TV-Junkies

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Franktireur

Beitragvon Franktireur » 18.04.2006, 22:46

Leben ohne Tiefenschärfe
Eure Sucht läßt sich vielleicht
noch messen
an der Größe der Diagonalen*

Leben im 15-Minuten-Takt
stets griffbereit die Nummer
Eures Notruftelefons
für Lebensfreude bleibt kein Raum

Leben im Rausch der Surrogate
die tägliche Dosis muß schon sein
mit der Fernbedienung
läßt sich nach Belieben schalten

Leben im LCD und Plasmaschirm
Ihr hängt am Kabel/Satellit
gefangen in den Schleifen
Eurer Schaltkreise

Wer seinen Mind
nicht programmieren kann
muß eben den DVD-Recorder
programmieren


* Gerda hat recht, es muß "Diagonalen" heißen.

(c)Franktireur
Zuletzt geändert von Franktireur am 19.04.2006, 21:14, insgesamt 1-mal geändert.

Herby

Beitragvon Herby » 18.04.2006, 23:17

Hey Frank,

wie wahr, wie wahr ... ein für unsere Zeit zeitloses Thema! Besonders der erste Vers ist programmatisch, nimmt die Quintessenz deines Textes schon voraus und bildet einen gelungenen Rahmen zur letzten Strophe. Toll! Gefällt mir sehr gut, auch weil die Thematik hier im Forum erfrischend neu und unverbraucht ist!

Einzige Frage: Ist "Mind" wirklich nötig? Wäre "Geist" dir zu Deutsch, zu unzeitgemäß? Ich weiß nicht, ob du dich hier nicht zu sehr der Thematik gebeugt hast mit der Wahl dieses Wortes. Mir stößt es jedenfalls auch nach mehrmaligem Lesen noch auf. Nichts gegen Anglizismen ( dann müsste "mind" übrigens auch klein geschrieben werden ), aber hier würde nach meinem Dafürhalten der deutsche Begriff deine Aussage nicht abwerten. Im Gegenteil!

LG Herby

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 19.04.2006, 01:23

Hi Herby, danke fürs Lesen und Kommentieren.

Tja, das mit dem "mind" - ich gehöre nicht zu den engleutschwütigen Leuten, aber das Wort "Geist" umfaßt für mich mehr als das englische Pendant "mind", es entspricht eher dem englischen "spirit".

"mind" ist allerdings wiederum mehr als "Intellekt".
Ein deutsches Pendant für "mind" wäre für mich "Bewußtsein".
Aber im Kontext des Gedichts hört sich das dann wieder total bescheuert an.

Eine Zeitlang habe ich das Problem versucht, in den Griff zu kriegen, indem ich zwei verschiedene Schreibweisen nahm: "Geist" für "mind", und "GEIST" für "spirit" (weil spirit wiederum mehr für mich heißt als nur Seele).

Wenn ich also "Mind" gewählt habe, hat es nichts mit anglizistischer Anpassung zu tun.

Das "Programmieren" bezieht sich (als zusätzliche Info) u.a. auch auf den "human mind", den der Delphin- und Bewußtseinsforscher John Lilly durch die 60er bis 80er hindurch benutzte (da wurde noch vom "Human Bio-Computer" gesprochen, das war aber nicht so gemeint, wie es heute dargestellt wird von den deterministisch voreingenommenen heutigen Gehirnforschern/Mechanikern).

Gruß
Frank

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 19.04.2006, 18:10

Hallo Herby,
Hallo Frank,

ich lese gerade eure Debatte über den richtigen Begriff. Für mich liest sich die entsprechende Zeile im Gedicht schlicht und einfach wie: "Wer nicht leben kann, muss vor der Kiste hängen."

So, jetzt keine Worte mehr. Ich will noch in den Garten, meine Krokusse blühen endlich.

Liebe Grüße
Marlene

Louisa

Beitragvon Louisa » 19.04.2006, 18:28

Hallo Franktireur!

Ein gutes Thema für ein sozialkritisches (?) Gedicht.

Was sind Surrogate ?

Finde ich gut, aber:

Wer seinen Geist nicht kontrollieren kann sieht fern?

Ich glaube nicht. Das einzig Fatale am Fernsehen ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass einem Bilder vorgesetzt werden, an welchen man sich lustlos sattfressen muss.

Du hast recht, die eigene Gedankenwelt wird so eingeschränkt, aber wenn man seinen Geist nicht kontrollieren kann, ist man eher Choleriker, verwirrt oder schwelgt in Träumen, so liest es sich jedenfalls für mich.

Abgesehen davon: Wer kann denn seinen Geist kontrollieren? -Ich nicht.

Aber man sollte nicht nur auf dieser Zeile herumhacken.

Insgesamt ein sehr gutes Gedicht. "Die tägliche Dosis muss schon sein" fand ich sehr lustig. Das untermalt noch einmal den "Junkie".

Diese Wortspiele könnte man vielleicht noch weiter ausarbeiten.

Gern gelesen...auf meinem Bildschirm-

Louisa

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 19.04.2006, 20:49

Hi Louisa,

jetzt muß ich leider so ein Gesicht :???: ziehen...

Ich rede von "Programmieren" - nicht von "kontrollieren".

Ich weiß nicht, hast du den Text zu rasch überflogen???
Das würde mich dann doch etwas enttäuschen...

Oder setzt du tatsächlich Programmieren mit Kontrollieren gleich?
Auch das würde mich enttäuschen...

Surrogat ist ein anderes Wort für Ersatz.
Kennst du nicht den sogenannten "Muckefuck"? Das ist ein
Kaffeesurrogatextrakt - der sogenannte Kinderkaffee, also eine Art unechter Ersatzkaffee, eine Nachahmung.


Hi Marlene - "wer nicht leben kann muß eben vor der Kiste hängen" ist ein recht gut zusammengefaßter Gesamteindruck :smile: . Dank auch an dich fürs Lesen.

Gruß
Frank

Gast

Beitragvon Gast » 19.04.2006, 21:09

Hallo Frank,

die dosis
macht
gier


So ist das mit den Süchten... :sad:
Gefällt mir, wenn gleich ich dein Gedicht vom Sprachfluss noch verbesserungsfähig halte.
z. B. in der letzten so viel dikutierten Strophe.
Hier mein Vorschlag, der zu nichts verpflichtet:;-) :cool:

Wer sein Hirn
nicht stimulieren kann

muß eben den DVD-Recorder
programmieren

Freiheit fängt halt im Kopf an und endet auch dort.
Gern und mit Nachdenken gelesen. Kleine Anmerkung.
Muss es nicht im vierten Vers heißen:
an der Diagonalen

Liebe Abengrüße
Gerda



Zitat Louisa:

"Das einzig Fatale am Fernsehen ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass einem Bilder vorgesetzt werden, an welchen man sich lustlos sattfressen muss".

Liebe Louisa, der Fernsehapparat hat einen Knopf, den man an - und ausstellen kann.
Niemand ist diesem Monstrum hilflos ausgeliefert, so wie es sich in deinem Einwand anhört.
Niemand muss Fern sehen.
Mit dem Verb "müssen" habe ich ohne hin Probleme:
Wir Menschen Müssen lediglich sterben und sonst müssen wir nichts auf dieser Welt.

Liebe Grüße
Gerda

Louisa

Beitragvon Louisa » 19.04.2006, 21:39

Wenn man in die Röhre sieht, frisst man sich unweigerlich satt.

-Das wollte ich sagen.

Frank, aber auch den Geist programmieren fällt mir nicht leicht.

In einer Programmierung steckt doch auch immer etwas Kontrolliertes.

Aber denke bitte nicht, dass mir der text nicht zusagt, nur die eine, kleine Stelle bereitet mir Problemchen. Ansonsten bin ich kritiklos.

LG, louisa

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 19.04.2006, 23:35

Hi Louisa, für mich war die Frage nicht, ob dir mein Gedicht zusagt oder nicht, ich hatte nur den Eindruck, daß es nicht sorgfältig gelesen wurde.

Wenn dann dadurch Verständnisprobleme auftreten, kann ich eben nicht mehr für mich herausfinden, ob das nun an meinem Text liegt oder nicht. Darum verärgert mich so etwas schon ein wenig.
Selbst wenn ich ein Gedicht eines anderen negativ kritisiere, beschäftige ich mich doch zuvor sorgfältig damit.

Na ja, Schwamm drüber... - schließen wird das Thema.

So, Gerda:

Hatte dich schon vermißt... ich hoffe, der Kurzurlaub hat die Energietanks aufgeladen?!

Zu deinem Änderungsvorschlag:

Einerseits finde ich den sehr gut - andererseits verengt er jedoch die Aussage (er weist umso mehr darauf hin, daß Menschen sich eher ihre eigenen Bilder kreieren sollten, mit eigener Phantasie usw. - zugleich bezieht sich dann die Aussage zu sehr allein auf diesen Aspekt).

Auch wenn die Worte "Mind" und "Programmieren" strittig sind, und ich um die Schwäche weiß, sind mir die Gegenvorschläge keine Alternative, mit der ich leben könnte in diesem Fall. Die Mind-Programmierung bezieht sich ja auch auf die Zeilen unmittelbar davor: "gefangen in den Schleifen Eurer Schaltkreise" - Die Stimulierung des Hirns paßt also leider nicht wirklich. Ich hoffe, Du verstehst, worum es mir dabei geht.

Nenne es "Selberdenken", aber noch darüber hinaus "Bewußtseinsfindung, Bewußtseinserweiterung", um mehr Bewußtheit zu erlangen und sich aus den Fesseln der Konditionierung zu lösen, deren stärkste Waffe tatsächlich die Info-Flut und permanente Gehirn- und Geist- und Seelenwäschen durch die Medien darstellen (und das TV ist da die schlimmste aller Kräfte, noch weit vor Zeitungen u.ä.).

Sicher gäbe es noch Möglichkeiten, sprachlich zu verfeinern, aber ich habe recht lange daran herumgebastelt und war irgendwie auch froh, endlich eine Fassung zu haben, mit der ich zufrieden bin - vielleicht ist es auch von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen, einen derartigen Komplex/ein derartiges Bündel in einem Gedicht zu thematisieren, ohne sich dem Risiko auszusetzen, daß eben nicht alles so rüberkommt, wie ich es mir wünschen würde.

Und jetzt kann ich es mir nicht verkneifen, auf das "muß" noch einzugehen. Es gibt dazu eine schöne Variante:

Ich will, was ich muß (was von außen erfordert wird) - und ich muß, was ich will (was also mich innerlich drängt). Diese Sicht ist auch meine im Groben gesagt.

Gruß
Frank

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 20.04.2006, 06:21

Hallo Frank

Ein sehr interessantes Gedicht, über die möglichen Auswirkungen des Fernsehkonsums. Abhängigkeit, Einfahren in monotone Strukturen, Phantasie- und Geistlosigkeit, Begrenzung und Selbstreduzierung lese ich heraus.

Sehr gut finde ich, dass vier Strophen immer mit dem Wort ´Leben´ beginnen, welches in seinen Möglichkeiten durch diesen Konsum so eingeschränkt wird. Die Wiederholung unterstreicht sehr angemessen diesen wichtigen Punkt. Auch einige Bilder sind sehr stark, z. B. "Leben ohne Tiefenschärfe" und "...gefangen in den Schleifen eurer Schaltkreise"

Ich gewinne Medien zwar auch positive Aspekte ab, vor allem dem DVD-Player, der mir erlaubt, genau auszuwählen, was ich mir ansehe, aber es ist Dein Gedicht und Deine Sichtweise, um die es hier geht. Vielmehr habe ich eine Frage:

"stets griffbereit die Nummer
Eures Notruftelefons"

Wie sind diese Zeilen zu verstehen? Die Telefonseelsorge am TV a la Domian? Die Nummer des Fernsehmechanikers, wenn der Kasten kaputt ist? Hier schwimme ich total, daher frage ich mal ganz frei.

Danke für den Text. Gerne und mit großem Interesse gelesen.

Jürgen

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 20.04.2006, 08:38

Hi Gurke,
danke fürs Lesen und den ausführlichen Kommentar. :smile:

Freut mich, daß das mit dem "Leben" zum Anfang jeder Strophe aufgefallen ist...

Das Notruftelefon bezieht sich sowohl auf TV-Seelsorge wie auch auf den Reparaturdienst (da der mechanisierte Mensch und die Maschine ja schon fast so etwas wie eine - in diesem Fall - grauenhafte Symbiose eingehen).


Tja, das mit dem DVD... - wichtig war mir schon, das Ganze nicht in die Ecke Technikfeindlichkeit zu drängen, denn ich selbst bin überhaupt nicht technikfeindlich, auch wenn ich deshalb noch lange nicht stets das neueste Handy usw. haben muß - ich hätte auch Videorecorder schreiben können. Es geht natürlich um die Programmierung, aber das ist dir ja klar, wenn ich mir deinen Kommentar ins Gedächtnis rufe.

Gruß
Frank

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Beitragvon Lisa » 20.04.2006, 09:53

Hallo Frank,

interessanter Text! Viele Formulierungen sind in ihrer Doppelstämmigkeit sehr gelungen (z.B.Leben ohne Tiefenschärfe), allerdings finde ich – wie Gerda - : Insgesamt könnte der Text noch an seiner Lesbarkeit arbeiten, damit meine ich keine inhaltlichen Ungereimtheiten, sondern sprachliche.

Gleich die erste Strophe liest sich seltsam:

Leben ohne Tiefenschärfe
Eure Sucht läßt sich vielleicht
noch messen (hier stockt man doch arg)
an der Größe der Diagonalen



Das muss auf irgendeine Art umgestellt werden, wie weiß ich aber leider auch noch nicht...die Gedanken gefallen mir absolut (Leben ohne Tiefenschärfe und das Messen der Sucht anhand der Bildschirmdiagonalen ist toll). Warum aber das „vielleicht noch“?? Was sagt das aus?

Leben ohne Tiefenschärfe
Mit der Größe der Diagonalen
Kann man angeben
Wie groß eure Sucht ist


Oder so ähnlich?


Die zweite Strophe würde ich trotz der gelungenen Zeile

Leben im 15-Minuten-Takt


entweder streichen oder komplett umstrukturieren. Die Notrufnummer des Fernsehreparateurs rufen doch wenige an und haben wenige im Haus...das finde ich als Bild übertrieben, auch wenn die Sucht natürlich so weit geht, so extrem ist, wie du sie beschreibst, empfinde ich dieses Bild doch als das falsche um das zu beschreiben, was du beschreiben willst. Zudem finde ich „Keine Zeit für Lebensfreude“ als zu deutlich ausgesprochen, das ergibt sich ja aus dem Text...das ist zu offensichtlich. Für mich ist diese Strophe die schwächste des Gedichts.


Die dritte Strophe finde ich dann wieder gelungen, wobei ich mich für eins der beiden Wörter Kabel/Satellit entscheiden würde. Für Kabel spricht, dass es Assoziationen weckt wie am Tropf hängen, ,..Fernsehen als Infusion...als geistige Nahrung. Für Satellit spricht der Wortklang und der Mondgedanke...(den TV-Junkies ist ihr Satellit der Mond)...



In der letzten Strophe stört mich auch das mind, das klingt einfach seltsam an der Stelle, auch wenn ich deine Unterschiede der Begriffe Geist – Spirit - Bewusstsein verstehen kann. Das Programmieren stört mich weniger. Wie wäre es denn nochmals mit Leben zu arbeiten, nur hier anders? Mit einem Fragezeichen?


Leben? Wer es
nicht ausmachen kann (im dreifachen Sinne)
Muss eben den DVD-Recorder
anmachen.


Oder so ähnlich...

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 20.04.2006, 10:06

Hi Lisa,

auch dir ein Danke fürs Lesen und ausführliches Kommentieren.

Rein intuitiv merke ich, daß du Schwachpunkte ansprichst, die dazu führen, daß ich - was das sprachlich-formale angeht - noch einmal in mich gehen muß.

Ich denke, ich werde in den nächsten Tagen evtl. mal eine neue, alternative Version einstellen aufgrund der Feedbacks.

Auf "mind" und "programmieren" kann ich aber leider nicht verzichten...

Da gibts keine Alternative, die ich da annehmen könnte.

Aber kürzen, umstellen - da denke ich, ist noch was drin.

Gruß
Frank

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 24.04.2006, 09:07

Leben ohne Tiefenschärfe
messen läßt sich Eure Sucht
an der Größe der Diagonalen
für Lebensfreude bleibt kein Raum

Leben im Rausch der Surrogate
die tägliche Dosis muß schon sein
mit der Fernbedienung
läßt sich nach Belieben schalten

Leben im 15-Minuten-Takt
Ihr hängt am Kabel/Satellit
gefangen in den Schleifen
Eurer Schaltkreise

Wer sein Bewußt sein
nicht erweitern kann
muß eben durch TV-Kanäle
zappen*




So, eine Strophe weniger, etwas umgebaut, die größte Änderung am Schluß (als Alternative für "mind" und "programmieren") - statt "zappen" käme noch "steppen" in Frage. Und Bewußt sein ist bewußt auseinandergeschrieben.

* aufgrund von Gurkes Kommentar entscheide ich mich favoritenmäßig fürs Zappen


Was haltet Ihr davon?

Gruß
Frank
Zuletzt geändert von Franktireur am 24.04.2006, 09:23, insgesamt 1-mal geändert.


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