Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.08.2018, 12:26

Was wäre dieser Faden ohne Deine, Muckis und Pjotrs Kommentare ... Er wäre längst gekappt!
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Beitragvon Pjotr » 07.08.2018, 15:23

Jules Renard hat geschrieben:In einer Hütte Träume haben wie ein Kaiser. (1898)

Abgesehen von Sisi, fällt mir gerade kein Kaiser ein, der nicht herrschsüchtig war. -- Meiner Empfindung nach hat Spitzwegs armer Poet keine Träume wie ein Kaiser. Die Idee, dass der Poet in diesem eingefangenen Augenblick einen Floh am Daumen hält, kann ich einsehen, aber diese sensible, musikalische Handhaltung, mit den elegant abgespreizten Fingern, die hat er und hat es in sich; so eine Handhaltung gebärdet dieser Mann stundenlang, jahrelang, nicht nur in dem einen zufälligen Moment der Flohfestnahme. Cäsar oder Napoleon hätte eine Faust gemacht, aus dieser nur den Zeigefinger und Daumen herausgestreckt und zwischen deren Spitzen den Floh zerquetscht -- ohne filigrane Spreizung.

Ich weiß nicht, ob Renard da eine Absurdität aufzeigen wollte, aber für mich geht das zunächst schon in diese Richtung; ein typischer Kaiser träumt von möglichst großem Landbesitz, und wenn es nicht mehr größer geht, dann zumindest von Besitzerhalt. Schließlich will der Nachbar ständig Land wegnehmen, dauernd ist irgendwo Krieg deswegen. Wenn ich nun arm in der Hütte lebe, kann ich vielerlei Wünsche haben: Unkaiserlich wünschen, dass es so bleibt, weil mir künstlerische Beschäftigung bei Brot und Wasser wichtiger ist als Goldscheffeln bei Kaviar und Herzkrampf. Oder wünschen, dass aus der Hütte ein Palast wird. Aber das ist auch kein kaiserlicher Traum, weil der Kaiser ja schon einen Palast hat und selbigen nicht mehr zu träumen braucht.

Die Hütte ist irreführend; sie führt auf die Idee mit dem Besitzwahn. Es gibt in des Kaisers Träumen noch etwas anderes als Besitzwahn: Befehlsgewalt.

Kann man von einer Hütte aus herrschen?

Ja. Manchmal. Das ist der Witz an der Sache.

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Beitragvon Mucki » 07.08.2018, 18:40

birke hat geschrieben:reich sein durch träume.

Das lese ich in Renards Zeile.

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Beitragvon Pjotr » 07.08.2018, 19:08

Ist das wieder ein Übersetzungsproblem? "Reich sein wie ein Kaiser" ist meiner Ansicht nach nicht das gleiche wie "träumen wie ein Kaiser". Andernfalls würde der vollständige Satz so lauten:

"In einer Hütte träumen, ein reicher Kaiser zu sein."

Oder zumindest so: "In einer Hütte träumen, ein Kaiser zu sein."

Der Kaiser träumt nicht, reich zu sein. Er ist es. -- Es muss also um andere Träume gehen. Oder es ist ungenau übersetzt.


Anderes Beispiel eines derartigen Übersetzungsproblems:

"Ein Schnitzel essen wie ein Krokodil."

Übersetzung A: Ein Schnitzel so essen, als wäre das Schnitzel ein Krokodil.

Übersetzung B: Ein Schnitzel so essen, wie ein Krokodil das Schnitzel essen würde.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.08.2018, 20:07

Jules Renard hat geschrieben:In einer Hütte Träume haben wie ein Kaiser. (1898)

Ich denke, dass die Hütte dieses "reich sein durch träume" quasi erweitert. Selbst in einer Hütte, kann man reich sein durch seine Träume. Dazu braucht es keinen Palast, wie ein Kaiser ihn hat.
Somit ist jeder gleich, ob Bauer oder Kaiser. Jeder ist reich durch seine Träume. Es geht somit meiner Meinung nach gar nicht darum, welche Träume ein Kaiser hat.

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Beitragvon Pjotr » 07.08.2018, 20:36

"Träume haben wie ein Kaiser" impliziert aber "Träume, welche ein Kaiser hat". Deswegen meine ich, das jener Satz -- so er das wirklich sagen will -- ungenau ist oder ungenau übersetzt wurde.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.08.2018, 22:30

Als Ohnmächtiger Träume von Allmacht haben ... Auf Wilhelm II. kam ich, weil Frankreich ja wieder Republik war (die Dritte), Deutschland aber diesen Kaiser hatte. Hat er an den gedacht? Oder eher ein wenig Napoleon III. nachgetrauert, der zu seiner Kinderzeit Kaiser war?
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Beitragvon Pjotr » 07.08.2018, 22:42

Würde einer wie Renard einem Diktator wie Napoleon III. wirklich nachtrauern?

Nebenbei: Komischerweise haben diese neuzeitlichen Größenwahnsinnigen nicht nur den Titel "Kaiser" von "Cäsar" kopiert; der dritte Depp hat auch noch vom ersten den Namen "Napoleon" kopiert -- ganz verwandschaftslos.

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Beitragvon birke » 08.08.2018, 08:03

.

"Avoir dans une cabane des rêves d'empereur"

- so lautet offenbar das original.
dieses könnte wohl durchaus auch so verstanden werden, meine ich: in einer hütte davon träumen, ein kaiser zu sein.
oder auch: rêves d'empereur: kaiserliche träume, was, wenn man es metaphorisch liest, zu einer meiner lesarten führt, "reiche träume" zu haben. (wobei es dann vielleicht eher hieße: des rêves impérials?)
also, ich würde es wohl so übersetzen: "in einer hütte träume eines kaisers haben".

immer wieder spannend, wie vieldeutig sprache sein kann.
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 08.08.2018, 10:16

Ja, gut der franz. Text. Es läuft auf den grammatischen Unterschied zwischen Genetivus objectivus und Genetivus subjectivus hinaus: "Die Liebe Gottes" kann die Liebe zu Gott oder seine Liebe bedeuten.
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Beitragvon Quoth » 12.08.2018, 08:13

Jules Renard hat geschrieben: Frau in großer Toilette, also ganz nackt.
(...)
Titel für ein Kapitel meines Tagebuchs: Ganz nackt. Nackt. (1901)

Ich habe noch nie so viele Tätowierte gesehen wie diesen Sommer - wohl wegen der Hitze sah man mehr Entblößtes. Die Tätowierten wollen nackt noch angezogen sein.
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Beitragvon birke » 12.08.2018, 10:49

tolles zitat!
(und wie fein passend auch zu meiner "suchenden" ;) )

tätowierungen ... interessantes phänomen. ich schätze, es soll interessant wirken, da das aber nunmehr beinahe normal ist, ist es umgekehrt wieder viel interessanter, ganz ohne zu sein: nackt!

:)
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Beitragvon Pjotr » 12.08.2018, 17:23

Tätowierungen ziehen Leute an.

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Beitragvon Mucki » 12.08.2018, 17:56

Quoth hat geschrieben:
Jules Renard hat geschrieben: Frau in großer Toilette, also ganz nackt.
(...)
Titel für ein Kapitel meines Tagebuchs: Ganz nackt. Nackt. (1901)

Ich habe noch nie so viele Tätowierte gesehen wie diesen Sommer - wohl wegen der Hitze sah man mehr Entblößtes. Die Tätowierten wollen nackt noch angezogen sein.


Hm, "Frau in großer Toilette" heißt für mich, dass sie sehr gepflegt aussieht, elegant angezogen und ebenso geschminkt. Wieso sieht sie Renard als nackt? :12:
Nackt wäre sie m.E., wenn sie eben nicht geschminkt wäre.


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