Die längste Nacht

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Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 01.01.2007, 16:27

Hörversion


Die längste Nacht

Ach, wenn es doch schneien würde!
Die kristallenen Flocken verdeckten
sicher bald Dein aus Obsidian
gemeißeltes Nimmermehr.

Rot pocht auf meiner Stirn
das Kainsmal der Einsamkeit.
Wer es sieht, verschließt sein Herz
und verriegelt dreifach das Tor.

Wie einsam ich bin, so fern des Tages.
In der längsten Nacht, zwischen den Jahren.
Nur die Winterwölfe folgen mir.

Sie nehmen meine Fährte auf,
heulen mein Sterbelied.
Doch sie jagen mich nicht.
Meine Strafe ist schlimmer als der Tod.

Heimatlos muss ich umherirren.
Kein Haus wird meine müden Knochen bergen,
kein Weib wird bei mir sein,
wenn nachts die bösen Träume kommen.
Kein Kind wird seine lieben Augen
auf mich richten und meiner Antwort harren.
Mein Leben lebte ich vergeblich.

Ach, als ich jung noch war
und kräftig meine Glieder,
da lachte ich des Nachts,
wenn dunkle Schatten waren.

Doch jetzt bin ich müde
und trage schwer
an meinem alten Leib,
den lange schon kein zärtlich
Weib geborgen hat.

Ich spüre noch, als wäre es gestern
erst gewesen, den warmen Zephyr,
wie er unsere Körper umspielte.
Wir teilten Brot und Käse, saßen
auf einem Felsen und unsere
Blicke ruhten auf den stolzen Zedern,
die bis ins Meer hinab das Ufer säumten.
Wie blau war die See und wie lieblich Deine Gestalt!

Auf diesem Brocken will ich
sitzen und des Verhängnisses harren,
wenn nachtschwarz, grauschwarz,
rabenschwarz die Welt um mich herum versinkt.

Doch halt! Was regt sich da
in tiefster Nacht?
Welch Scheusal huscht
im nassen Unterholz?
Wes Lachen hallt dort
in dem finsteren Tann?

Ist’s Satan selbst, der
endlich meiner sich erbarmt?
Wird Luzifer mit kaltem Griff
mein Herz zermalmen und
mein Leben zu sich ziehen?
Es wär’ nicht schade drum.

Allein, es ist ein altes Weib.
„Was willst Du, Vettel? Sprich!
Warum suchst Du mich heim in
dieser Winternacht? Viel lieber
bliebe ich allein auf diesem kalten,
schwarzen Stein!

Was musterst Du mit falschem Blick
mein Antlitz? Ich will allein sein, Weib!
Dein fauler Atem ekelt mich und
Deiner schiefen Zähne Anblick ist mir widerlich.
Schieb ab! Ich bin schon vogelfrei genug,
um einer alten Frau den Hals schön artig umzudrehen!
Drum lauf schnell weg, wenn Dir Dein Leben lieb!“

„Hör erst, Du armer Ritter, was ich Dir zu sagen habe.
Ich bin, was übrig ist von Deinen Kinderträumen.
Ich bin der Rest all dessen, was Du Dir erhofft. Dein Gestern
bin ich, als noch blaue Sehnsucht sich in Deinen
Augen spiegelte. Ich bin Dein Mut und Deine Liebe,
bin das, was Frauen an Dir liebten und was Mädchen
von Dir träumen ließ.“

„Was willst du von mir, Hexe? Sprich!
Es schaudert mich, wenn Deine
gelben Augen auf mir ruhen.
Lass mich in Frieden sterben.
Die Träume sind geträumt.
Wir beide sind zum Sterben alt.
Sind Schatten, die der Mond verblich.“

Blau ist das Kästchen,
welches sie mit welker Hand
nun aus dem alten Kleide zieht.
Leis’ zittern ihre gichtigen Finger,
als sie die Schachtel hält:
„Öffne dies. Es ist mein letzter
Dienst für Dich. Danach ist’s aus.“

„Nun gut, ich will es sehen.
Schau an, was mag in diesem
Kästchen sein? Doch halt!
Vettel, altes Hexenweib!
Bleib hier!“

Zu spät. Sie ist nicht mehr zu sehen.
Wo gerade noch ihr alter Leib, ist
jetzt nur eisiger Nebel.
Aber was hat sie mir gebracht? Wer sendet
mir Botschaft in der kalten Nacht?
Oh nein, fast fühle ich ein banges Hoffen,
dass mir ein liebes Wesen eine Nachricht schickt!

Blaues Metall! Es ist der Anhänger,
den sie mir schmiedete. Die einzige Frau,
die ich je geliebt. Da ruht er auf rotem Samt.
Nur zwei gab es von dieser Art. Den einen trug
ich jahraus, jahrein an meinem Schlüsselbund.
Der andere hing an einer Kette um ihren
schlanken Hals!

Meinen warf ich fort im Zorn,
als sie für einen anderen Mann mich stehen ließ.
Und nun? Schickt sie mir ihren!
Als Zeichen, dass von allen Menschen
auch sie mich längst verstoßen hat.

Ach, wenn es doch schneien würde.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.01.2007, 12:29

Hallo Paul und Trixie,

ich gucke hier immer neugierig rein, aber noch ist keine Hörversion drin???
Saludos
Magic

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 02.01.2007, 14:30

Liebe Magic,

offensichtlich ist Trixie unterwegs oder hat gerade wichtigeres zu tun. Da müssen wir wohl beide ein wenig Geduld haben. Ich bin zumindest froh, dass die Nächte wieder länger werden. Nach so viel Melancholie...

Grüße und ¡Feliz año nuevo!

Paul Ost

Gast

Beitragvon Gast » 03.01.2007, 01:02

Hey, hey, ich warte auch... aber die Nächte werden doch kürzer, lieber Paul un die Tage länger... ;-)

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 03.01.2007, 10:36

Hallo Gerda,

recht so.. Offensichtlich hat's mir schon das Hirn umwölkt. :mrgreen:

Liebe Grüße

Paul Ost

Trixie

Beitragvon Trixie » 05.01.2007, 00:21

hörversion ist jetzt drin. vielleicht für die zukunft warten bis sicher ist, dass die version bei mir ankommt, bevor der thread eröffnet wird. das vermeidet ungeduld, aber auch vorfreude :-)!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 05.01.2007, 00:42

Hallo Paul,

das Warten hat sich vollends gelohnt! Du hast es phantastisch gesprochen. Ich war völlig gebannt und mittendrin! Wow! Auch, wie du die Alte gesprochen hast, Applaus, Applaus!
Begeisterte Magic:)

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leonie
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Beitragvon leonie » 05.01.2007, 10:41

Lieber Paul,

ja, da stimme ich Magic zu. Das ist super gelesen, ich musste einen Moment überlegen, ob das wirklich Du bist, der da die Alte "mimt".

leonie

Gast

Beitragvon Gast » 05.01.2007, 12:32

Lieber Paul,

gerdade habe ich "Die längste Nacht" gehört.
Beim Lesen habe ich mich schon gefragt, wieso du es nicht als Kurprosa gesetzt hast. Nun, nach der Lesung frage ich es mich um so mehr.
Du hast wunderschön erzählt, vielleicht ein wenig zu ausgeglichen. Für mich klingt es nicht wie eine Ballade, obwohl so gesetzt.

Hier z. b. könntest ruhig ein wenig langsamer lesen:
Ach, als ich jung noch war
und kräftig meine Glieder,
da lachte ich des Nachts,
wenn dunkle Schatten waren.


Manchmal gehen Endungen (Konsonanten) unter, was ich schade finde.

Du hast ja eine weiche Erzählstimme, die sich sicher weniger zum Deklamieren eignet, weil ihr - so scheint es mir - die Schärfe fehlt.
Ich hätte mir das alte Weib halt etwas "härter" gewünscht, giftiger, weil ich mir unter einer alten Vettel kein "Mütterchen" vorstelle.
Vielleicht ist das aber auch Geschmackssache.
Jedenfalls habe ich dir mit Freude gelauscht und finde es angenehm dir zuzuhören.

Liebe Grüße
Gerda

Ich hoffe, du bist jetzt nach dem einhelligen Lob meiner "Vorschreiberinnen" nicht gekränkt.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 05.01.2007, 13:44

Hallo Paul,

ja, es stimmt, Paul, du hast diesen Text sehr leise, sehr zart gelesen und öfters kann man die Endungen nur noch hauchend hören, unscharf, wie Gerda richtig schreibt. Aber gerade DAS, so finde ich, passt hier sehr gut, kennzeichnet die Resignation des Ichs, seine Situation aus. Ich hab ja schon oft Lesungen von dir gehört, Paul, und kenne deine Stimme auch lauter, stärker, kräftiger.
Doch hier, so meine Meinung, hast du es genau so gelesen, wie es dem Ich ergeht. Eben nicht erzählend, sondern, du hast es gefühlt gelesen, man bekommt ein Gefühl der Authenzität, und das macht deine Lesung aus!
Saludos
Magic

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 06.01.2007, 11:38

Liebe Trixie,

danke fürs Einstellen der Hörversion. Irgendwie kann ich mir den Blauen Salon ohne Dich gar nicht vorstellen. Daher habe ich wohl etwas übereilt gehandelt. Sorry.

Liebe Magic,

Dein Lob ehrt mich sehr. Ich habe mich bemüht, bei der Lesung Emotionen zu zeigen. Stell Dir vor, eine "Vorgesetzte" warf mir tatsächlich einmal vor, emotionslos zu sein.

Liebe Gerda,

in meiner kurzen und erfolglosen Zeit beim Radio wurde mir ebenfalls bestätigt, eine zu sanfte Stimme zu haben. Jeder hat so seine Hörgewohnheiten. (Es war ein englischer Sender. Das machte es noch etwas schwieriger, weil es bei den Stimmen sehr deutliche kulturelle Differenzen gibt. Die männlichen Engländer sprechen sehr tief. Die Frauen extrem hoch. Spannendes Thema.)

Die "schnelle" Stelle ist in Anlehnung an Hölderlin formuliert. Ich zitiere aus dem Kopf (also unscharf):

In jüngeren Tagen war ich des Morgens froh,
des Abends weinte ich.
Jetzt, da ich älter bin,
beginne ich traurig meinen Tag,
doch heilig und heiter
ist mir sein Ende.

Wie Du merkst, habe ich mich an Hölderlin entlanggehangelt. Das erklärt vielleicht die Beschleunigung der Sprache beim Vorleser dieser Stelle.

Liebe Leonie,

herzlichen Dank. Meinen Zivildienst habe ich in der Altenpflege gemacht. Daher kenne ich "alte" Stimmen.

Grüße

Paul Ost

Max

Beitragvon Max » 06.01.2007, 20:37

Lieber Pauuuuul,

Du hast einfach eine geniale Stimme, die Texten Dimensionen verleiht - nö, das ist nicht richtig, die zeigt, welche Dimensionen so ein Text hat.

Liebe Grüße
Max

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 08.01.2007, 13:51

Lieber Paul,
das ist gut gelesen (besonders die alte ist schön umgesetzt) und lang genug um zu genießen ist der Text auch noch. Ich hoffe daher, dass du noch viele solche Balladen schreibst und liest. Durch das Lesen hast du für mich einige Passagen sogar noch stärker gemacht, als ich sie vorher wahrgenommen habe. Manchmal ist die Art und Weise genauso viel wie die Wortfakten, die stehen.

Eine gelungene Lesung!

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 11.01.2007, 20:03

*horr*

Es bleibt eine Eiseskälte nach dem Verklingen der letzten Worte, und mehr als mir lieb ist, finde ich mich in der von dir gemalten Stimmung wieder. Das ist ein Meisterwerk, Paul. Text wie Lesung.

Die 'zarte' Stimme empfinde ich als angenehm lethargisch, nichts bringt den Erzähler aus der (letzten, wissenden) Ruhe. An manchen Stellen hätte ich mehr auf die Tube gedrückt, wäre aggressiver und lauter geworden. Aber eben, weil du dies nicht tust, wird es noch unerträglicher. Unerträglich schön.

Danke,
Tom.

p.s. Auf dem Foto siehst du viel jünger aus als jemand, der schon derart mit allem abgeschlossen hat. Überlegs dir nochmal, ja? :o)
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)


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