Beitragvon Klara » 18.09.2007, 15:20
Fastentagebuch
2. Tag
Merkwürdig ist, dass ich noch nie ein Fastentagebuch geführt habe. Fällt mir gerade so auf. Gefastet habe ich schon öfter, aber ich habe mich nie dazu durchringen können, die kleinen und großen Gemeinheiten und Schönheiten des Fastens schriftlich festzuhalten, obwohl ich es mir jedes Mal vorgenommen habe.
Mein Gewicht ist heute Morgen noch wie gestern: 58,8. Ärgert mich das jetzt? Ach, ist nicht so wichtig, mein Körper wird schon wissen, was er tut. Ich trinke einen Mate-Tee, auch wenn das gegen die Regel verstößt (kein Koffein und so). Der Hunger hält sich in Grenzen, ist aber klar spürbar. Sobald ich etwas lese oder mache, geht es gut. Der gestern beschriebene Ableck-Reflex beim Schulbroteschmieren ist heute weg. Nur ein klein wenig muss ich noch bewusst die Finger meiner Hand verpflichten, sich nicht ins Erdbeer-Crunchy-Glas zu versenken, wie sie das sonst gerne tun morgens, den ersten süßen Bissen, zerrieselt im Mund… nein! (Ich lächle, während ich dies schreibe). So wichtig ist es wahrscheinlich auch alles gar nicht. Essen oder nicht essen, Crunchies oder nicht – hah! Lüge! Ist wohl wichtig! Essen genauso wie Nichtessen. Und deshalb schreibe ich.
Warum faste ich?
Es regnet, etwas kühler heute, und ich finde es schön, dass es regnet. Morgens habe ich immer viel Hitze, und abends friere ich leicht. Das ist auch so, wenn ich esse, aber nun viel stärker. Als wären Batterien über Nacht aufgeladen und abends wieder fast alle, wie dieses Zeichen auf dem Handy, das ein Batteriesymbol erst voll grün zeigt, dann nur noch einen dünnen grünen Strich. Dann sollte man laden. Das Laden klappt bei mir mit Schlaf ausgezeichnet.
Ich gehe zur Friseurin, es war längst Zeit. Wie jedes Mal beim Friseur, seit ich eine Pause der Erwerbstätigkeit mache, kommt mir mein Hausfrauendasein so deutlich vor. Als spielte ich die Rolle einer Frau aus der begüterten Mittelschicht, die es sich nicht nur leisten kann, kein Geld zu verdienen, sondern auch, Geld auszugeben! Ich habe ein permanentes schlechtes Gewissen deswegen. Auslöser waren die unerträglich schmerzenden Handgelenke, die mir sagten: „Schluss mit dem Stuss“ (im Büro). „Schreib etwas anderes“, sagten sie mir. Ich ging nicht mehr ins Büro und schrieb etwas anderes, also: noch mehr anderes, als ich ohnehin immer schon schrieb. Ich lebe von Erspartem, Geschenktem und vom Geld meines Mannes. Und ich habe leider (wie erwähnt) keinerlei Probleme, Geld auszugeben! Das stresst mich. Ich mache alles Mögliche, schreiben, Musik, die Zeit rast davon, aber das schlechte Gewissen bleibt. Sobald ich eine gute Idee habe, diesen Zustand zu ändern, werde ich sie umsetzen. Ich müsste Geld verdienen, ohne dass meine Hände wehtun, die Kinder leiden und der Alltag leidet.
Wobei... wenn ich ehrlich bin: Im Grunde bin ich gerade ganz gern „zuhause“. Es tut mir gut, nicht diesem Zeit- und Leistungsdruck unterworfen zu sein, den man immer erst im Nachhinein richtig erkennt; der allgemeine Mutterverantwortungsdruck reicht mir im Moment völlig aus. Außerdem gibt es immer genug zu tun, man kennt das: Wäsche waschen, hängen, abhängen, falten (mein Mann liebt es, zur Entspannung sozusagen, ich vermeide es weitgehend, aber nicht weit genug). Spülmaschine einräumen, ausräumen (mag niemand, muss ich machen), Hausaufgaben helfen, Kinder hier oder dorthin bringen, Gesangsunterricht nehmen, mein Chor, meine Band, meine Texte zu Ausschreibungen schicken, die Erfolglosigkeit verkraften, das Leben achten, den Regen beschreiben, zum Elternabend gehen, und nochmal zum Elternabend, sich doch wieder zur Elternsprecherin wählen lassen, um das eben skizzierte schlechte Gewissen zu bekämpfen, aber es klappt nicht undsoweiter.
Letzten Sonntag, bei der ersten Nicht-Christiansen-Sendung, die also jetzt AnneWill heißt, ging es genau darum: um den Wert von Arbeit. Eine „Frau aus dem Volk“ sprach davon, dass sie täglich 130 km hin und zurück zum Callcenter fährt, für 5 Euro die Stunde. Also doch noch Hartz IV (oder wie das dann im Einzelnen heißen mag). Ein Psychiater, spezialisiert auf Burn Outs von hohen Chargen, erzählte über den Druck. Der Telekom-Chef (regulärer Gast) sah aus, als stünde er kurz vor die Einweisung in die Klinik dieses Pschiaters. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich mich nicht ausgebrannt fühle. Nicht SO. Dann kam das Thema auf Mindestlohn. Für "notwendige Arbeit", und in der Wirtschaft werde ja nur notwendige Arbeit geleistet. Stimmt das? Aber was wäre mit meiner Arbeit, hier, zuhause? Ist es notwendig, sich um die eigenen Kinder zu kümmern? Kriege ich dann den Mindestlohn? Und was hat das alles mit Fasten zu tun? Ich plappere. Wer nur was über Fasten wissen will, überlese bitte die Stelle, die er jetzt schon gelesen hat. Also: künftig. Beim zweiten Lesen. Mehr kann ich im Moment nicht anbieten. (Ich grinse wieder.)
Ob ich Kaffee oder Tee will, fragt mich die Hilfe beim Friseur nach dem Waschen. Sie sagt „üsch“ und „nüsch“, das macht mich ganz krank, weil es mich an meine Söhne erinnert, denen ich das gerade abzugewöhnen versuch, genauso wie: unvermittelt in der Gegend herumbrüllen, Sachen werfen, beim Essen schmatzen… argh! Da ist er wieder! Der allgegenwärtige Gedanke! Das Allgegenwärtige: Essen! Mein Magen knurrt, und das ist nicht nur so ein Ausdruck: Er knurrt tatsächlich. Ich bitte um Wasser. Es schmeckt angenehm kalt. Ich denke kaum noch ans Essen, und fast nur noch an meine Haare. Betonung liegt auf „fast“. Leider sprechen die Friseurinnen darüber, als sie die Hilfe einkaufen schicken, was sie vom Bäcker mitgebracht haben wollen. „Ein Schokocroissant – und wenn es das nicht gibt dieses Campingbrötchen, mit den Zuckerstreuseln drauf, weißt du?“ Ich weiß!
Außerdem tut mir die Friseurin Leid, sie hat einen Hexenschuss und läuft wie auf Eiern. „Da hat man ja ein schlechtes Gewissen, Sie hier so rumzuscheuchen“, sage ich vorwurfsvoll. Sie wehrt höflich ab. Ich komme mir noch mehr vor wie eine klassische Hausfrau in mittleren Jahren und Schichten. Vielleicht sollte ich diesen Zustand annehmen? Jedenfalls erstmal? Für heute? Ich gebe Trinkgeld, mein Kopf sieht gut aus und fühlt sich gut an.
Zuhause bereite ich mir zum Mittag wieder den Haferschleimtrunk. Direkt danach ist der Magen angenehm voll und warm. Aah! Diesmal habe ich Zeit, mich hinzulegen und die vorgesehene „Mittagsruhe“ – quel mot démodé! – einzuhalten (die Leber entgifte im Liegen besser, behauptet das Fastenbuch, und weil ich nicht weiß, ob ich Gift in meiner Leber habe, lege ich mich gerne hin). Ich döse ein wenig weg, höre die Kinder anderer Leute vom benachbarten Schulhof kreischen, als sie raus dürfen. Schulschluss. Zuerst klingt ihr Geschrei so, als wäre etwas passiert. Beim Aufstehen muss ich aufpassen, sonst wird mir schwindlig: nicht so schnell! Es geht alles etwas langsamer. Das Denken nicht, glaube ich, aber das Reagieren. Das Funktionieren.
Mein Bauch weiß immer noch gut genug, dass er nichts zu essen kriegt, aber es geht besser als gestern. Ich trinke viel Wasser, auch wenn es langweilig ist, Wasser zu trinken.
In unserer Brotaufbewahrung aus Steingut, die ohne Deckel auskommen muss – zuerst war er angebrochen, dann ein Stück rausgebrochen, und seit ein paar Wochen ist er ganz kaputt und weggeworfen – liegt dieses weiche Toastbrot, das die Kinder so mögen. Ich mag es auch. Aber ich lasse es liegen.
Kaffee fehlt mir doch noch arg. Wolken im Kopf, ähnlich dem leeren Gefühl, als ich aufhörte zu rauchen. Es hat aufgehört zu regnen, wird heller. Einsamkeitsgefühle, etwas niedergedrückt – warum? Man ist allein, wenn man nichts isst. Energiezufuhr von außen fehlt. Ich schließe mich selbst aus, von allem, wenn ich nicht esse. Gestern beim Abendessen bin ich spazieren gegangen, während die anderen aßen (danach ging es mir besser, die Luft war so mild!). Ich klinke mich innerlich weg. Versuche mich zu erinnern, dass auch nicht alles gut war, als ich noch aß. Als wäre das ungefähr ein Jahr her. (Ich grinse jetzt.) Gestern hatte die große Tochter plötzlich so starke Kopfschmerzen und Übelkeit, dass ich sie in den Schlaf kraulen musste wie früher.
Meine Kinder rühren mich noch mehr als sonst, wenn ich nichts esse. Als würde die Liebe wichtiger, wenn man sonst nichts hat. Die Jungen sind eine Augenweide, stehen in voller Kleinkindpower, auf direktem Weg ins Universum. Hoffentlich kommt nichts dazwischen. Ich bin abergläubisch. Und Emma ist so schön! Es ist unglaublich, wie schön sie ist. Hoffentlich weiß sie das nicht zu sehr. Sie lernt eine Szene für die Schauspielgruppe, ich frage sie ab, ich mache das gern, und sie ist so gut! Und Mütter sind unglaublich objektiv in Bezug auf die eigenen Kinder! (Früher, beim ersten Kind, habe ich nicht verstanden, wieso eine andere Mutter ihr anderes Kind so lieb haben können soll wie ich meines. Ich habe mich gefragt, wie das gehen soll: Meines ist doch so viel schöner, klüger, beweglicher, HELLER als das jeweilige andere, egal welches. In einer Gruppe STICHT es doch geradezu heraus! Mittlerweile bin ich etwas toleranter… ES gibt tatsächlich auch noch andere kluge, gewandte, angenehme Kinder außer meinen (ein paar), und es gibt sogar noch andere nette Mütter (sehr wenige), und rein rational begreife ich, dass sie ihre Kinder genauso lieben müssen wie ich meine – aber ich komme einem wirklichen Verständnis dieser Tatsache nur sehr langsam näher).
Ich habe warmen Kräutertee im Bauch. Davon mache ich mir jetzt noch eine Tasse. Ich trinke mehr Tee, als ich nach den Angaben im Fastenbuch darf, aber das ist ja wohl albern, oder? Dort steht, ich solle vormittags eine Tasse und nachmittags eine Tasse Tee trinken! Ich trinke ungefähr das Dreifache an Tee. Ist das schlimm? (Ich lächle, und mir fällt auf: Ohne Smileys einen Text exakt zu schreiben ist schwierig bei so einem flapsigen Stück Tagebüchlein wie diesem, das einfach so runtergeschrieben wird, ohne Rücksicht auf Verluste… Warum schreibe ich das überhaupt? Mitteilungsdrang in Richtung Unbekannt. Vielleicht hört ja jemand zu und ist bei mir. Vielleicht liest jemand mit, der fastet und sich freut, dass noch eine fastet, da draußen, in dieser weiten, wilden Welt...)
Warum faste ich?
Ich erinnere mich dunkel, dass das Essen – vor drei Tagen erst! – mich langweilte, dass ich eine Pause brauchte. Die habe ich jetzt. Ich könnte auch sagen: Das habe ich jetzt davon. Je nach Laune. Es ist ungewohnt, alles in „ich“-Form zu schreiben, aber das ist bei einem Tagebuch wohl unumgänglich. Ich merke, wie mir immer wieder ein „man“ reinrutschen will, um nur ja nicht zu persönlich zu werden. Dies hier ist rein persönlich! Privat! Ich-bezogen! Auf französisch würde man glaub ich sagen: „vain“. Es zählt nichts. Es ist egal. Es ist keine Literatur, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, trägt keine Haftung. Oder erst recht: Haftung. Ist das nun eine meiner Hintertüren oder das Gegenteil? Jedenfalls ist es wie eine Übung für mich. Eine Fastenübung. Fließenlassen.
Meine Lippen sind trocken. Mein Gesicht sieht klar aus. Die Leute gucken mich auf der Straße an, als wäre ich etwas Besonderes. Aber das bin ich ja auch (Smiley).
Heute Abend koche ich frische Paprika und Möhren mit saurer Sahne und Zwiebeln zu Nudeln. Die Kleinen werden das Gemüse nicht essen, aber ich gebe nicht auf. Ich kann leider nicht gut kochen, aber manchmal macht es mir Spaß.
Wenn die Sehnsucht nach Nahrung zu stark wird, versuche ich mich zu erinnern an das letzte Fastenbrechen: Da war plötzlich eine Sehnsucht nach dem Fasten, ein Vermissen der Leichtigkeit... Man will immer das, was man nicht hat, klar. Und ich will am liebsten alles auf einmal: verzichten und genießen. Ich nehme mir also schlau vor, das Fasten zu genießen – die Ess-Tage kommen noch früh genug mit ihren Auseinandersetzungen und Lasten. Jetzt muss ich daran nicht denken. Jetzt kann ich loslassen, mich entspannen, mich ausruhen vom Essen und vielleicht auch anderen Ballast abwerfen. Blöde Gedanken. Blöde Gefühle. Blöde Gewohnheiten. Und vielleicht ein paar gute Ideen haben. Was das schlechte Gewissen betrifft zum Beispiel. Das Hausfrauengewissen. Ich liebe Ironie. Am liebsten hätte ich eine richtig gute Idee.