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Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moshe.c

Beitragvon moshe.c » 16.05.2006, 20:47

Hab ich Schuld?,
war die Frage
nach der Ära.

Im Spiegel
mein Gesicht
mit allen Furchen
und den Augen.

Ich sehe es.

Gibt es Aussicht?

Gast

Beitragvon Gast » 16.05.2006, 23:25

Dieses
"ich sehe es"
"gibt es Aussicht"

- fast paradox, denn wer etwas sieht hat ja eine "Aussicht" -
aber gibt es Aussicht...

toll, faszinierend für mich, weil ich so etwas liebe...
Also dies Mal keine Textkritik sondern Meinungsäußerung ;-)

Einen schönen Abend
Liebe Grüße
Gerda

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 17.05.2006, 00:02

Meine Freundin sagte gerade: "Gerda!, Gerda erkenne ich auch von weitem, sogar ohne Brille!"
Und wenn sie dann näher kommt, und deine Komentare liest, sagt sie oft einfach: "Toll."

Ich hab dann nichts mehr zu sagen und fühle mich wohl

moshe.c

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 17.05.2006, 20:23

Hallo moshe.c,
nachdem ich mich grade mit dem Usernamen Hallo moshe.c anmelden wollte....ein kurzer Gedanke zum Text.
ich habe ihn noch nicht völlig ergründet, knusper noch an der Oberfläche.

Aber ich frage mich trotzdem: Stellt man sich (auch wenn man sonst hab gebraucht) die Frage nach der Schuld mit "hab"? Ich fände "habe" zutreffender...vielleicht irre ich mich aber auch.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 17.05.2006, 21:25

Tja, dies ist eine nadelspitze Frage.

In den 18 Jahren meines Lebens in Berlin hat man ganz schön an meiner Sprache gefeilt, mir einige Zähne meines reinen Hochdeutsches gezogen. Zuvor lebte ich in und um Göttingen, wovon gesagt wird, es würde dort das reinste Hochdeutsch gesprochen.
Da ist was dran, denn wenn ich die Sprache aus dieser Zeit zu meiner Freundin aus Berlin spreche, die dort auch geboren ist, findet sie es komisch und vertsteht mich manchmal nicht.
Ich begegnete in Berlin auch Touristen aus West-Deutschland, die mir sagten: " Sie sprechen ja garnicht Berlinerisch."
Dann hab icke aba ausjepackt, wat ick schon konnte.

Irgendwie gehört dieses Gedicht nach Berlin, und deshalb denke ich, das kleine 'hab' is knorke.

moshe.c

Last

Beitragvon Last » 17.05.2006, 23:03

Hallo moshe,

ich komme nicht drumherum auch endlich mal ein Gedicht von dir zu kommentieren (Oder habe ich schonmal? Ich glaube nicht, bin aber etwas durch den Wind heute, hatte meine mündl. Abiturprüfung...).

Dein Stil hat etwas, ich finde du arbeitest viel mit 'kleinen' Worten. Ich habe mich leider auf diesen Stil noch nicht so ganz einleben können (muss ihn aber loben, der ist sehr eigen und das schätze ich).

In fast jedem deiner Gedichte sind mir enorm tiefe Momente aufgefallen, aber auch Teile, die ich als weniger intensiv empfinde.
Das herausragende Element ist hier die erste Strophe:

Hab ich Schuld?,
war die Frage
nach der Ära.

Super!

Dann aber das weniger Tolle:
Im Spiegel
mein Gesicht
mit allen Furchen
und den Augen

Finde ich nicht so gut, aber da kommen diese 'kleinen' Worte ins Spiel, hier ist es das "den", was Interesse weckt, was das scheinbar durchschnittliche Bild abhebt.

Ich weiß nicht, ob du mit dieser Äußerung etwas anfangen kannst, hoffe das aber. :-s

P.S.: Bist du vielleicht Jude? Irgendwie empfinde ich deinen Stil als jüdisch, was natürlich nicht abwertend gemeint ist, im Gegenteil. Ich habe dieses Gefühl bei deinen gedichen, was vielleicht auch nur durch die Flagge entsteht.

Gast

Beitragvon Gast » 18.05.2006, 07:42

Lieber moshe, ich denke du willst mit der Alltäglichkeit, die du im Spiegel entdeckst, aufmerksam machen auf die Diskrepanz zw. dem lyr. Ich und der gestellten Frage.

ich habe ;-) am "hab" nichts auszusetzen, obwohl ich ansonsten oft der meinung bin, solche Auslassungen zu unterlassen ;-) sei besser.

Liebe Grüße in den Tag
Gerda

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 18.05.2006, 09:03

Hallo moshe c.

Dein Gedicht beschäftigt mich schon einige Tage und ich bin mir nach wie vor nicht sicher, ob ich Deine Aussage richtig verstehe. Die bisherigen Kommentare beantworten meine Fragen nicht wirklich, daher sieh meinen Kommentar eher als Frage.

"Hab ich Schuld?,
war die Frage
nach der Ära. "


Gemeint ist der deutsche Nationalsozialismus, bzw. der Holocaust und die viel diskutierte Frage nach der Schuld des Einzelnen.

"Im Spiegel
mein Gesicht
mit allen Furchen
und den Augen. "


Die Selbstreflektion zu dem Thema. Die Furchen, die Unebenheiten des Gesichtes, als Spuren, die Augen, der sehende (beobachtende) Sinn und zugleich der Spiegel der Seele.

"Ich sehe es"

Der interessanteste Teil des Gedichtes, sein Dreh- und Angelpunkt. Gesehen wird das eigene Gesicht im Spiegel, aber ich verstehe es so, dass auch die Schuld und die daraus resultierende Verantwortung gesehen wird.

"Gibt es Aussicht?"

Aussicht worauf? Ein Blick in die Zukunft, so kommt die Frage bei mir an. Die Frage, wie es nach dem Holocaust weitergehen kann. Es erinnert an Adornos Satz "Nach Auschwitz kann man keine Gedichte schreiben.", nur nicht so stark definiert, sondern als Frage gestellt.

Ich weiß, man sollte Gedichte nicht zu sehr zerreden, bei der Rubrik "Lyrik und Kultur" halte ich es aber für wichtig, die Intention des Autors genau zu verstehen.

MfG

Jürgen

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 18.05.2006, 16:41

Hallo Jürgen!

Deine Interpretationen sind ausgesprochen richtig.
In einem Punkt möchte ich dich aber noch ergänzen: Die Ära des dritten Reiches kannte ich nicht (geb. 1951) und die gesellschaftliche Auseinandersetzung danach auch nicht. Es wurde mir erst so nach und nach klar, was da eigentlich gewesen ist. Nichstdestotrotz beziehe ich mich darauf, aber vor allem beziehe ich mich auf die Wende und die Zeit danach, die ich hautnah miterlebt habe. Ich wohnte von 1981 bis 1999 in (West-) Berlin und habe zu Zeiten der DDR regelmäßig Ost-Berlin und die DDR besucht, so 2 bis 3 mal im Monat, und hatte dort einen Freundes- und Bekanntenkreis. Auch habe ich in vier Fällen dazu beigetragen, daß Menschen, die dort wegen versuchter Republikflucht im Gefängnis saßen, in die BRD entlassen wurden (Freikauf).
Unmittelbar nach der Wende, als klar wurde das die STASI allein in Berlin 80 000 offizielle Mitarbeiter hatte und 200 000 inoffizielle, entstanden dort natürlich die Fragen: Wer war es? und Wer hat mir was getan?.
Insofern beziehe ich mich mit meinem Gedicht mehr auf dieses eigene Erleben.

Mit liebem Gruß Moshe.

Hallo Last!

Kannst du mir bitte etwas genauer beschreiben, was denn da nicht so toll ist. Deine Meinung wird für mich nicht so richtig sichtbar und ich bin schon daran interessiert zu wissen, was die Leser meiner Gedichte in welche Richtung bewegt.

Zu deinem P.S.: Ja, ich bin deutscher Jude und lebe in Israel, in Givataim, einem Vorort von Tel Aviv.
Gibt es einen jüdischen Stil? Ist mir nicht bekannt. Bitte sei so lieb und erläutere mir auch das etwas genauer. Es würde mich aus Gründen der Selbsterkenntnis dringend interessieren.

Ich hoffe deine Abi-Prüfung ist gut für dich ausgefallen, mit liebem Gruß moshe.c

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 19.05.2006, 00:46

Voll gekriegt, an die DDR hatte ich nicht einen Moment gedacht. :smile:

Hoffentlich feiern wir nicht zu sehr die Gegenwart in Deutschland.

Liebe Grüße

Jürgen

Last

Beitragvon Last » 19.05.2006, 12:12

Hallo moshe,

ich werde gerne nochmal versuchen zu erklären, was ich an der Strophe nicht so toll fand und warum ich an dieses eine Wort "den" hingegen schön fand.

Ich mag an einem Gedicht, wenn es in meinem Kopf etwas zum schwingen bringt, die Gedanken anregt. Dadurch birgt es die Chance neue Betrachtungsweisen zu erlangen, selbst wenn ein mir bekannter Gedankengang ausgedrückt wird. Das war in der ersten Strophe der Fall, in der zweiten jedoch nicht. Die verwendeten Bilder sind mir zu bekannt, ich habe sie nur geschluckt, einfach hingenommen. Der Blick in den Spiegel als Selbstreflektion, dann das Gesicht zur Selbstdarstellung und die Furchen für das Vergangene. Ich habe das in ähnlicher Form schon sooft gelesen, dass es fast schon die normale Bedeutung dieser Dinge ist. Somit fand in meinem Kopf kein Prozess statt um den Übertrag zu finden. Die einzige Variation zum Althergebrachten bringst du dadurch, dass die Furchen keinen Artikel haben, die Augen aber schon. Somit sind die Augen als Element des lyr. Ichs hervorgehoben, bestimmter. Das macht ja auch Sinn, denn die nächsten beiden Strophen beschäftigen sich mit dem Sehen. Ich ziehe dann als Leser den Schluss, dass man nicht nur Augen haben muss sondern die Augen, die kritisch nach vorne blicken genau so wie sie sich selbst und das Weltgeschehen hinterfragen.

Das nächste interessante Wort ist dann auch wieder so ein 'kleines' "es" in ich sehe es.

Dein Stil bekommt in meinen Augen dadurch etwas besonderes, dass du immer wieder auch zu sehr bekannten Bildern greifst, diese dann aber sehr bedacht verwendest und eben durch diese kleinen Wörter.
Dadurch gewinnen deine Gedichte einen sehr leisen Ton, der in seiner bedachten Weise (und auch durch die Thematiken) zu dem Bild passt, dass ich von Juden habe, etwas Ruhiges und Nachdenkliches. Ebene ohne viele größe Wörter leise und bedacht ihre Lebensweisheiten von sich geben (wobei ich eingestehen muss, dass ich bisher nur einen Juden richtig kennengelernt habe und der sagt von sich selbst er wäre Misanthrop, was ich ihm nicht glaube, denn er hat auch diesen nachdenkichen Ton und ist ein herzensguter Mensch).

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 19.05.2006, 15:41

Hallo Last!

Jetzt verstehe ich deinen Standpunkt und bedanke mich für die ausführliche Erläuterung.
Du hast sehr viele Gedichte gelesen und deshalb ist dir dieses Bild mit dem Spiegel schon sooft begegnet, rührt dich nicht mehr richtig an. OK.
Mein erster Vorname ist Moshe = Moses. Das ist bekanntermaßen der Mensch, der unter anderen Taten, die Zehn Gebote geschrieben hat. Nun heißt es seit sehr, sehr langer Zeit: 'Du sollst nicht töten' ( Im Orginal heißt es 'Du sollst nicht morden' ).

Was sehe ich, wenn ich die Zeitung aufschlage? Mord- und Todschlag nimmt gar kein Ende. ( Auch in meinem Land). Und im Fernsehen gibt es Mord als Unterhaltung.

Ist Wiederholung da nicht notwendig?
Ich denke schon.

Was deine Wahrnehmung von Juden anbelangt, so zeigst du eine außergewöhnlich gute Wahrnehmung. Ich bedanke mich auch hier für deine Erläuterung-

moshe.c

Max

Beitragvon Max » 19.05.2006, 17:22

Lieber Moshe,

ich kann mich Lasts Kritik nicht (ganz) anschließen. Hm, der positiven schon: der erste Teil ist riesig. Ich frage mich bei der zweiten, ob sie die Augen benötigt. Die scheinen mir (außer zum gucken) vor allem für die Zeile danach gut, die ja uaf das Sehen Bezug nimmt).
Bei mir wäre die letzte Zeile vielleicht positiver, aber das ist eine Frage der Erfahrung und der Einstellung (meine ist eben "Am Ende auch Hoffnung"). Beim Hinweis auf Adorno musste ich schmunzeln - es wäre eine kleine Groteske sein "nach Auschwitz ..." als Gedicht zu formulieren (Celan konnte es gewissermaßen).

Liebe Grüße
Max

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 19.05.2006, 18:21

Nee, Augen sind nicht nur zum gucken da, sondern auch zum Anschauen des anderen Menschen, Wesens, auch der eigenen Situation. Sie sind der Spiegel der Seele, drücken die Person aus und ihre Befindlichkeit.

Wenn ich meine Augen sehe, sehe ich mich.

Wenn ich deine Augen sehe, sehe ich dich.

Mit liebem Gruß moshe.c


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