TdM (Angst): Drei Wünsche

Yorick

Beitragvon Yorick » 21.10.2010, 22:10

Drei Wünsche

2. Fassung

Manchmal wünsche ich mir, mein Vater hätte gesoffen. Dass er wankend und fluchend in der Nacht nach Hause gekommen wäre, seine Schuhe in die Ecke gepfeffert und wütend nach mir gebrüllt hätte, ich solle ihm helfen, ins Bett zu kommen. Und wenn ich nicht schnell genug da gewesen wäre, dann hätte er ausgeholt und mir mit seiner rauen Hand eine Backpfeife verpasst, dass ich quer durch das Zimmer geflogen wäre.
Doch ich sehe meinen Vater, wie er an meinem Bett sitzt mit müden Augen, sprachlos. Ich möchte meinen Kopf an seine Schulter lehnen, möchte, dass er seine Arme um mich legt, und doch liege ich mit verkrampften Zehen in meinem Bett, bis er endlich aufsteht, mir eine gute Nacht wünscht und das Licht ausschaltet. In der Dunkelheit meine ich ihn noch immer dort sitzen zu sehen, mit gierig vorgebeugtem Kopf, als ob er die Wärme meines Körpers einatmen wolle.

Manchmal wünsche ich mir, meine Mutter hätte mit Zigarette und Lockenwickler am Herd gestanden und Bourbon getrunken. Dann hätte sie mir erzählt, dass sie gerne Schauspielerin geworden wäre, aber als ich geboren wurde, musste sie sich um mich kümmern. Und wenn es an der Tür geklingelt hätte, dann wäre sie mit dem Postboten oder dem Klempner oder dem Versicherungsvertreter im Schlafzimmer verschwunden und ich säße noch auf dem Stuhl in der Küche und hörte ihr Stöhnen.
Aber meine Mutter hielt das Haus sauber, und wenn sie sich nach getaner Arbeit hinsetzte und aus dem Fenster schaute, als warte sie auf eine erlösende Botschaft, kam ich zu ihr und legte meinen Kopf auf ihren Schoß. Dann drückte sie mich fest an sich und ich spürte ihr Herz, das im Einklang mit meinem zu schlagen schien. „Du bist mein lieber Junge“, hauchte sie mir dann ins Ohr, „wir gehören doch zusammen“. Und ich schwor mir im tiefsten Innern meiner Kinderseele, sie niemals zu verlassen und immer zu beschützen.

Manchmal wünsche ich mir, meine Eltern hätten sich gestritten, dass die Fetzen fliegen. Dass mein Vater gebrüllt und meine Mutter mit Geschirr nach ihm geworfen hätte. Rasend vor Wut wäre sie schließlich mit dem Brotmesser auf ihn losgegangen, und er hätte seine Hände um ihren Hals geschlungen und sie gewürgt, bis sie ohnmächtig geworden wäre.
Aber es war nur das Geräusch des Umblätterns da, Seite für Seite, Seite für Seite. Meine Mutter mit einem Buch auf dem Sofa, mein Vater im Sessel. Gedankenverloren, als spräche sie zu einem schwebenden Wesen im Raum, sagt meine Mutter: „Ich wäre gerne mal wieder verliebt.“ Mein Vater blättert eine Seite um. Liest – und fast nebenbei: „Ja. Ich auch.“ In der Sekunde des Erschreckens begegnen sich kurz ihre Blicke, voller Scham voreinander, um dann im nächsten Augenblick in betäubendem Schweigen zu versinken. Und ich auf dem Teppich davor, mit meinem Lastwagen in der Hand und dem Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und nicht zu wissen warum.

Wenn mich die Kraft verlässt, Lärm zu machen, wenn ich hören kann, wovon mein Körper mir erzählt, dann ahne ich, dass meine Wünsche schon längst in Erfüllung gegangen sind. Dass die Angst, die ich fühle, die Wahrheit ist – und keine grausamen Lügen braucht, um wirklich zu sein.


1. Fassung
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Zuletzt geändert von Yorick am 02.11.2010, 09:40, insgesamt 1-mal geändert.

Yorick

Beitragvon Yorick » 02.11.2010, 09:45

Endlich bin ich zu einer Überarbeitung gekommen.

Habe den ersten Absatz etwas verändert. Vom letzten Absatz kann ich mich nicht trennen, habe ihn aber deutlich gekürzt. Ich hoffe, dass er dadurch nicht mehr nur wie eine Zusammenfassung wirkt, sondern besser den "Mehrwert" transportiert.

Danke noch einmal an Gabriella für die vielen geschenkten Kommata und an alle für ihre Beiträge und Meinung.

Viele Grüße,
Yorick.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.11.2010, 12:17

Hallo Yorick,

ja, so finde ich es richtig gut! :daumen:

Saludos
Gabriella

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 02.11.2010, 13:40

Ja! Toller Text, gratuliere. *notiert für die Monatswahl*

lG Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Yorick

Beitragvon Yorick » 02.11.2010, 14:50

Danke für eure Hilfe! :idee:

novemberneblige Grüße,
Yorick.

Niko

Beitragvon Niko » 02.11.2010, 17:17

ein sehr beklemmendes bild, yorik!
ich lese nie bis selten prosa. doch seit "pig" und "das amulett", die ich zufällig dann mal anlas und mich darin versunken sah, möcht ich doch vermehrt auch prosa lesen.
bei dieser geschichte ging es mir ähnlich. sie hat mich beklemmend gemacht. mich bewegt, mir bilder gemalt.
und ich finde den schluss wichtig, denn er ist die quintessenz des ganzen textes und somit für mich unentbehrlich.

für mich ist es ein äußerst sensibel geschriebener (da gut nach - fühlbarer) text. ich sehe darin ein kind, dass in "gutem hause" und "wohlerzogen" groß wird. doch man lebt spießig. es gibt keine höhen und keine tiefen. du beschreibst nur die tiefen, wie ehestreit, bourbon trinken der mutter, sdas schlagen des vaters...-seltsamer weise ist in meiner vorstellung auch dahin, dass es übermut gibt, spontaneität, verrücktheiten, die das leben so sehr bereichern können etc.

eltern, die alles richtig machen wollen. zum wohle der kinder. und dann doch gerade dadurch alles oder doch vieles falsch machen und angst hinterlassen. so werden zu können, vielleicht auch angst verursacht durch distanz, angst durch die angst der eltern, mutig zu sein, leben zu wagen.

starker text!

liebe grüße: niko

Yorick

Beitragvon Yorick » 03.11.2010, 19:06

Hallo Niko,

vielen Dank für deinen Kommentar, und es freut mich, dass sich der Prosatext für dich gelohnt hat. Dass vielleicht Bilder entstanden sind, die über das rein Erzählte im Text hinausgehen.

Ja, letztlich ist Angst eine Erbkrankheit. Wenn jene nicht das Leben wagen, welche einem das Leben gaben - wer dann?
Angst durch Distanz, ein wichtiger Gedanke. Wie soll man Lebensmut entwicklen, wenn selbst die Beschützer verzweifelt sind?

viele Grüße von
Yorick.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 03.11.2010, 23:01

Lieber Yorick,

erst jetzt komme ich dazu, diesen Text zu lesen, der mich sehr beeindruckt hat. Inhalt und sprachliche Gestaltung haben mich sofort überzeugt, und wenn ich jetzt nur kurz nach dem ersten Leseeindruck schon kommentiere, dann aus zwei Grüunden: die Vorkommentaroren haben das Wesentliche bereits gesagt, ich kann mich also nur anschließen, zum einen; ein wenig angesprochener Aspekt, das Inzestiöse an der Kinderliebe, interessiert mich ganz besonders, zum andern -

ich habe diese sehr fein angedeutete Spannung, diese Gier der Alten nach dem Jungen durchaus wahrgenommen.
Der Unterschied scheint nicht groß zu sein zwischen Führsorge und Begierde. Tatsächlich wird es auch häufig verwechselt.


Dieses Dilemma ist hervorragend dargestellt, karg und sparsam ...
Außer Verlagsarbeit (kleine Korrekturen, wie z B Fürsorge statt Führsorge ;) ;) ) kein Härchen Kritik

Bewunderung!

liebe Grüße
Renée

Yorick

Beitragvon Yorick » 04.11.2010, 13:48

Hallo Renée,

Danke für deine positive Kritik. Es freut mich, dass hier das Sparsame gut zu funktionieren scheint. Häufig bestimmt ein solcher Aspekt dann das ganze Thema, verdrängt alles andere. Hier soll es "ein Stein in der Mauer" sein.

(Das Wort Dilemma hier hat mich gerade sehr begeistert.)
Eine Situation, die zwei Wahlmöglichkeiten bietet, welche beide zu einem unerwünschten Resultat führen.

viele Grüße,
Yorick.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 05.11.2010, 13:19

Hallo Yorick, Dein Erzähler wäre ein hervorragendes Opfer für die Technik des "reframing". Bewährt der Vater am Bettrand des Sohnes sich nicht als selbstkontrolliert und sittlich gefestigt? Ohne Versuchung gäbe es da keine Bewährung. Bewährt die Mutter sich nicht als genügsam? Und erst das Ehepaar: Verliebtheit ist das eine, Liebe etwas ganz anderes. Ein Ehepaar, das sich gegenseitig eingestehen kann, dass sie gerne mal wieder verliebt wären - das ist etwas Besonderes und Tolles, da ist eine Reife und Offenheit im Umgang miteinander, die selten ist.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Yorick

Beitragvon Yorick » 05.11.2010, 15:02

Hallo Quoth,

da hast du absolut Recht: der Erzähler wäre ein Opfer des "Reframing".
Ich denke eine Umdeutung in der Phase, in der sich der Erzähler im Text befindet, könnte sein Vertrauen in sich und die "Helfer" zutiefst erschüttern oder sogar zerstören.

Die im Text behandelte Phase ist die der Selbstwahrnehmung, das Zulassen von erlittenem Schmerz. Das ist ein sehr wichtiger Schritt, um sich der eigenen Gefühle bewußt zu werden. Wird dieser Schritt "übersprungen", ist fast immer eine depressive Lebenshaltung die Folge.

Das Mittel der Umdeutung halte ich allerdings für begrenzt sinnvoll (besonderns im Eltern/Kind-Umfeld). Sexuelle Übergriffe als Liebesbeweis umzudeuten ergibt in meinen Augen keinen Sinn. Im Gegenteil, es ist dazu angetan, das Opfer noch weiter in Schuldgefühle, Ohnmacht und Abhängigkeit zu bringen.

Genügsamkeit ist nur dann eine Tugend, wenn sie aus einer Position der Fülle heraus stattfindet. Aus einer Position der Bedürftigkeit wird es immer ein Machtinstrument sein.

In Beziehungen, später, kann das nützlich sein, um die Absichten und Gefühle des anderen zu verstehen. Als ein Werkzeug der Annäherung.
Und noch sinnvoller halte ich die Technik der Umdeutung in Bezug auf das eigene Verhalten. Wo habe ich Anteile daran, wenn ich mich als Opfer fühle. Warum "will" ich mich als Opfer fühlen? Dann ist es ein gutes Mittel, um das "fortgeführte Leiden" (permanentes Erleben und Erhalten einstmals erlittener Verletzungen) in konkreten Situationen der Gegenwart zu untersuchen.

Mit der Offenheit bei dem Satz "...gerne mal wieder verliebt" hast du allerdings recht. Das wurde mir schon als "zu ehrlich" angekreidet. Eigentlich hätte dort nur Schweigen sein sollen...

Danke für deine Beschäftigung mit dem Text.

Grüße,
Yorick.


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