Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
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Beitragvon Quoth » 25.06.2019, 18:39

Deine Beispiele, Pjotr, sind für mich nur widersprüchliche Aussagen, keine Paradoxe. Ein Paradox enthält einen in sich verschlungenen Widerspruch: "Epimenides, der Kreter, sagte, alle Kreter sind Lügner." In Maxime 405 finde ich kein Paradox, nur ein Sichwundern darüber, dass man (oder wir oder ich) trotz fortgeschrittenen Lebensalters immer wieder ein Neuling, ein Anfänger sein kann. Als ich Vater wurde, war das ein Schock für mich, ich habe viele Fehler gemacht. Dabei war ich zu diesem Zeitpunkt schon 40 Jahre alt und hatte auch auf dem Gebiet des Vaterseins schon Erfahrung: Aber nur vom Ansehen oder Miterleben meines Vaters oder der Vaterschaft von Freunden. Aber all diese Erfahrung nützte mir nichts (oder wenig): Im Selbstvatersein war ich absoluter Anfänger. Also: Ja und nein, wie Birke schreibt - ich hatte Erfahrung, aber nicht die wichtigste, die der eigenen Verantwortung.
Von der Pizza kann ich ganz autobiografisch sagen: Ich liebe ihren Geschmack, aber ich hasse ihre Kalorien! Darin ist nichts Paradoxes. Mit diesem Widerspruch muss ich leben, indem ich mal der Lust, mal der Vernunft nachgebe.
de La Rochefoucauld hat geschrieben: Es gibt so sehr von sich erfüllte Menschen, dass sie, wenn sie verliebt sind, Mittel und Wege finden, sich mit ihrer Leidenschaft zu befassen, nicht aber mit der Person, die sie lieben.
Il y a des gens si remplis d'eux-memes que, lorsqu'ils sont amoureux, ils trouvent moyen d'etre occupés de leur passion sans l'etre de la personne qu'ils aiment. Maxime 500

Gab es im 17. Jahrhundert schon Stalker?
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Beitragvon Pjotr » 25.06.2019, 19:07

Was Du gerade erklärt hast, Quoth, ist zum Teil genau das, was ich auch eben erklärt habe. Ein scheinbarer Widerspruch, entstanden durch ungenaue Sprache, kann man auflösen, indem man Details hinzufügt.

Neuling Typ A und Neuling Typ B -- anstatt einen Neuling für alles zu nennen.

"Ich liebe ihren Geschmack, aber ich hasse ihre Kalorien."

Den singulären Pizza-Hass-Liebe-Widerspruch auflösen, indem die singuläre Pizza aufgeteilt wird in Pizza-Geschmack und Pizza-Kalorien.

Bei jenem Franzosen bleibt halt ein Einerlei aus "Neuling und Erfahrener". Er trennt das Einerlei nicht auf. Er ist neu und erfahren zugleich. Ob man das jetzt ein Paradoxon oder einen Widerspruch heißen kann, ist ja nebensächlich.

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Beitragvon Pjotr » 25.06.2019, 19:37

Es gibt so sehr von sich erfüllte Menschen, dass sie, wenn sie verliebt sind, Mittel und Wege finden, sich mit ihrer Leidenschaft zu befassen, nicht aber mit der Person, die sie lieben.

Während des Lesens finde ich es schwer, zu verstehen, worauf sich "Leidenschaft" bezieht: Auf das Selbsterfülltsein oder auf das Verliebtsein. Erst am Ende kann ich nachvollziehen, dass er mit "Leidenschaft" nicht das "Verliebtsein" meint. Gefällt mir nicht, diese Sprache.

Ich hätte es genauer geschrieben:
"Es gibt so sehr von sich erfüllte Menschen, dass sie, wenn sie verliebt sind, Mittel und Wege finden, sich mit ihrer Selbsterfüllung weiter zu befassen, nicht aber mit der Person, die sie lieben."

Ich habe ja grundsätzlich eine leichte Abneigung gegen übertriebene Synonymelei. Wenn zum Beispiel ein Journalist einen Artikel schreibt über einen Fußballer namens Schmidt: Der Autor wird nur einmal "Schmidt" schreiben. Danach wird er alternative Bezeichnungen für Schmidt einsetzen, damit der Text abwechslungsreicher wird. Der Bayer, der ehemalige Wirt, der Vereinsvorsitzende usw. Dass damit immer noch der Schmidt gemeint ist, kann der lesende Laie sich denken, solange keine weitere Person in den Text kommt. Kommt dann aber noch ein Meier dazu, und dann die Begriffe Bayer, ehemaliger Wirt etc., weiß ich nicht mehr wer was ist. Und so ähnlich geht es mir bei dem Zitat oben. Selbsterfüllung. Verliebtsein. Leidenschaft. Geliebte Person. Alles kreuz und quer vernetzt mit Aber-Pfeilen.

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Beitragvon birke » 27.06.2019, 17:08

heute ist mir dieser spruch von La Rochefoucauld begegnet:

Man verachtet nicht jeden, der Laster an sich hat, wohl aber jeden, der keine Tugend hat.


erstens ist das wieder verallgemeinernd durch dieses "man" und zweitens etwas pseudo-logisch, wie mir scheint. außerdem stellt sich mir die frage, gibt es überhaupt jemanden, der "keine", also überhaupt keine, tugend(en) hat?? und wie definiert man "laster" und "tugend"?

(ich hoffe, es ist okay, lieber quoth, dass ich das jetzt hier so poste in deinem faden...) :)
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Beitragvon Pjotr » 27.06.2019, 18:26

Mathematisch übersetzt:

"Alle Tugenden der Welt zusammen sind das Gegenteil von allen Lastern der Welt"
100 % gefüllt mit Lastern = 0 % gefüllt mit Tugenden
100 % gefüllt mit Tugenden = 0 % gefüllt mit Lastern

"Trocken ist das Gegenteil von nass"
100 % trocken = 0 % nass
100 % nass = 0 % trocken


Mit anderen Worten:

Man verachtet nicht jeden, der ...
... leicht angefüllt mit Lastern ist, wohl aber jeden, der vollgefüllt mit Lastern ist.
... leicht angefüllt mit Lastern ist, wohl aber jeden, der überhaupt keine Tugenden hat.
... nicht vollgefüllt mit Tugenden ist, wohl aber jeden, der vollgefüllt mit Lastern ist.
... nicht vollgefüllt mit Tugenden ist, wohl aber jeden, der überhaupt keine Tugenden hat.

Man verachtet nicht jeden, der ...
... nicht ganz trocken ist, wohl aber jeden, der vollkommen nass ist.
... ein wenig nass ist, wohl aber jeden, der vollkommen nass ist.
... nicht ganz trocken ist, wohl aber jeden, der kein bisschen trocken ist.
... ein wenig nass ist, wohl aber jeden, der kein bisschen trocken ist.


Fazit:

Wenn du einigermaßen anständig bist, dann bist du im Klub.

Eine banale Feststellung geschmückt mit Gewurschtel.


Selbst wenn man Tugend und Laster tiefer differenziert, kann man das schlussendlich beliebig auslegen:

"Der Graf starrt gern auf Frauenhintern, aber er ist stets pünktlich."
"Der Graf ist nicht immer pünktlich, aber er starrt nie auf Frauenhintern."

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Beitragvon Quoth » 27.06.2019, 22:20

Der Faden ist nicht mein, sondern unser Faden, Birke. Das einzige, was mir missfällt, ist, dass Ihr dazu neigt, den armen LR zu kritisieren, als wäre er ein Zeitgenosse. Vor fast 400 Jahren dachte und redete man anders. Wollt Ihr die Französische Revolution noch mal anzetteln und diesen Adelsfuzzi unter das Fallbeil legen? Ich würde es begrüßen, wenn Ihr das noch immer Treffende herausarbeiten würdet, statt Euch im Trennenden zu verbeißen!
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Beitragvon birke » 27.06.2019, 22:47

:) das ist schön, quoth.
und ja, verstehe schon... im prinzip ist ja alles dem zeitkontext unterworfen und in ihm zu verstehen. aber: er (LR) wird immer noch zitiert und seine sprüche veröffentlicht, als gelten sie, zeitlos. und ich denke schon, dass man ähm wir ;) ihn dann auch unter die lupe nehmen dürfen...? ist ja nicht bös, nur interessant!

ps: und ich gestehe, dass mir jules renard viel näher liegt, er schafft es, dinge so zu formulieren, dass er nicht verallgemeinert und doch (m)einen nerv trifft!
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Beitragvon Pjotr » 27.06.2019, 22:54

Der "treffende" Anteil in seinen Sprüchen ist halt dürftig. Was gibts da noch aufzublasen?

Wegen lächerlicher 400 Jährchen gebe ich dem Herrn keinen Idiotenbonus. Schon 2000 Jahre früher klopfte Sokrates weisere Sprüche. Die funktionieren heute noch ohne Bonus.



Sokrates (470 - 399 v. Chr.) hat geschrieben:
Rede, damit ich dich sehe!


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Beitragvon birke » 28.06.2019, 07:39

... oh ja... und dann gibt es diese, die tatsächlich immer zu jeder zeit gültig sind bzw immer verstanden werden können -
weiser sokrates, so klipp und klar bringt er da was auf den punkt! elementar. exzellent. was da alles drinsteckt.
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Beitragvon Quoth » 28.06.2019, 08:38

Sollte de La Rochefoucauld, trotz seiner Kritik der in allem aktiven Eigenliebe, entgangen sein, wie aufgeblasen er selber ist? Das hätte ihm mal ein Freund sagen sollen! Aber:
de La Rochefoucauld hat geschrieben:Was der Freundschaft am schwersten fällt, ist nicht, einem Freund seine Fehler zu gestehen, es ist, ihm die seinen zu erkennen zu geben.

PS: Pjotr, Sokrates hat nichts geschrieben.
Birke: Ist das Motto des auch von mir geschätzten Renard, das Du Dir gegeben hast, nicht sehr allgemein gehalten?
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Beitragvon Pjotr » 28.06.2019, 10:05

Quoth hat geschrieben:Pjotr, Sokrates hat nichts geschrieben.

Du hast Recht. Aber das musst Du der Foren-Software sagen :-)


de La Rochefoucauld hat geschrieben:Was der Freundschaft am schwersten fällt, ist nicht, einem Freund seine Fehler zu gestehen, es ist, ihm die seinen zu erkennen zu geben.

Bitte zunächst um Aufklärung:

Seine? Die seinen?

Wessen Fehler? Die des Autors? Oder die des Freundes des Autors?

Und da zur Freundschaft meistens zwei gehören, wer ist hier der Freund des anderen Freunds, und umgekehrt? Der eine Freund mit seinen Fehlern und der andere Freund mit seinen Fehlern. Der eine sagt dem anderen seine, und der andere sagt dem anderen seine. Aber sind das nun seine oder dessen seine?

Paris liegt an seinen und Frankfurt an meinen.


Mit "ich" wäre es so viel einfacher:

"Was meiner Freundschaft am schwersten fällt, ist nicht, meinem Freund meine Fehler zu gestehen, es ist, ihm die seinen zu erkennen zu geben."

Zum Inhalt: Bei manchen Menschen zutreffend. Kein allgemeines Gesetz.

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Beitragvon birke » 28.06.2019, 10:17

Quoth hat geschrieben:Birke: Ist das Motto des auch von mir geschätzten Renard, das Du Dir gegeben hast, nicht sehr allgemein gehalten?

meinst du meine signatur? nein, für mich nicht... :) "mond" mag zwar für jeden etwas anderes sein, bzw auch von fall zu fall, aber die metapher ist deutlich, finde ich?
lg
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Beitragvon birke » 28.05.2021, 13:00

Wenn jemand sagt: ich bin glücklich, so meint er damit einfach: Ich habe zwar Ärger, aber der lässt mich kalt.

(Jules Renard)

... steht heute in meinem kalender :)
da ist durchaus was dran, meine ich! (auch wenn das wieder ziemlich verallgemeinernd formuliert ist.) glück/ glücklich sein hat - wie ich auch an anderer stelle schrieb* - für mich etwas mit der inneren haltung zu tun, mit dem empfinden, weniger mit äußeren umständen. (natürlich gibt es aber auch ereignisse, die es zumindest zeitweise verhindern, glücklich zu sein, aber auch diese haben wohl letztlich immer mit einem selbst zu tun.)

*passt auch gut zu epiklords glücks-aphorismus, den ich gern hier verlinken würde, ihn aber gerade nicht finde. ;)
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Beitragvon Pjotr » 28.05.2021, 13:25

Ja, dieser Renard ist wirklich ein lyrisch-philosophisches Genie. Ich habe noch nie so viele treffende Aphos von einer einzigen Person gelesen. Und dann lässt sich das auch noch so gut ins Deutsche übersetzen; das liegt wohl an dem starken, puren, intersprachlichen Gedanken-Konzentrat, das ohne kulturspezifische Sprachwitzelei auskommt.


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