl-Ich, schreibt über die Mutter. Er stellt Vermutungen an, schlussfolgert, versucht zu verstehen. Mehr Raum geben hieße, mehr spekulieren, denn er kann ja nicht in den Kopf dieser Frau schauen. Und er versucht, ihr nicht unnötig mehr zu unterstellen als er möglicherweise schon tut.
Das mit der Krebs-Notiz halte ich für schwer übertrieben. Wenn wir Aussagen über empirische Personen machen, laufen wir doch immer Gefahr zu projizieren oder zu reduzieren bzw. zu übertreiben.

Zefira:

"Es wird ein Mangel an Eigensinn festgestellt, bzw. ein Versäumen, auf das "Raunen des Eigensinns" zu hören;"
Nein, ich habe vielleicht nicht deutlich genug gemacht, dass dieses Versäumnis eine lange Vergangenheit hat und erst in der Gegenwart der 80jährigen als Versäumnis erkannt wird - vermutet der Ich-Erzähler.

"andererseits stellt sich gerade diese Haltung für mich als Eigen-Sinn dar, nur eben nicht als die Sorte Eigensinn, die der Text offenbar erwartet."

Welche Sorte Eigensinn erwartet der Text deiner Meinung nach offenbar?Er stellt nur fest: Es gibt ein anschwellendes Raunen von Eigensinn, und das steht in Widerspruch zur früheren Angepasstheit.

"Aus eben diesem Grund habe ich auch ein wenig Probleme mit dem Topos "Leben als Opfergang für andere". Auch das ist eine Form von Eigen-Sinn."

So kann man es auch sehen. Für den Ich-Erzähler steht der neue Eigensinn aber klar in Kontrast zu einer Lebenshaltung, die Éigeninteresse stets negiert hat und wie selbstverständlich (also unreflektiert) das Wohl der anderen über alles andere gestellt hat.
Was meinst du mit "sprachlicher Widersprüchlicheit"? Die veränderte Stilebene bei "Vernunft und all sowas"?
Und weshalb steht das Zitat "Es gehe ihr gut ... besser" für sprachliche Widersprüchlichkeit? Es ist doch nur ein Zitat der Frau im Konjunktiv: So hat sie am Telefon gesprochen.

Liebe Grüße an euch beide,
ecrivain

Gast

Beitragvon Gast » 28.11.2006, 15:21

Bild ecrivian, viel Freude im Blauen Salon,

Ich lese ein Aufzeichnung, deren Inhalt ich nach eigener Erfahrung sehr gut nachvollziehen kann.
Nur sehe ich keine verdichtete Kurzprosa, sondern ein Fragment, das sich aber sehr gut als Grundlage, für die literarische Verarbeitung eignen würde.
Ich glaube aber nicht, dass der Icherzähler aus der momentanen Ohnmacht und Wut bereits so schreiben kann, dass der Text weg rückt von der persönlichen, auf jene Ebene, die dann allgemein verständlich ist, für fremde Dritte, die solche Erfahrungen noch nicht persönlich gemacht haben.

Vielleicht braucht es etwas Zeit und weniger Aufgeregtheit über die alte Dame, sondern mehr Empathie und Reflektion.
Ich vermisse das Tolerieren einer doch offenbar geistig voll zurechnungsfähigen individuellen und selbstbestimmten Persönlichkeit, die sich nicht plötzlich damit abfinden kann auf fremde Hilfe angwiesen zu sein, und sich ganz sicher fragt, warum nicht die, die sie solange versorgt und bemuttert hat, nun nicht diesen umgekehrt diesen Dienst an ihr tun können.
Die Eigenart ist wohlmöglich eben auch jene, sich nicht in fremde Hände begeben zu wollen.

Aber wie gesagt, daraus lässt sich sicher mit Bedacht ein guter Kurzprosatext entwickeln. So ist er tatsächlich eine eindimensionale Notiz.

Liebe Grüße
Gerda
Zuletzt geändert von Gast am 29.11.2006, 00:55, insgesamt 1-mal geändert.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 28.11.2006, 15:25

Hallo ecrivain,

schnelle Antwort, hab im Moment nur wenig Zeit:
Welche Sorte Eigensinn erwartet der Text deiner Meinung nach offenbar?

- dass die gemeinte Person ihrem eigenen Wohlergehen, speziell ihrer Gesundheit, mehr Aufmerksamkeit widmet. Nun kann man aber ihre Weigerung, dies zu tun, genauso als Eigen-Sinn begreifen. Das Ansinnen, sie möge sich verstärkt sich selbst zuwenden, erinnert insoweit ein wenig an die Aufforderung "Nun sei doch mal spontan!"

Sprachliche Widersprüchlichkeit: "Es geht ihr gut, es geht ihr sogar besser" - was heißt "gut, sogar besser"? Besser als gut? Es ist kein Widerspruch, aber eine rätselhafte Art, sich auszudrücken, die wieder zu der Frage führt: Was ist eigentlich wirklich "gut für sie"?

Die andere Stelle - ja, ich meinte die veränderte Stilebene. Das "all so was" bringt eine gewisse Verächtlichkeit zum Ausdruck, als sei die Perspektive für diesen winzigen Augenblick zu der Frau übergewechselt.

Übrigens waren meine Anmerkungen nicht als Kritik gemeint, ich wollte nur nachfragen. Ein Text, der auf so kleinem Raum so viele Fragen aufwirft, ist in meinen Augen ein guter. :daumen:

Später sicher noch mehr - muss jetzt
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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(Ikkyu Sojun)

Peter

Beitragvon Peter » 28.11.2006, 15:46

Hallo ecrivain,

dein Text ist betitelt mit "Aufbruch in der Dämmerung" - lass ich diesen Titel auf mich wirken, finde ich kaum wieder zu deinem Text zurück. Das meinte ich mit: Der Text müsste allgemeiner gehalten sein. Aber das ist vielleicht Geschmackssache, ich weiß nicht - Auf was ich letztlich hinauswollte, war (und ist): Ich vermisse den Raum. Und warum nicht spekulieren - du wehrst dich anscheinend dagegen. Und warum nicht "In den Kopf schauen"? Davon lebt doch die Literatur (von dieser Unmöglichkeit).

Du schreibst: "Und er versucht, ihr nicht unnötig mehr zu unterstellen als er möglicherweise schon tut." Ich glaube darin, eben darin, liegt die meiner Meinung nach falsche Erzählhaltung oder der ungeglückte Beschreibungsort deines Textes. Das lyrische Ich unterstellt. Und ich, pardon, kann sowas dann nicht lesen; es bleibt eine Meinung, und fordert zur Meinung heraus. Aber ganz für mich selbst ist das nicht Sprache, sondern beschneidet Sprache, oder ihre Möglichkeiten.

Liebe Grüße,
Peter

ecrivain

Beitragvon ecrivain » 28.11.2006, 15:59

Hallo Gerda,
du schreibst:
Nur sehe ich keine verdichtete Kurzprosa, sondern ein Fragment, das sich aber sehr gut als Grundlage, für die literarische Verarbeitung eignen würde.
Das sehe ich auch so. Ich wollte ganz einfach mit einem eigenen Text in den Salon einsteigen. Nicht gleich mit Kritik fremder Texte. Und da habe ich mich abends an die Tastatur gesetzt und zu vorgerückter Stunde Unausgegorenes, aber doch Diskutables (?) hingeschrieben.

"Ich glaube aber nicht, dass der Icherzähler aus der momentanen Ohnmacht und Wut bereits so schreiben kann, dass der Text weg rückt von der persönlichen, auf jene Ebene, die dann allgemein verständlich ist, für fremde Dritte, die solche Erfahrungen noch nicht persönlich gemacht haben."

Ich bin gespannt auf neue Kommentare, die dich bestätigen bzw. widerlegen.

"Ich vermisse das Tolerieren einer doch offenbar geistig voll zurechnungsfähigen individuellen und selbstbestimmten Persönlichkeit, die sich nicht plötzlich damit abfinden kann auf fremde Hilfe angwiesen zu sein, "

Moment, dass die "Gegenseite" intolerant wäre, habe ich nicht entfernt sagen wollen! Nur befremdet, konsterniert. Und der Text ist Ausdruck dieser Befremdung. Er ist keine Behauptung von Wahrheit contra Irrtum, kein Ausspielen von Vernunft gegen Altersstarrsinn etc.

"Die Eigenart ist wohlmöglich eben auch jene, sich nicht in fremde Hände begeben zu wollen. "

Das ist in der Tat eine Form von Eigensinn, der volle Berechtigung hat, den aber das Erzähl-Ich nicht gemeint, nicht berücksichtigt hat. Hier ist der Erzähler gewissermaßen beschränkt ;-)...

Aber wie gesagt, daraus lässt sich sicher mit Bedacht ein guter Kurzprosatext entwickeln. So ist er tatsächlich einen eindimensionale Notiz.

Dein letzter Satz: recht hart, das mit der Eindimensionalität! Ist es inhaltlich gemeint, kann ich dir folgen. Formal finde ich jedoch, dass ich die - vielleicht schlichten - Gedanken in konzentrierte Sätze gebracht habe, dass die Bilder geglückt sind, und dass auch ein gewisser fast lyrischer Rhythmus vorhanden ist.

Soviel aus der Sparte "Ich über mich". :smile: Jeder andere mag das anders sehen, und ich bin neugierig darauf, es zu erfahren! :daumen:

Liebe Grüße
ecrivain

ecrivain

Beitragvon ecrivain » 28.11.2006, 16:20

Hallo Peter,
du schreibst:
Peter hat geschrieben: Und warum nicht "In den Kopf schauen"? Davon lebt doch die Literatur (von dieser Unmöglichkeit).

Bei einer rein fiktiven Anlage meiner Protagonistin, ja. Es ist jedoch viel Empirisches darin enthalten, und in diesem Fall wäre das "Gedankenlesen" wirklich als Spekulation anzusehen. Der Text ist ein sich-Abarbeiten eines Außenstehenden an einer Ihm Nahestehenden Verwandten. Er hat wohl das Recht, ihr Absichten bzw. Haltungen zu unterstellen, soweit er sich dabei bewusst bleibt, dass es sich dabei um eine Gratwanderung handelt.

Du schreibst: "Und er versucht, ihr nicht unnötig mehr zu unterstellen als er möglicherweise schon tut." Ich glaube darin, eben darin, liegt die meiner Meinung nach falsche Erzählhaltung oder der ungeglückte Beschreibungsort deines Textes. Das lyrische Ich unterstellt. Und ich, pardon, kann sowas dann nicht lesen;

Pardon, warum denn nicht?? Liest du nur Sachen, die hundertprozentig empirisch nachgewiesen sind (Recherchierte Reportagen, Reportageromane) und / oder reine Fiktionen, bei deren Lektüre sich die Frage nach Halb-/Dreiviertelwahrheit oder völlig fiktiv etc. ohnehin erübrigt?

,es bleibt eine Meinung, und fordert zur Meinung heraus.

Bestens! Dann habe ich erreicht, was ich erreichen wollte...

Aber ganz für mich selbst ist das nicht Sprache, sondern beschneidet Sprache, oder ihre Möglichkeiten.

Was ist für dich nicht Sprache? Meine Sprache? Angenommen, der Ezähler "beschneidet" seine Protagonistin, indem er sie herabsetzt, ihr was unterstellt, sie kleiner macht, als sie ist ... dann nenne ich so etwas Anmaßung - aber auf der inhaltlichen Ebene. Die sprachliche Ebene muss deswegen nicht anmaßend, nicht beschneidend sein. Beschneidende Sprache ist für mich Schwundjargon, Werbungs-Dummdeutsch, reduziertes Reden mit Abkürzungen und Privatjargon.
Aber du meinst vielleicht, die Protagonistin sollte mehr Raum erhalten, und in diesem Raum ihre eigene Sprache sprechen, das wäre ein anderer und wohl auch längerer Text. Er würde das Anliegen hier, die Aufzeichung einer inneren Befremdung eines Angehörigen, sprengen. Aber gut. Auch Gerda meinte schon, der Text könnte Grundlage einer größeren Arbeit werden. Mal sehen ...

Liebe Grüße,
Peter


Liebe Grüße zurück
ecrivain

Nifl
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Beitragvon Nifl » 28.11.2006, 21:14

Huhu ecrivain.

Habe noch keinen Kommentar gelesen.

Schwieriges Thema… es liest sich privat, liebevoll, verzweifelt… sprachlich kommt es bei mir etwas inhomogen an. Einerseits geschraubt und gewollt pathetisch, daneben aber „einfache“ Vergleiche …
Hier zB. gleich in einem Satz:
Will nichts hören von Fristen und nahem Ende, verstopft ihre Ohren vorm Brummen des Formationsflugs der Zeigefingerschwadron, angeführt und choreographiert von uns, ihren Kindern - ein Bienenschwarm aus Ermahnungen, der ihr kommen will mit Vernunft und all sowas.


Ich würde das verbale Schnitzwerk ein bisschen abschleifen, sonst schimmert ein gewisse Doppelmoral aus dem Text… denn um was geht es? Um die kranke Mutter, oder darum zu zeigen wie geschraubt ihr Sohn formulieren kann? Das Motiv des Schreibers wird unlauter, selbstdarstellerisch.

Noch ein paar dezidierte Nifleien:

In alle Richtungen spreizt der Tumor seine Krebsbeine.

In alle Richtungen spreizt der Krebs seine Beine


Organ für Organ reißt er auf mit seinen Scherenmessern.

Organ für Organ reißt er mit seinen Scherenmessern auf.

, doch unaufhaltsam langsam

langsam streichen

Jetzt würgen Metastasen ihre Lungen.

Ich habe nur eine Lunge (außerdem bin ich in der Bilderebene noch beim Krebs mit seinen Zangen)

sollte sie da mit 80 nicht lauschen dem ahnungsvollen Raunen namens Eigensinn?

wie meinen?

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Nifl
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Beitragvon Nifl » 28.11.2006, 21:37

So, nun habe ich die Kommentare gelesen.
Ich denke Peters Problem ist auch, dass ihm zu wenig gezeigt wird. Das geht mir ebenso. Der Text besteht aus einer Aneinanderreihung von Behauptungen. Seine Anmerkung (sinngemäß):“Zeig, wie schränkt er die Mutter ein? Wie wirken die Lungenschnürungen?“ (muss sie zB. auf jeder Treppenstufe Rast machen?…oder sowas) halte ich für sehr wichtig

Der Text wäre empathischer, würde die Mutter dreidimensionaler (und auch die Krankheit)

KLARA ! Wir brauchen hier deinen Oma-Text … dann würde ecrivain besser verstehen.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Gast

Beitragvon Gast » 29.11.2006, 01:32

hallo ecrivian,

du schreibst weiter oben selbst, von "Unausgegorenem".
Okay, akzeptiert, aber dann wäre der Text als noch nicht ausgearbeitet in der "Textwerkstatt" besser aufgehoben.
Im Weiteren schreibt du, "Diskutables", ich denke, dass in die entsprechende Rubriken gepostetet Texte mehr können müssen als diskutabel sein.
Du schreibst , von gelungenen Bildern, weil du offenbar überzeugt bist davon.
Ich halte die Bilder nicht alle unbedingt für angemessen, wenn ich ehrlich bin. Sie sind mir zu sehr auf "Wirkung", angelegt und würden sich möglicherweise in einem anderen Kontext natürlicher lesen, hier erscheinen sie mir zum Teil aufgesetzt.

Mich würde deine Intention nteressieren, und auch was, bzw. wen, du mit dem Text erreichen möchtest.

Ich glaube, du erprobst, dich selbst, (was legitm ist) und weißt noch nicht, wo dich dieser Text hinführt.
Die Erläuterungen, die du schreibst sind schon umfangreicher als der Text selbst.
Aber gerade dieser sollte wachsen, Tiefe bekommen, so denke ich.

Ist es für dich wichtig, über deine Gefühle zu schreiben, die die Reaktion (der Mutter) auslösen?

Die Fürsorge, sofern von den Angehörigen wahrgenommen und angenommen, wäre u. U. eine ausführlichere beispielhafte Erzählphase wert. Auch sollte vielleicht eine Überlegung einfließen, dass der Mutter,schon früher (z. B. als die Kinder aus dem Haus gingen) hätte klar werden können, auch mal wieder an sich zu denken. Oder sie hätte darauf aufmerksam gemacht werden können, in dem die Kinder daran gedacht und mit ihr gesprochen hätten...

Alles nur lose GeRdanken, aber ich glaube, die sollte man sich machen, bei einem für meine Begriffe wichtigen und brisanten Thema, welches immer mehr Raum einnehmen wird je älter wir alle werden.

Was bedeutet es für dich, dass die "alte Dame" nun keine Einsicht in "Notwendigkeiten" (ist relativ) zeigt?
Möchtest du die Hilflosigkkeit, die sich auf beiden Seiten auftut aufzeigen? (die aber vielleicht niemand wahrhaben will?)
Es erleichtert ja, die erwachsenen Kinder in einer solchen Situation sehr, wenn sie wissen, "Mutter wird versorgt"... (eig. Erfahrung)
Wenn nun "Mutter" dieses aber genau nicht will???
Ich glaube, du hast viel zu klären und das Potential es auch zu tun, bevor du mit Änderungen oder gar einer "neuen" Geschichte beginnst.

Liebe Grüße
Gerda

aram
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Beitragvon aram » 29.11.2006, 06:09

[bcolor=#FFFF00]EDIT 2.12.2006 der im folgenden besprochene text ist (durch ein versehen) inzwischen nirgends mehr zu lesen[/bcolor]


lieber ecrivain,

mich spricht der text insgesamt an - die länge/ das skizzenhafte, die 'gedankensuche' im mittelteil finde ich gut.

- gewicht und stimmigkeit erhält der text durch den (für mich) schlüsselsatz im letzten absatz:

"Meine Freude darüber wandelte sich in zorniges Schweigen"

um diesen zorn des icherzählers geht es m.e., daran macht sich der ganze text fest - zorn/ wut darüber, dass die mutter sterben wird - dass sie nicht alles 'vernünftige' tut, um sich 'objektiv' um ihren gesundheitszustand zu kümmern, ihr 'leben realistisch zu genießen'.

ich finde das sehr gut beobachtet - genau das stört die kinder, macht sie zornig, doch dieser zorn findet keinen platz (--> schweigen), versteckt sich hinter den guten wünschen für die mutter, rechtfertigt sich darüber - daraus ergibt sich das dilemma, der widerspruch - die alte frau vollzieht eine wendung zum "eigensinn" - aber nicht so, wie ihre kinder das möchten!

die einsicht, dass es völlig legitim ist, was immer die frau für sich entscheidet - auch wenn sie sich entscheidet alles so zu sehen wie sie es gerne hätte und daran vielleicht eher stirbt - dass ihr leben ihr gehört, und auch sein ende; dass es ihre sache ist, wie sie dem 'ins gesicht sieht' - diese einsicht können die kinder nicht haben, ohne erst den zorn als ihren eigenen zu erkennen und zu erleben - als ihre verzweifelte wut, ausgelöst darüber, dass die mutter nicht 'kooperiert' mit denen, die ihr 'bestes' wollen.
letztlich über ihren tod, der 'ihrer' ist - darüber, dass sie ihm (indirekt) 'zustimmt'- ein paradoxon.

(und ein tabu in unserer gesellschaft: der tod ist das schlimmste, das ernsteste, er ist auf alle fälle zu 'vermeiden' oder aber, was das gleiche ist, man hat ihm äußerst gefasst und besonnen-distanziert zu begegnen - kindisch - aber so ist es. der einzelne muss selbst dahinter blicken.)

soweit meine interpretation. in dem sinn ein sehr guter text, als er das dilemma des sohnes 1:1 illustriert. - allerdings braucht man als leser etwas erfahrung - das thema wird nicht 'aufgeschlüsselt', man muss zum erzähler etwas auf distanz gehen können, um seine tragweite zu erfassen. in dieser form kein text für 'alle' - mir fehlt daran nichts 'dreidimensionales', die essenz bildet der herauszulesende, gut illustrierte gedankliche konflikt des icherzählers - dazu dienen die sätze, nicht als verpackung für das von ihnen behauptete. vielleicht ließe sich beides auch verbinden - doch ich fürchte der text verlöre dadurch 'fokus' bzw. das suchende des icherzählers zwischen den zeilen.

was mir nicht gefällt: das gestelzt-plakative, triefende der einleitung - andererseits drückt sich darin der horror vor dem krebs aus, das ist schon ok, doch würde ich einen hauch lakonischer schreiben, auch das trifft. - und den satz mit choreographie und schwadron und formationsflug - sehe ich ähnlich wie nifl.


- ich hoffe, meine interpretation geht dir nicht zu weit.

willkomen im salon und liebe grüße,
aram



ps. der text hat (bes. in abs. 2+3) guten ryhthmus; gefällt mir auch inhaltlich in dieser dichte - schließe mich den stimmen nicht an, die die ihn mehr auserzählt haben wollen. "80" würde ich ausschreiben. den 'monstersatz' sanft kultivieren - das nochmal zwischengeschaltete 'brummen' ist zuviel- z.b. -

Will nichts hören von Fristen und nahem Ende, verstopft ihre Ohren vorm Brummen des wendet sich ab vom Formationsflugs der Zeigefingerschwadron, angeführt und choreographiert von uns, ihren Kindern - ein Bienenschwarm aus Ermahnungen, der ihr kommen will mit Vernunft und all sowas.

wobei 'choreographiert' vielleicht noch entfallen kann. - syntaktisch leidet die stelle daran, dass sich 'angeführt...von uns' genau genommen nicht auf 'zeigefingerschwadron' bezieht, sondern auf den ganzen satz incl. prädikat.

'mit vernunft und all sowas' finde ich gut, drückt die hilflosigkeit des icherzählers aus.
Zuletzt geändert von aram am 02.12.2006, 23:05, insgesamt 1-mal geändert.
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen

ecrivain

Beitragvon ecrivain » 29.11.2006, 10:16

Hallo und guten Morgen,

Leute, Leute, bei aller Verve und Leidenschaft, mit der viele von euch mein Textchen sezieren: Vergesst bitte nicht, dass es eine KURZprosa ist! Darunter verstehe ich einen ausformulierten Aphorismus, eine sprachlich gerundete Notiz. Das Thema, da haben Peter, Nifl, Gerda unbedingt recht, verlangt nach größerer Ausführung, Kurzgeschichte, Erzählung etc.
So habe ich es aber nicht angelegt. Der Umfang ist bewusst klein gehalten. Das ist nunmal die Vorentscheidung. Man kann zum Thema Altwerden und Bewältigen von unheilbaren Krankheiten Romane schreiben und mit Sachtexten Bibliotheken füllen. Ebenso legitim, finde ich, ist aber auch die subjektive Notiz, die Bestandsaufnahme eines Gefühls. Das muss aber zwangsläufig Fragment bleiben!
Trotzdem, viele eurer Kritikpunkte treffen den Kern; mit meinen gedrechselten Formulierungen, die ich anfangs noch originell fand, bin ich mittlerweile auch nicht mehr glücklich. Der Reihe nach:

um was geht es? Um die kranke Mutter, oder darum zu zeigen wie geschraubt ihr Sohn formulieren kann? Das Motiv des Schreibers wird unlauter, selbstdarstellerisch.


Harte Kritik, Nifl, aber nicht jede missglückte Formulierung muss gleich auf finstere Absichten des Schreibers hindeuten! Ginge es um Selbstdarstellung, hätte der Protagonist insgesamt eine weniger selbstkritische Haltung eingenommen.
Die restlichen "Nifeleien" halte ich für vertretbar, aber geschmäcklerisch. Ob ich Lungen im Plural oder im Singular gebrauche, ist Frage des Sprachgebrauchs: im Alltag spricht man von den Lungen, was auch nicht falsch ist, weil jeder (sofern er noch nicht im fortgeschrittenen Stadium Lungenkarzinom hat) zwei Lungenflügel hat. Dann: Das zusammengesetzte Verb "aufreißen" wollte ich bewusst nicht zu weit auseinanderziehen. Die Drastik des Vorgangs wird einfach verstärkt durch die Formulierung: organ für Organ reißt er auf mit seinen Scherenhänden, anstelle von: reißt er mit senen Scherenhänden auf.

Der Text besteht aus einer Aneinanderreihung von Behauptungen. Seine Anmerkung (sinngemäß):“Zeig, wie schränkt er die Mutter ein? Wie wirken die Lungenschnürungen?“ (muss sie zB. auf jeder Treppenstufe Rast machen?


Wie oben angedeutet: Eine ausführliche Schilderung des Leidens verlangt eine andere, eine größere Form. Ich denke, auch die aphoristische Notiz macht klar, um wen es hier geht und vor welchen Problemen Betroffene und Angehörige stehen. Begnüge dich bitte fürs erste mit einem Problemaufriss anstelle einer ausführlichen Durcharbeitung aller verzweigten Problemfacetten!;-)

Gerda:
dann wäre der Text als noch nicht ausgearbeitet in der "Textwerkstatt" besser aufgehoben.
Im Weiteren schreibt du, "Diskutables", ich denke, dass in die entsprechende Rubriken gepostetet Texte mehr können müssen als diskutabel sein.


okay, dann liegts daran, dass ich mit den hier gültigen Schubladen noch nicht vertraut bin. Ich dachte eigentlich, dass jeder vorgestellte Text, egal in welcher Sparte er präsentiert wird, ein vorläufiger ist (sonst würde man ihn kaum zur Diskussion stellen), den man doch deshalb vorstellt, gerade weil man ihn für unfertig hält. Habe ich Recht mit dieser Annahme, müssten aber sämtliche hier zu lesenden Texte in die Textwerkstatt, denn es gibt garantiert an jedem einzelnen was zu feilen. Auch dann, wenn Schreiber ihn vorläufig für ausgearbeitet hält.

Ist es für dich wichtig, über deine Gefühle zu schreiben, die die Reaktion (der Mutter) auslösen?


Die Frage erstaunt mich. Man kann dem Textchen allerhand vorwerfen: Gespreiztheit, gewundene Formulierungen, zu wenig Informationen ... aber dass er klar macht, worum es hier geht und aus welcher Perspektive er verfasst ist, das dürfte doch ausgemacht sein.

Was bedeutet es für dich, dass die "alte Dame" nun keine Einsicht in "Notwendigkeiten" (ist relativ) zeigt?
Möchtest du die Hilflosigkkeit, die sich auf beiden Seiten auftut aufzeigen? (die aber vielleicht niemand wahrhaben will?)


Ja, und dass Hilflosigkeit, Unsicherheit und Hadern des Protag mit der Mutter zur Sprache kommen, wurde von den meisten hier Beteiligten auch bemerkt. Nochmal: Ich liefere einen ausformulierten Aphorismus, einen Problemaufriss. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Wenn nun "Mutter" dieses aber genau nicht will???


Eben. Das ist der Punkt. Und die Pointe meines Textes. Sie verweigert sich dem Vernunftbegriff der Außenstehenden, die es "ja nur gut mit ihr meinen". Warum soll das als vorläufige Erkenntnis (und ohne Lösungsperspektive) nicht einfach so stehen bleiben dürfen??

oder, ich sage es mit arams worten:
um diesen zorn des icherzählers geht es m.e., daran macht sich der ganze text fest - zorn/ wut darüber, dass die mutter sterben wird - dass sie nicht alles 'vernünftige' tut, um sich 'objektiv' um ihren gesundheitszustand zu kümmern, ihr 'leben realistisch zu genießen'.


Was ich gut finde, aram, ist, dass du an dem Text nicht noch tausend Sachen vermisst, sondern seine Begrenztheit in Umfang und gedanklichem Gehalt akzeptierst! Deine sprachlichen Einwände kann ich nachvollziehen. Ich werde den Text sprachlich auf jeden Fall noch mal bearbeiten.

Euch allen vielen Dank fürs Engagement, auch wenn ich euch nicht überall hin folgen kann und will!
ecrivain


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