Die Kreuzigung

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
Sam

Beitragvon Sam » 16.11.2007, 18:20

Die Kreuzigung

„So etwas hatten wir schon lange nicht mehr“, sagt Erzapfel zu seinem Assistenten Hagen. „Ein Kreuz mit jemanden drangenagelt.“
„Besonders angestrengt haben die sich aber nicht“, bemerkt Hagen. „Mal eben schnell zusammengekloppt sieht das aus. Keine Facharbeit.“
„Aber es hat seinen Zweck erfüllt. Der Leiche ist ja noch gut anzusehen, wie viel Mühe das Sterben gekostet hat.“
Erzapfel geht ein paar Mal um das Kreuz herum.
„Und wem haben wir das zu verdanken?“ will er wissen.
„Dem Dorf da unten“ ,antwortet Hagen und zeigt auf eine kleine Ansammlung von Häusern. „Zweihundert Seelen, die Kinder nicht mitgerechnet.“
„Dann lassen sie uns mal gehen.“

Man bringt die Dorfbewohner in der Kirche zusammen. Auf den Bänken sitzen die Männer. Die Frauen stehen dahinter und haben die Kinder unter ihren Röcken verborgen.
Es wäre Zeit zu bekennen, wird ihnen gesagt. Alle schweigen jedoch und blicken dumm oder verächtlich.
„Sie reden nicht“, sagt Hagen zu Erzapfel.
„Sie werden reden“, erwidert dieser. „Die Menschen sind auf ihre schlechten Taten genauso stolz, wie auf ihre guten.“
Aus den Frauen bricht es schließlich hervor:
„Er hat unsere Töchter verführt auf die Straße zu gehen“, rufen sie. „Und unsere Männer, sie von dort abzuholen.“

Erzapfel (zu Hagen): „Sehen sie?“
Und nach einer kurzen Pause: „Sorgen sie dafür, dass ein gescheiter Zimmermann besorgt wird. Und Holz. Reichlich. Genug für 200 Kreuze.“
„Was ist mit den Kindern?“, will Hagen wissen.
„Beeindrucken sie mich doch mal mit ein wenig Eigeninitiative.“
„Nun, ich würde sie an die Füße der Eltern nageln.“
„Das ist“, stellt Erzapfel fest, „eine Idee, die ihre Ausbildung bis zu diesem fortgeschrittenen Stadium rechtfertigt, Hagen.“

Später treffen sie ihren Vorgesetzten. Der grüßt freundlich und fragt, was es denn gegeben hätte.
„Ach nichts weiter“, antwortet Erzapfel, „nur eine Kreuzigung.“
„Und, haben sie das geregelt?“
„Natürlich. Wie immer.“
„Ich ruf derweil mal an, dass zweihundert Neue kommen“, sagt Hagen und greift zum Telefon.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 16.11.2007, 19:42

Ein gut geschriebener Dialogtext. Man sieht, der Autor hat die Technik im Griff.

Mir ist der Text jedoch viel zu kurz, zu fragmentarisch angelegt. Ich möchte gern wissen, worum es wirklich geht! Wer sind denn Erzapfel und Hagen? Was ist ihre Profession? Wieso können sie ein ganzes Dorf ans Kreuz nageln, das einen Einzelnen gemeuchelt hat?
Worauf soll der Text anspielen? Es gibt zu viele Möglichkeiten und Richtungen, in die man denken könnte, das finde ich nicht gut.

Ein Fragment aus einem längeren Text? Trotz guter Schreibtechnik lässt mich das unbefriedigt zurück, zu unaufgelöst ist das, um mir ein Lesevergnügen zu verschaffen.

Lieben Gruß
Elsa
Schreiben ist atmen

Gast

Beitragvon Gast » 17.11.2007, 10:12

„… und führe mich nicht in Versuchung“

Ich lese diesen Text als eine Art Parabel.

Es geht nicht de facto um ein Kreuzigungsritual, sondern darum wie sich einige wenige „Recht“ zurechtlegen und es geht darum wie wenig verschwiegen Menschen sind. Genügend Beispiele dafür, dass Menschen dazu neigen sogar von ihren Gräueltaten anderen Menschen erzählen gibt es in der Kriminal- und Kriegsgeschichte.
Dann denke ich, dass es darüber hinaus noch um mehr geht, was ich aber im Moment nur erahne noch nicht in Worte fassen kann, ich will versuchen, mich mal heranzutasten.

Für mich ist es kein Zufall, dass einer der Protagonisten „Hagen“ und der andere Erzapfel heißt. Die Namen müssen eine Bedeutung haben, die sich mir bei „Hagen“ auch schnell aufdrängt, denn ich lese hier eine Anspielung auf den Anatom/ Plastinator Gunter von Hagens. Er wurde bekannt durch seine aufsehenerregenden Ausstellungen: „Körperwelten“ und mit den negativen Schlagzeilen, er habe auch Hinrichtungsopfer plastiniert, also Menschen, die ihre Einwilligung, zur Schau gestellt zu werden, nicht gegeben haben konnten.
Bei Erzapfel muss ich zwangsläufig an „Erzengel“ denken, aber ich merke, dass es mir dann letztlich Schwierigkeiten bereitet, eine Parallele zu ziehen die Sinn macht.
Möglich, betrachte ich den Text als absurdes Theater, dass die Rolle des sog, Erzengels auf den Kopf gestellt wird, aber ich kann mich auch täuschen, darüber werde ich, wie überhaupt über die Quintessenz des Textes noch nachdenken müssen.

Nehmen wir mal an, es handle sich um den Plastinator Gunther von Hagens

Es geht um die Chance, eine Leiche am Kreuz, der man den Schmerz im Sterben noch ansieht, sie zu plastinieren. Haltbar gemacht werden soll der Schmerz. (Zunächst ist im Text der Bezug zur Kreuzigung Christi hergestellt).
Mit diesem Plastinat würde sich der Erschaffer über Gott erheben, selber Schöpfer sein, weil er sinnbildlich einen Gekreuzigten haltbar macht. So gesehen kann ich eine Parallele ziehen, die aus dem Gespräch, der beiden, vermeintlich an den Exekutionen Unbeteilgten (sie schauen herunter auf das Dorf, in dem die Menschen hingerichtet werden) und der Methode der Leichenbeschaffung, die von Hagens zur Last gelegt wurde, ziehen.

Weiterhin scheint mir das Sinken der Hemmschwelle, bzw. deren Verschwinden thematisiert worden zu sein.
War es im Augenblick noch außergewöhnlich einen Gekreuzigten „angeliefert“ zu bekommen, schwindet die Bedeutung dieses Ereignis angesichts der sich bietenden Möglichkeit, 200 Leichen zu erhalten (um sie zu plastinieren). Ein Mensch gewöhnt sich auch an Obszönitäten an Gräueltaten.
Sie sind nur noch ein Häkchen auf der Tagesordnung in einem bürokratischen Ablauf wert. Mehr interessiert den „Vorgesetzten“ ohnehin nicht.

Mir bereitet dieser Text großes Unbehagen, obwohl ich ihn noch nicht durchschaue. Ich fühle instinktiv, dass er genau dieses Gefühl bis hin zur Abscheu erzielen soll.
Soll er aufzeigen, dass wir Menschen uns selbst ad absurdum führen, ja uns ausrotten durch unser menschenverachtendes, vernichtendes Handeln?
Dass es auf ein paar mehr oder weniger nicht ankommt?
Hier hänge ich fest und möchte gern noch weiter über diesen brisanten Text, der mich regelrecht angesprungen hat nachdenken.
Hoffe, vielleicht durch weitere Kommentare auch eine „Erleuchtung“ zu erhalten.

Ich meine allerdings auch einen Ausschnitt – aus einem Theaterstück – gelesen zu haben und möglicherweise, wären nicht so viele Fragen offen, hätte ich mehr Futter bekommen.

Stilistisch gut durchkomponiert. Die wörtliche Rede wirkt authentisch und lebendig.

Leseempfehlung: Für Menschen die Ungewöhnliches, Absurdes (das aber nur im ersten Moment absurd scheint), suchen, die bereit sind sich intensiv zu beschäftigen, die Theater, szenisches Erzählen interessiert.

Maija

Beitragvon Maija » 18.11.2007, 08:41

Nehmen wir mal an, es handle sich um den Plastinator Gunther von Hagens


Ich denke auch, es geht hier um diesen Herren, der bei mir in der Nähe sein Domizil eingerichtet hat und sicherlich viel Sprengstoff in die Stadt (Guben) brachte. Will auch einmal dahin, habe es noch nicht geschafft.
Sehr guter Text der zum Nachdenken anregt!

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 18.11.2007, 18:47

... Die Rache ist mein...

Die Geschichte beginnt wie eine schaurige Kriminalgeschichte mit einem offensichtlichen ungewöhnlichen Ermittlerpaar, Erzapfel und Hagen. (Wieso musste ich da nur an „Der Richter und sein Henker“ denken ?)
Ein Mord ist offenbar geschehen. Ein Mensch wurde an ein Kreuz genagelt und ist einen qualvollen Tod gestorben.

Bis zum dritten Absatz dachte ich dies beim ersten Lesen noch.
Aber dann.
Nicht das die Geschichte bis dahin schon schaurig und brutal genug ist, nein jetzt wird es noch schlimmer.
200 Menschen sollen genauso sterben, wie derjenige, den sie getötet haben. Einschließlich unschuldiger Kinder, die zusammen mit ihren Eltern gekreuzigt werden sollen.
Jetzt ist klar, es ist keine schaurige Kriminalgeschichte alá CSI.

Zwei Tage habe ich versucht, den Sinn dieser Geschichte zu erfassen.
Richtig erfasst habe ich die Geschichte aber immer noch nicht, aber auch ich hoffe, durch weitere Kommentare die Geschichte besser zu verstehen.

Die Protagonisten: Erzapfel und Hagen.
Diese Namen sind mit Sicherheit nicht zufällig gewählt.
Die erste und bislang einzige Assoziation zu Erzapfel ist: Erzengel.
Einer der Erzengel – welcher ist mir entfallen – soll den Teufel in die Hölle verjagt haben.
Der Apfel spielt bei der Vertreibung aus dem Paradies eine gewichtige Rolle. Wenn man der Bibel glauben darf.
Mit „Erz“ wird eine Position beschrieben, die sich von anderen in der Stellung hervorhebt. Z.b. Erzengel, Erzbischof etc.
Hier haben wir also eine Figur, die anderen durch ihre Stellung überlegen ist. Sie hat eine führende Position inne.
Ein hoher, ein führender Apfel???
Verbinde ich den Umstand, dass ein Erzengel jemanden in die Hölle verjagte, der Apfel für die Vertreibung aus dem Paradies steht, ist Erzapfel jemand, der den Menschen durch seine Handlungen zeigt, ihr Menschen, ihr lebt nicht im Paradies, ihr lebt zwar auf der Erde, aber diese Erde mache ich euch zur Hölle.
Erzapfel ist kein Erzengel, vielmehr so etwas wie ein „Rachengel“.

Der Assistent von Erzapfel ist Hagen. Das für mich das größte Rätsel dieser Geschichte.
Hier ist die Nibelungensage mein erster Gedanke gewesen und die Figur Hagen aus dieser Sage. Zur Nibelungensage fällt mir allerdings noch weniger ein als zu religiösen Geschichten und Mythen.
Gerdas Gedanke an Gunther von Hagens hat mich zudem verwirrt.
Wenn die Figur Hagen an Gunther von Hagens angelehnt sein sollte, dann frage ich mich, wieso ist er dann hier nur der Assistent und noch in der Ausbildung? Müsste Hagen dann nicht der Chef sein, und Erzapfel der Assistent?

In dieser Geschichte werden Menschen wie Jesus durch das Kreuzigen getötet. Zu Jesus Zeiten soll dies eine übliche Hinrichtungsart gewesen sein.
Die Dorfbewohner haben als Grund für ihre Tat angeben:
„Er hat unsere Töchter verführt auf die Straße zu gehen“, rufen sie. „Und unsere Männer, sie von dort abzuholen.“

Interessant und nur nebenbei erwähnt, dass es die Frauen sind, die dies aussprechen. Die Männer schweigen. Genau wie es eine Frau gewesen sein soll, die den Apfel vom Baum pflückte und damit das Unheil – die Vertreibung aus dem Paradies- begann. (So die Bibel).

Die Dorfbewohner geben einen Grund für ihr Handeln an, der äußerst schwammig ist. Es riecht nach Bigotterie, nach Prüderie, nach Engstirnigkeit und nach Intoleranz.
Das Dorf scheint sich einig gewesen zu sein. Sie waren Ankläger, Richter und Vollstrecker.
Ich finde, die Parallelen zur Kreuzigung Jesus sind nicht zu übersehen.

Erzapfel und Hagen bestrafen nun diese Dorfbewohner.
Sie bestrafen sie dadurch, dass sie mit ihnen genau dasselbe machen, wie die Dorfbewohner mit dem Gekreuzigten.
Erzapfel und Hagen sind ebenso Ermittler, Ankläger, Richter und Vollstrecker in einer Person.
Es ist keine gerechte Strafe, die sie sich da ausgedacht haben. Es ist Rache.

Die Menschen sind – so spricht es diese Geschichte aus- genauso stolz auf ihre schlechten Taten wie auf ihre guten Taten. Sie prahlen auch mit ihren schlechten Taten. Manchmal ist eine schlechte Tat auch der Beginn für etwas Gutes, bzw. die schlechte Tat wird als Begründung für etwas nun Gutes angesehen. Die schlechte Tat wird im nachhinein sich zurecht gebogen.
Wenn ich dies auf die Kreuzigung Jesus anwende, gibt dies für mich einen Sinn.
Die Kreuzigung Jesus war eine schlechte Tat. Keiner protestierte, keiner verhinderte die Tat, im Grunde war man sich einig.
Über diese Tat wurde geredet und geschrieben, immer wieder. Im Laufe der Zeit hat sich basierend auf diese schlechte Handlung eine Bewegung entwickelt, die das Gegenteil verkündet. Gott soll ein gütiger Gott sein, er vergibt den Menschen. Er verlangt gute Taten und keine schlechten Taten. Und wenn die Menschen dem nicht folgen, dafür gibt es die Hölle.
Jesus soll in etwa gesagt haben „Vater vergibt Ihnen, sie wissen nicht was sie tun“.
Jesus hat den Menschen verziehen.
Irgendwer scheint den Menschen aber nicht zu verzeihen. Vor allem dann nicht, wenn sie eine Handlung begehen, die schlecht ist.
Dann werden sie bestraft. Es wird ihnen nicht verziehen.
Erzapfel und Hagen und deren Vorgesetzter verzeihen nicht, sie richten nicht gerecht, sie bestrafen, ohne zu differenzieren, ohne Unschuldige herauszunehmen.
Sie sind das krasse Gegenteil von dem, was die Lehre von einem gütigen Gott beinhaltet.
Der Vorgesetze von Erzapfel und Hagen ist kein gütiger Gott. Er bestraft die Menschen so, wie diese Jesus bestraft haben. Mir spukt immer der Gedanke im Kopf her rum, es ist Gott, der sich an den Menschen rächt, die damals seinen Sohn so grausam und unmenschlich getötet haben.

Wenn ich dies von Gott loslöse, ist der Vorgesetze kein gütiger Regierender.
Er steht für eine totalitäre im gewissen Sinne fanatische Gesellschaft.
Eine menschliche Gesellschaft, in der fundamentale Grundsätze von Menschlichkeit nicht beachtet werden. Eine Gesellschaft, die sich durch ihr Verhalten selber zerstören wird. Durch ihre Unmenschlichkeit.
Es ist keine offene Gesellschaft.
Verzeihen, Vergeben ist nicht Bestandteil dieser Gesellschaft. Toleranz erst recht nicht.

Ich will nicht soweit gehen, und diese Geschichte auf sämtliche Religion der Welt anwenden. Aber ich muss zugeben, dass mir bei dieser Geschichte doch religiöse und sektenartige Gemeinschaften zu aller erst in den Sinn gekommen sind. Gemeinschaften, die vorgeben nach dem Neuen Testament zu leben, aber doch etliches aus dem alten Testament anwenden, wie z.B. die Rache. Die vorgeben, gerecht, fair und menschlich zu handeln zu wollen, aber dann doch das Gegenteil machen.

Beim Lesen dieser Geschichte hat es mir spätestens ab dem dritten Absatz erst die Sprache verschlagen, dann hat es mich erschaudert, und dann bin ich etwas wütend geworden.
Die Geschichte ist bitterböse.
Sie stellt den Menschen ein absolut negatives Zeugnis aus. Menschen sind nicht gut, nein sie sind schlecht. Das behagt mir überhaupt nicht. So schlecht und böse, wie es die Geschichte darstellt, sind wir Menschen nun doch nicht.

Ich bedauere es übrigens sehr, dass es vom Auto keine Rückmeldung dazu geben darf. Ich bin so was von neugierig auf die Intention des Autors und auf das was er uns aus seiner Sicht mit dieser Geschichte sagen möchte. Gebe ich zu.

Auf jeden Fall finde ich diese Geschichte sehr lesenswert. Sie lässt einen nicht los. Sie hält einen gefangen.

Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)


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