Jurek

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Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 13.12.2006, 00:25

Wenn Jurek, so wie jetzt, an einem Tisch saß, dann stand er sofort im Zentrum der Aufmerksamkeit. Gewiss, er hatte bessere Zeiten gesehen. Mit mittlerweile vierundsiebzig Jahren konnte es ihm passieren, dass sich sein Gebiss lockerte, während er einen seiner schamlosen Witze erzählte. Er war ein kleiner, alter Mann, mit ausgedünntem grauem Haar, das er sich über seine ausladende Glatze kämmte, und einem Kugelbauch, der sich über seinen kurzen, krummen Beinen wölbte.
„Paul, wo hast du deine Freundin versteckt?“, fragte er. Das war sein Lieblingsthema. Jurek war mit Abstand der dienstälteste Frauenheld, den Paul je getroffen hatte. Der junge Mann lächelte ein wenig gequält, wie er es sich angewöhnt hatte, seit er sich mit seinem Schicksal als ewiger Hagestolz angefreundet hatte.
„Ich habe keine Freundin, Jurek. Die Frauen stehen heute nur noch auf Ärzte.“
Jurek guckte eher ein wenig verletzt, als dass er über Pauls unglücklichen Witz gelacht hätte.
„Unsinn!“, rief Frau Meier, Jureks letzte Eroberung. Alle hofften sie würde wirklich die letzte sein und ihm für die restlichen Jahre seines Lebens nicht abhanden kommen, wie all die anderen. Sie war natürlich und mit Abstand nicht so hysterisch wie die Französischlehrerin, mit der Jurek noch vor einigen Jahren aufgetaucht war. Eine Kinderkrankenschwester im Ruhestand. Sie kürzte ihm die Anzüge und schimpfte mit ihm, wenn er seinen Freunden am Telefon alte Nazilieder vorsang.
„Nimm noch ein wenig von dem köstlichen Gulasch!“, nötigte Jurek. Er hatte diesen Drang, andere Menschen zu füttern.
„Herrlich! Großartig! Viel besser als der Hirschrücken, den wir gestern hatten, Gustav!“
„Für uns reicht es“, erwiderte Pauls Vater auf die ihm eigene ironische Art.
Jurek suchte ein neues Thema. Wieder wandte er sich an Paul.
„Ich bin ja froh, dass ich in diesem antisemitischen Haushalt überhaupt etwas zu essen bekomme.“
„Raus. Du kannst gleich gehen!“ Pauls Mutter reagierte so, wie Jurek es sich gewünscht hatte. Bei diesem Thema verstand sie keinen Spaß. Früher war sie noch durch die Ruhr-Universität gelaufen und hatte Ho-Ho-Ho-Chi-Min gesungen. Auch sie hatte schon bessere Zeiten gesehen. Sie wirkte bleich und müde. Die unnatürlich starke Dezembersonne, die durch die großen Fenster strahlte, brachte sie zum Schwitzen. Als sie sich Anfang der siebziger Jahre für den Club of Rome eingesetzt hatte, wurde sie von den meisten Leuten für verrückt erklärt. Nun, bei fünfzehn Grad im Dezember war klar, dass sie wieder einmal Recht behalten hatte. Aber wer Recht hat, ist deshalb nicht glücklicher.
„Mama! Bitte!“, versuchte Paul zu intervenieren. Dann wandte er sich ganz ernst an Jurek.
„Ich bin ganz gewiss kein Antisemit. Und antiamerikanisch bin ich auch nicht. Über die amerikanisch-israelische Kriegspolitik müssen wir jetzt aber trotzdem nicht reden.“
„Nun gut. Das habe ich auch nicht so gemeint“, lenkte Jurek ein. Er war ein bisschen milder geworden. Schließlich wollte er nur Pauls Mutter ärgern.
„Gustav! Dieses Gulasch! Einfach himmlisch! Was gibst du da hinein!“
Sein tschechischer Akzent war noch genauso stark wie vor über dreißig Jahren, als er den Hund der Familie Ost überfuhr und sich dann mit ihnen anfreundete.
„Herr Doktor. Einfachste ostwestfälische Zutaten.“
„Sag, Gustav. Paprika? Tomaten? Und Zwiebeln?“
„Genau. Zwiebel. Eine alte Bekannte mit Beziehungen nach Ungarn empfahl mir dies. Ich wollte Evas Namen eigentlich heute nicht erwähnen.“
Jurek ging nicht weiter darauf ein. Eva war seine Ex-Frau. Sie hatte ihn genug gekostet. Eine Million Mark. Sein Ferienhaus auf Mallorca. Die Villa in Lüdenscheid. Nicht genug, dass sie ihren Mann mit dem Steuerberater betrogen hatte, der ihn schon zuvor um ein Vermögen gebracht hatte. Nein, dieser Steuerberater war auch noch sein Cousin. Über zwanzig Jahre nach der Trennung sorgte sie immer noch dafür, dass er weder seine Kinder noch seine Enkelkinder zu Weihnachten bei sich haben würde. Als hätte sich bei ihr ein Schalter umgelegt. Wen sie nicht mehr liebte, den musste sie hassen.
Paul erinnerte sich noch daran, wie er das Laub auf dem Grund des leeren Swimmingpools betrachtet hatte. Er war mit vielleicht sechs Jahren zu klein, um zu begreifen, wieso Menschen, die einen Pool im Garten hatten, diesen nicht mit Wasser füllten. Ein regnerischer Tag im Jahre neunzehnhundertachtzig. Jurek hatte Gustav mitgenommen, um wenigstens ein paar Möbel vor seiner raffgierigen Frau in Sicherheit zu bringen. Das war der Kern der Erinnerung. Jurek steht in dem großen Wohnzimmer und weint. „Als hätte man bei ihr einen Schalter umgelegt. Einen Schalter, Gustav! Einfach so!“ Dann war Paul in den Garten geschickt worden. Weinende Männer sind nichts für Kinder.

Eigentlich war Jurek schon immer da gewesen. Und er hatte auch schon immer so alt ausgesehen. Schon als er nach dieser Sache mit Eva ständig andere Frauen an seiner Seite hatte. Eine Weile ging er sogar mit einer Freundin von Pauls Mutter aus. Paul erinnerte sich noch daran, dass er mit den beiden an einem See im Allgäu spazieren gegangen war. Es war schrecklich langweilig. Nur dass Jurek Frau Fischer immer ärgerte und ihr Beinchen stellte, gefiel ihm. Aber dann klatschte Frau Fischer, die Jurek um Haupteslänge überragte, ihm eine Ohrfeige ins Gesicht, die sich gewaschen hatte. Der Tag war ruiniert. Zumindest für Paul. Denn nun musste Jurek Frau Fischer wieder versöhnlich stimmen. Sonst hätte er sich ein eigenes Zimmer in der Pension nehmen müssen. Süßholz raspelnde Männer sind auch nichts für Kinder.

Jurek war wie ein Großvater für Paul. Ein lustiger Großvater. Einmal besuchte er die Osts. Er wollte sich in Ruhe mit den Eltern unterhalten, aber die Kinder ließen nicht von ihm ab. Da nahm er sich ein Klebeband und schnappte sich Paul und dessen Bruder, trug sie je auf einer Schulter auf den Dachboden und fesselte sie so fest, dass sie ewig brauchten, um sich zu befreien. Jurek war ganz schön stark, trotz seiner Körpergröße. Er war auch viel netter als Pauls richtiger Großvater, der alte Ost, der mal deutschnational war. Im Krieg. Kein Nazi. Kaisertreu.

Paul hatte noch Jureks Mutter kennen gelernt. Zuletzt wohnte sie bei Jurek, in seiner Wohnung in Bochum Querenburg. Wie ein altes, dürres Vögelchen war sie ihm vorgekommen. Die Frau, die ihm auf Tschechisch das Zählen beigebracht hatte, konnte kaum noch sprechen. Sie weinte und sprach mit Pauls Mutter.
„Ich will sterben. Warum lässt er mich nicht?“
Jurek war Arzt. Seine Mutter damals schon über neunzig Jahre alt.
„Ich habe ihr heute noch frisches Blut gegeben. Sie hat auch ein bisschen Kuchen gegessen“, freute sich Jurek.
Erst als sie Paul sah, hörte sie mit dem Weinen auf. Sie hatte den kleinen Jungen schon immer gemocht. Jetzt griff sie mit ihrer runzeligen, kleinen Hand nach Pauls Handgelenk.
„Du bist so schön“, sagte sie. „So ein liebes Kind.“ Dann wollte sie ihm ein Stück von ihrem Kuchen anbieten. Nur mit Mühe lehnte er ab.
Paul hatte immer auch ein wenig Angst vor Jureks Mutter. Damals, als sie ihm das Zählen beigebracht hatte, war ihr der Ärmel der Bluse verrutscht.
„Warum haben Sie denn da einen Stempel?“ hatte Paul gefragt und sich gewundert, dass die Nummer so hässlich und unscharf gestochen war. Keiner sagte etwas. Jurek nicht. Seine Mutter nicht.

Jurek selbst sprach selten vom Dritten Reich. Erst als er schon über siebzig war, begann er immer öfter zu erwähnen, dass er Jude sei. George W. Bush und Scharon waren seine Helden. Jede Maßnahme im Kampf gegen den Terror gerechtfertigt. Man musste den Terroristen das Handwerk legen.

Paul diskutierte darüber nicht gerne mit Jurek. Er wartete lieber, bis Jurek anfing von seiner Kindheit zu sprechen. Als Elfjähriger war er in ein Konzentrationslager gekommen und von der Mutter getrennt worden. Schon damals war er hochbegabt. Er rieb sich mit einer chemischen Substanz ein. Wegen der Hautreizung wurde er zunächst ins Lazarett geschickt. Von dort konnte er fliehen und sich bei tschechischen Verwandten verstecken, bis der Krieg zu Ende war. Auch seine Mutter hatte überlebt. Der Vater, ein katholischer Lehrer, ebenfalls.

Wirklich schlimm waren laut Jurek vor allem die Kommunisten. Neunzehnhundertachtundsechzig floh er aus Prag. Weil er frei sein wollte. Vielleicht auch, weil seine erste Frau sich im Krankenhaus mit dem Chefarzt eingelassen hatte. Seitdem lebte er im Ruhrgebiet. Oft stellte sich Paul vor, wie das wohl sein mochte, wenn Jurek am Operationstisch stand, um einen Menschen zu retten, der vielleicht noch zwanzig Jahre vorher versuchte hatte, ihn und seine Familie zu vernichten. Davon erzählte Jurek jedoch nichts. Und Paul traute sich nicht, zu fragen.

Jurek interessierte sich auch viel mehr für Pauls Freundinnen. Melanie war ihm noch zu unbedeutend erschienen.
„Italienerinnen können gut kochen! Aber pass auf, dass du nicht dick wirst, Junge.“
Dagegen war er von Mirjam geradezu begeistert. Jedes Mal, wenn er sie bei Pauls Eltern traf, nahm er Paul beiseite.
„Eine schöne Freundin hast du da.“
Einmal fragte er Mirjam: „Wo kommt Ihre Familie denn her, dass Sie so schön sind?“
„Mein Vater ist Deutscher. Meine Mutter kommt aus Rumänien. Angeblich sind meine Großeltern Armenier und Usbeken. Aber so genau weiß das keiner.“ Wie üblich errötete Mirjam. Sie war damals noch so bescheiden.
Später nahm Jurek Paul beiseite.
„Sie ist schön. Die Frauen der armenischen Rasse sind so. Hochstehende Wangenknochen. Aber die Augen. Kann sie gut sehen?“ Man musste ihm zugute halten, dass er Ende der vierziger Jahre mit seinem Studium angefangen hatte.
„Sie trägt Kontaktlinsen.“
„Das habe ich mir gedacht. Wer so große Augen hat, bekommt später ein Problem. Aber halt sie dir warm. Wenn sie dich nicht mehr so genau sehen kann, ist das vielleicht gar nicht schlecht für dich.“

Das Essen war vorbei. Jurek wurde müde. Seine neue Freundin, die Kinderkrankenschwester, schaute besorgt auf die Uhr.
„Wir müssen los.“
Beim Abschied zog Jurek Paul am Arm in eine Ecke.
„Du brauchst wieder eine Frau, mein Junge. Aber glaube einem Mann, der seine Erfahrungen gemacht hat. Such dir keine Intellektuelle.“
Paul lachte und umarmte seinen alten Freund.
„Im Moment habe ich keine Chancen, Jurek. Weder bei den normalen Frauen, noch bei den gebildeten. Obwohl die Amtsärztin, bei der ich neulich war, mir schon gefallen hat…“
„Wann trefft ihr euch?“
Jurek würde sich nie ändern.
„Gar nicht. Ich ziehe bald um.“
Zuletzt geändert von Paul Ost am 22.12.2006, 10:00, insgesamt 4-mal geändert.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 22.12.2006, 10:03

Liebe Rala,

mit den Namen ist das wirklich schwierig. In einem anderen Text hieß Jurek bei mir mal Marek Lokvenc. Das fand ich witzig, weil ich dabei gleich zwei Fußballstürmer der Saison 2004/2005 verewigen konnte. Den Überflieger und den Loser der Saison, wenn man so will.

Liebe Gerda,

was Du da schreibst ist sehr schön und freundlich! Danke sehr. Wenn es sich nur fügen würde! Dann stünde am Ende: sinnerfülltes Leben.

Grüße

Paul

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Beitragvon Lisa » 23.12.2006, 22:09

Lieber Paul,
ja, genau, ich dahcte an Jurek Becker - vorallem weil das ja auch in Bezug auf die jüdische Herkunft passt. Hmmm...:-). Nagut.
Ich finde es schön, Protagonisten Namen zu geben. Manchmal kann man schön mit der Symbolik spielen, manchmal auch nur dem Klang vertrauen. Martha zum Beispiel habe ich ihn 2Jedes Wir bricht sich am Tag" genommen, obwohl mir klar ist, dass die meisten bei dem Namen wohl an alte Damen denken ;-). Mir gefällt der Name trotzdem. Bachmann hat einen schönen Vortrag diesbezüglich in ihren Frankfurter Vorlesungen gehalten. Schade, dass ich ihn nicht hier hinein kopieren kann.

Ohne Becker oder mit, ich mag die Geschichte :-)

Liebe grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 25.12.2006, 16:32

Sehr angenehm zu lesen; besonders die an verschiedenen Stellen wiederaufgenommenen Motive ("...sind nichts für Kinder") gefallen mir stilistisch gut; die politischen Spannungen sind geschickt in die Handlung eingewoben, insbesondere hat man nicht den Eindruck, ein Statement des Autors zu lesen, das dieser zur Tarnung in Anführungszeichen gesetzt hat.
Kleine Anmerkung: so, wie ich den Begriff kenne, ist "hochbegabt" ein psychologisches Faktum, das sich nicht mit der Zeit entwickelt; insbesondere ist es nicht verwunderlich, wenn es bei einem Kind auftritt. Und es ist eigentlich auch nicht das richtige Wort: "clever", "schlau", "findig" o.ä. würden in meinen Augen viel besser passen.

Viele Grüsse

Merlin


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