Etwaige Folgen der Außerachtlassung

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 02.02.2007, 10:47

Etwaige Folgen der Außerachtlassung


[align=justify]     'Pflicht des Fahrgastes ist es, sich auf dem Wagen unverzüglich festen Halt zu verschaffen. Etwaige Folgen der Außerachtlassung dieser Bedingung sind selbstverschuldet.'

     Immer wieder erklimmt mein Blick dieses Wortgebirge in den Niederungen der U-Bahn-Hinweistafeln.

     Ein vermeintlich unscheinbarer Fingerzeig. Doch was besagt denn dies Geheiß wirklich? Bei näherem Hinsehen entbindet es nämlich die Verantwortlichen jeglicher Haftung für mögliche Personenschäden, die zum Beispiel durch defekte Bremsen entstehen könnten, oder dadurch, dass der Triebwagenführer die Bahn völlig besoffen etwaig frontal in das Schaufenster eines unterirdischen Spirituosenladens manövriert, bloß, weil sich manch' Fahrgast währenddessen nicht ordnungsgemäß an den oberen Haltegriffen festgeklammert und somit rücksichtsvoll den Mitreisenden sein bereits leicht kompostöses Unterarm-Odeur vorenthalten hatte. Und in seiner gesamten Tragweite erschließen wird sich dieses Dekret ja wohl nur einer Handvoll Verwegener, die zumindest halbwegs durch ihr 18-semestriges Grundstudium der Linguistik gestolpert und obendrein mit der Auffassungsgabe und Scharfsichtigkeit einer brütenden Seeadlerhenne gesegnet sind. Das Heer der geistigen Rosinenstütchen hingegen könnte mit dieser Formulierung möglicherweise überfordert sein. Es ist ein Leichtes, sich hier schiere Absicht der jetzt nicht mehr Verantwortlichen vorzustellen.

     Denn selbst dem sprachgestähltesten und reaktionsschnellsten U-Bahn-Novizen reichte die Zeit vom Einsteigen in den Zug, über das Stempeln des Fahrscheins, das Wahrnehmen dieses Aufklebers, dem Entziffern der Buchstaben, dem Zusammenschrauben der Sinnzusammenhänge und dem Umsetzen des soeben mühsam Verinnerlichten bis zum ruckartigen Anfahren des Zuges nicht annähernd aus, um sich vor den Folgen ebenjener Außerachtlassung im Hinblick auf das persönliche und ab jetzt kostenpflichtige Wohlbefinden zu schützen, und so nimmt es nicht Wunder, dass die Omma schon beim Zurechtrücken ihrer Brille in freudiger Erwartung der Hinweise ihrer Verkehrsgesellschaft lustig durchs Kupee purzelt.

     Junge Leute hingegen halten die Worte 'etwaige' und 'Außerachtlassung' vermutlich für mittelhochdeutsche Minnesänge. Während sich 'etwaige' in der Umgangssprache der Plattenbaubrut - dem Logopäden-Pop, besser bekannt als 'Rap' - schon schwerlich zungenbrecherfrei darstellen lässt, dürfte spätestens das Wort 'Außerachtlassung' in dem durch unentzifferbare Kürzel geprägten Kommunikationsschema der SMS-Generation auf gänzlich verlorenem Posten stehen. Denn 'Aßalsg' wirkt nicht nur ungelenk, das schnallt auch keine Sau. Ebenso könnte es passieren, dass sie - wenn sie 'auf dem Wagen' schulmäßig interpretierten - an der nächsten Station ausstiegen, das Dach der U-Bahn erklömmen, die weitere Fahrt dann festgekrallt an den Abkantungen des Oberbleches zwischen Tunneldecke und funkensprühenden Hochspannungsleitungen verbrächten und damit nachher tierisch vor ihrer Rotte in der Fußgängerzone herumprahlten.
    
     Nicht, dass eine solche Art der Ausdrucksweise im Allgemeinen nicht wohlklingend und ehrenvoll daherkäme, aber am Otto-Normal-Stütchen geht diese Sinfonie wohl sang- und klanglos vorüber, was sie in diesem Fall auch soll. Man kann nur von Glück reden, wenn bei der ersten Bahnfahrt nichts passiert, man irgendwann zufällig an diesem Schildlein in Ermangelung eines anderen sehenswerten Objektes in dem ÖPNV-Pferch hängenbleibt und geistig gefestigt genug ist, die Mitteilung mit nach Hause zu nehmen und sie sich fürs nächste Mal unters Kopfkissen zu schieben.

     Wer denkt sich sowas aus? Vermutlich einer jener vernebelten Geister, die auch die Englisch-, Französisch- und Spanischübersetzungen auf den Bildschirmen der neuen Geldautomaten ersonnen haben. Bei dem vorherrschenden anglo-, franko- und espanjophilen Zuwanderungsdrama hierzulande erschiene es wirklich allzu pedantisch, auf solche sprachlichen Minderheiten wie Türken und sonstige Osteuropäer einzugehen. Was natürlich auch für oben genannten Aufkleber gilt.

    Auch schön: Neulich bei meiner Reise im ICE Baader-Meinhof in Höhe Papenburg, Ostfriesland, entdeckte ich beim Wasserlassen auf dem Komfort-WC des Raucherwagens folgende rührende Empfehlung:

   'Bitte verlassen Sie diesen Raum so, wie Sie ihn gerne vorfinden würden.'

   Im selbem Moment bedauerte ich zutiefst, nur das kleine Rückengepäck bei mir zu führen und nicht - wie zunächst beabsichtigt - meine drei Hartschalen-Übersee-Koffer, was mir aber kurz vor Reiseantritt für lediglich vier Sonnentage auf der Insel Juist doch ein wenig übertrieben vorgekommen war. Dann aber hätte ich ohne viel Federlesens mit Vollmaske, Gummianzug, Winkelschleifer und Hochdruckreiniger - alles Dinge, die ich diesen Koffern immer bei mir zu tragen pflege - in nur wenigen Stunden den Dingen zuleibe rücken können, die ich in einem solchen Raum nicht vorzufinden wünsche.
    
   Oh, da kommt mein Bus. Wahrscheinlich werden die Bremsen bei der Anfahrt an die Haltestelle wieder dermaßen gleißend und hochfrequent quietschen, dass ich eine mittelschwere Mittelohrentzündung davontragen werde, als Folge der Außerachtlassung.

   Und zwar die der sesselfurzenden Sprach- und Bremsbelag-Ingenieure, die ich hiermit herzlich grüße.[/align]
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 03.02.2007, 19:26, insgesamt 14-mal geändert.
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 05.02.2007, 13:24

Danke, Marlene.
Ach weißt du, für die Jüngeren dürfte so manches unverständlich sein, was uns Greise so umtreibt :o) Das stört mich aber nicht besonders :o)

Leider habe ich aber das Gefühl, dass die echten Terrorjahre noch vor uns liegen. Man wird sehen...

Liebe Grüße,
Tom
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Klara
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Beitragvon Klara » 06.02.2007, 18:56

Hallo Tom,

habe deine Kolumne vorne gelesen - und ein paar Mal laut gelacht. Ist gut geworden!

ABER °verzein bitte° ich finde, dies hier:

Auch schön: Neulich bei meiner Reise im ICE Baader-Meinhof in Höhe Papenburg, Ostfriesland, entdeckte ich beim Wasserlassen auf dem Komfort-WC des Raucherwagens folgende rührende Empfehlung:

'Bitte verlassen Sie diesen Raum so, wie Sie ihn gerne vorfinden würden.'

Im selbem Moment bedauerte ich zutiefst, nur das kleine Rückengepäck bei mir zu führen und nicht - wie zunächst beabsichtigt - meine drei Hartschalen-Übersee-Koffer, was mir aber kurz vor Reiseantritt für lediglich vier Sonnentage auf der Insel Juist doch ein wenig übertrieben vorgekommen war. Dann aber hätte ich ohne viel Federlesens mit Vollmaske, Gummianzug, Winkelschleifer und Hochdruckreiniger - alles Dinge, die ich diesen Koffern immer bei mir zu tragen pflege - in nur wenigen Stunden den Dingen zuleibe rücken können, die ich in einem solchen Raum nicht vorzufinden wünsche.

ist erstens ein eigenes Thema, zweitens asbach-uralt (es gibt, glaub ich, sogar mindestens einen Cartoon dazu, in dem das Klosett wunderschön bemalt wird) und sprengt den Rahmen deiner Kolumne.

UND: Auch ich finde den letzten Satz überflüssig - birgt keine neue Witzquelle, verweist nur auf die Ressentiments des Erzählers und hatte man weiter oben schon begriffen.

LG
Klara

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 06.02.2007, 19:06

Hi Klara.

Gelacht zu haben, und das noch laut, is ja schon mal schön, nöch? :o)

Der Vorwurf, dass das besagte Kapitel zuviel sei, ist ebenso wenig neu wie (scheinbar) dieses Kapitel selbst. Ich hatte zur Zeit der Niederschrift (und Veröffentlichung) noch nix davon gehört. Wenn's zwischenzeitlich (also nach 2002) davon ein Cartoon o.Ä. gab, dann haben die mich kopiert!

Der letzte Satz soll auch nicht zwingend Witzpotenzial bieten, sondern eine direkte Ansprache sein. Denn die Herren/Damen Angesprochenen scheinen ob ihrer zuvor beschriebenen Begriffsstutzigkeit eines Extra-Hinweises zu bedürfen.

Hin und her, die Meinungen über dies und jenes gehen gottlob ziemlich auseinander, so dass ich es jetzt bei dieser Form belassen mag/muss (weil schon veröffentlicht). Vielleicht 2011 wieder :o))))

Deine Meinung ist und bleibt mir aber immer Gold wert.

Tom.
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Max

Beitragvon Max » 06.02.2007, 19:20

Liebe Klara,

Du schreibst:

ABER °verzein bitte° ich finde, dies hier:


Zitat:Auch schön: Neulich bei meiner Reise im ICE Baader-Meinhof in Höhe Papenburg, Ostfriesland, entdeckte ich beim Wasserlassen auf dem Komfort-WC des Raucherwagens folgende rührende Empfehlung:

'Bitte verlassen Sie diesen Raum so, wie Sie ihn gerne vorfinden würden.'

Im selbem Moment bedauerte ich zutiefst, nur das kleine Rückengepäck bei mir zu führen und nicht - wie zunächst beabsichtigt - meine drei Hartschalen-Übersee-Koffer, was mir aber kurz vor Reiseantritt für lediglich vier Sonnentage auf der Insel Juist doch ein wenig übertrieben vorgekommen war. Dann aber hätte ich ohne viel Federlesens mit Vollmaske, Gummianzug, Winkelschleifer und Hochdruckreiniger - alles Dinge, die ich diesen Koffern immer bei mir zu tragen pflege - in nur wenigen Stunden den Dingen zuleibe rücken können, die ich in einem solchen Raum nicht vorzufinden wünsche.

ist erstens ein eigenes Thema, zweitens asbach-uralt (es gibt, glaub ich, sogar mindestens einen Cartoon dazu, in dem das Klosett wunderschön bemalt wird) und sprengt den Rahmen deiner Kolumne.


schade, ich kam mir bei derartigen Gedanken immer irre originell vor .. :-(

Liebe Grüße
max

Klara
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Beitragvon Klara » 06.02.2007, 20:11

Hallo Tom,

nee, der Cartoon, den ich meine, muss lange vor 2002 gewesen sein.
Hab grad vergeblich gegoogelt, aber ich weiß leider nicht mal mehr, wer es war - F.K. Waechter?

Egal, dein Witz ist ja eh ganz anders gemeint - und wäre halt, meine ich nach wie vor, wenn es einen neuen Schlenker gibt, eine eigene Geschichte wert. Ist doch eine ganz andere Story als die mit Festhalten und Schuld und Außerachtlassung - auch ist die Aufforderung in diesem Stückchen Text "Verlassen Sie..." etc. ungleich klarer als die, die du zum Hauptthema machst.

Goldgrüße .-)
Klara

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 07.02.2007, 11:29

Ich auch, Max :o)))
Jedes Mal, wenn mir sowas Schönes durch die Birne huscht, denke ich, ich hätte den Vierkant neu erfunden. Und hinterher stellt sich raus: War doch wieder nur so'n doofes Rad.

Also bewusster Ideenklau liegt mit grundsätzlich fern, aber was will man machen, wenn man unbewusst eine Wendung rausfetzt, die es schon gibt? Wenn man viel liest und hört, lagern sich Tausende von Wendungen irgendwo im Rückenmark - oder muss das jetzt auch Rücken'euro' heißen? - ab und mischen sich mit eigenen Gedanken, dass sich das kaum vermeiden lässt, dass irgendwo auf der Welt mal was doppelt geschrieben wird. Also natürlich in diesem Fall in der deutschsprachigen Welt.

Wenn man mal betrachtet, wie viel Aussprüche von Otto, Loriot, Helge und selbst von diesen ganzen Wurst-Komikern im Fernsehen neuerdings schon längst Alltagssprache geworden sind, dann macht es nicht wundern, dass Teile davon mal in einem Prosatext auftauchen. Ich kann nur versichern, dass ich sowas nicht mit Vorsatz mache, und, falls mir auch nur die Spur einer Ähnlichket mit etwas bereits Vorhandenem auffällt, ich es lieber streiche. Fremde Wortfedern schmücken schlecht.

Bei dem Satz 'Ich gehe mal eben zum Bäcker' regt sich seltsamerweise niemand auf (Hey, das kannst du nicht schreiben, den Satz gibt's schon!).

Man wird damit leben müssen. Auch ohne Vierkant.
Tom
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