Heimkehren
Vor ungefähr einem Jahr, am 26. Januar, starb meine Mutter. Sie war schon seit Längerem bettlägerig gewesen, dennoch traf mich die Mitteilung ihres Todes unvorbereitet. Anders hatte die Nachricht als erster erfahren und verständigte mich telefonisch. „Mama ist heute Nacht gestorben“, war alles, was er sagte. Noch bevor die Trauer einsetzte, kam mir der absurde Gedanke, dass ich nun, mit 56 Jahren, Vollwaise geworden war. Weiß Gott, wieso Anders es wieder einmal früher wusste als der Rest von uns, schließlich dozierte er an einer kleinen Universität in den Staaten.
Anders war immer der erste. Sowohl alphabetisch – wer wollte es da schon mit einem Anders Abel aufnehmen – als auch chronologisch. Als erster von uns fünfen wurde Anders geboren, dann Heinrich, der nun als Arzt im Süden praktiziert, dann mein Zwillingsbruder Max, der Theologe, und ich, schließlich unser Nesthäkchen Martha. Uns alle hatte unser Vater ein Instrument gelehrt, aber Anders und Martha verband das Klavier in besonderem Maße. Stundenlang saß Martha am Piano, stand Anders daneben, wiederholte sie dieselbe Phrase, verbesserte er ihr Spiel. „Schneller“, „rhythmischer“, „gefühlvoller“ klang es immer wieder zu uns herüber. Damals hätte wohl niemand vorhergesagt, dass Martha einmal eine bekannte Pianistin werden würde.
Auch in der Schule war Anders stets der erste. Wir waren alle keine schlechten Schüler, aber Anders machte als erster Abitur und er machte das beste. Nicht nur von uns fünfen, der Schule oder der Stadt. Anders machte das beste Abitur des Landes und das zweitbeste, was jemals landesweit bestanden wurde. Kam die Sprache darauf, vergaß Anders nie zu erwähnen, dass das beste 1943, also in den Kriegwirren und somit sozusagen unter verzerrten Wettbewerbsbedingungen zustande gekommen war. Auch im Studium – Anders studierte Philosophie, natürlich, die Königsdisziplin, wie er sie nannte – ragte er heraus. Seine Magisterarbeit wurde in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert. Allerdings zog sich seine Dissertation über Gebühr hin. Nie schien sie ihm vollkommen und seine Karriere bekam einen leichten Knick. Vielleicht hatten ihn danach deshalb verschiedene Universitäten immer nur auf Zeitverträgen beschäftigt. Dennoch blieb Anders das Vorbild der Familie. Wie eine Monstranz trug unser agnostischer Vater, Gott hab ihn selig, Anders Leistungen vor uns her; so hoch hielt er sie, dass mich selbst heute, beinahe vierzig Jahre später, ein heiliger Schauder überkommt, wenn ich daran denke.
Ich kam mit Anders überein, ihn am Flughafen abzuholen. Seine Frage am Telefon „Wird dein Auto auch geräumig genug sein?“ hielt ich zunächst für einen misslungenen Scherz, ich hatte vergessen, wie er war. Doch als ich ihn durch die gläserne Tür, welche die Gepäckausgabe von der Einganghalle trennte, am Gepäckband hantieren sah, wusste ich wieder, dass Anders bei nie scherzte. Ich wusste nicht, was genau er alles eingepackt hatte, aber selbst auf die Distanz war die Mühe erkennbar, mit der er die beiden Überseekoffer vom Band zog. Ich erinnerte mich: Schon als Kind hatte Anders das Schweizermesser mit den meisten Funktionen. Später trug er auch im Hochsommer bei 30 Grad im Schatten immer einen Regenschirm bei sich, nur „für den Fall der Fälle“, wie er skeptischen Mienen darzulegen pflegte. Und so folgten den beiden Überseekoffern noch zwei weitere unförmige Pakete, von denen eines erkennbar die Form eines Bügelbretts hatte. Ich sah ihn gestenreich mit einem Zollbeamten diskutieren, der ihn schließlich zweimal durch die Sicherheitsschleuse gehen ließ, um seine ganze Bagage in die Vorhalle zu schaffen.
„Ich wusste gar nicht, dass du neuerdings surfst“, scherzte ich nach der Begrüßung, während wir zwei Gepäckwagen zu meinem Auto manövrierten.
„Das – ist kein Surfbrett. Das ist ein Bügelbrett!“ erklärte Anders ohne eine Spur von Ironie.
„Oh“, entgegnete ich, „so etwas hätten wir sicher hier in Europa nicht aufzutreiben gewusst. Ich hoffe, du hast auch an ein Bügeleisen gedacht.“
„Natürlich“, antwortete er prompt. „Das Bügeleisen befindet sich in einem der Koffer. Ich möchte Mama auf ihrer Beerdigung unter keinen Umständen in einem zerknitterten Frack entgegentreten.“
Ich schwieg. Erst als wir schon im Auto saßen, wagte ich mich nach dem Inhalt des zweiten Pakets zu erkundigen. „Darin befindet sich nur mein Klapprad“, erklärte Anders mit unbewegter Mine. Jede weitere Nachfrage erübrigte sich. Zweifellos hätte er mir die Vorteile, genau dieses Klapprad beim Haus unserer Eltern zur Verfügung zu haben, in schillernden Farben ausmalen können. Ich verzichtete darauf. Die Vergangenheit traf mich in Form eines Bügelbretts und eines Klapprades und mit unerwarteter Heftigkeit.
Als wir später mit unseren Geschwistern beim Abendessen saßen, war mir die Vergangenheit schon wieder vertrauter. Anders hatte Vaters Platz an der Stirnseite der Tafel eingenommen, Mutters Platz ihm gegenüber blieb leer. Niemand hatte dies ansprechen müssen, es hatte sich ganz von allein so ergeben. Fast wirkte Mutter durch ihr Fehlen präsenter als sie es durch ihre stille Art bei vielen unserer lebhaften Treffen gewesen war. Auch diesmal schwirrte das Gespräch trotz des traurigen Anlasses schnell durch die vielen gemeinsam erlebten Augenblicke. Vor allem das gemeinsame Musizieren war immer ein Gesprächsthema, diesmal aber eine besonders kostbare Erinnerung. Vater hatte uns das Musizieren beigebracht, aber Mutter hatte es geliebt. Besonders wenn Anders ein ganzes Orchester erklingen lassen wollte und sich mit Trompete, Cello und Pauke gleichzeitig abmühte, von einem Instrument zum anderen wieselte, schließlich vor lauter Eifer jegliche Steifheit verlor und in ein Lachen ausbrach, das erst durch Atemnot und Lachtränen gestoppt wurde. An diesem Abend genügte schon das Erinnern, um Tränen in Anders Augen treten zu lassen.
All dies unterschied sich kaum von hundertfach Erlebten und doch war vieles anders. Vater war vor zehn Jahren gestorben, nun Mutter. Selbst Marthas schwarzes Haar durchzogen schon silberne Fäden. Heinrich hatte beinahe eine Glatze und ich neigte, ähnlich wie Max, zur Dicklichkeit. Nur Anders war von jeher Anders. Seine Haltung beinahe schmerzhaft aufrecht, als wolle er ein Rufzeichen setzen. Seine Sprache war klar, seine Kleidung akkurat, seine Sätze druckreif. Wie aus der Zeit gefallen mochte er wirken, nur der Ansatz seiner Schläfen war leicht ergraut. Doch nicht seine Schläfen waren es, die auch ihn um eine Winzigkeit verändert erschienen ließen.
Die Leichtigkeit des Gesprächs trug nicht nur mich in eine andere Wirklichkeit. Erst beim Kaffee entstand eine Pause und jeder hing seinen Gedanken nach. In die Stille hinein stellte Heinrich die Frage, die auch ich mir schon gestellt hatte: „Und was wird aus dem Haus?“
Niemand mochte darauf als erster antworten. Mein Blick wanderte zu Anders, doch der rührte scheinbar abwesend seinen Kaffee um. Schließlich antwortete Heinrich selbst auf seine Frage: „Ihr wisst, ich wohne 500 Kilometer von hier. Ich könnte mich nicht darum kümmern.“
„Mir geht es ähnlich“, stimmte Martha zu. „All die Konzertreisen, die Aufnahmen. Ich bin fast nie in der Gegend.“
„Also sollen wir verkaufen?“ Heinrichs Frage stand nun offen im Raum.
„Nein!“ riefen Max und ich zugleich aus wie es uns früher als Kindern auch oft passiert war. Als lebten wir nicht seit Jahren in verschiedenen Städten und als vergingen manchmal nicht Monate ohne einen Anruf waren wir einer Meinung. „Wir können es nicht einfach verkaufen“, argumentierte er. „Es ist das Haus, das Vater gebaut hat. Diese Mauern hat er mit hochgezogen. Hier wohnen unsere Erinnerungen, all das, worüber wir eben gesprochen haben, ist hier passiert.“
Ja, genau so empfand ich es auch, und dankbar legte ich Max die Hand auf den Arm. Mit jemandem geboren zu sein, der mein Fühlen und meine Erinnerung teilte, der so perfekt aussprechen konnte, was ich dachte, das war schon ein Wunder „Aber was wollt ihr machen?“ bohrte Heinrich nach.
„Man könnte es vermieten“, schlug ich vor.
„Selbst dann wäre es gut, wenn jemand gelegentlich nach dem Haus sehen könnte“, warf Martha ein. „Ihr beiden wohnt ja auch nicht gerade um die Ecke.“
Das stimmte. Dennoch, das Haus zu verkaufen, war für ich einfach unvorstellbar. Das Gespräch wurde hitziger, bis Max es mit einem einzigen Wort stoppte: „Patt!“
Mit einem Mal wurde uns klar, dass Anders noch gar nichts dazu gesagt hatte. Alle Blicke wanderten zum Kopfende der Tafel. Anders rührte immer noch in seinem Kaffee. Max schaute mich an. Was war von Anders zu erwarten? Er wohnte ein paar tausend Kilometer von diesem Haus entfernt.
Er schien zu überlegen. Dann sagte er leise, aber sehr bestimmt, so dass seine Worte einen beinahe offiziellen Status erhielten: „Mir wäre es recht“, „wenn wir das Haus behalten könnten. Es gab im letzten Monat zwischen meinem Dekan und mir unüberbrückbare Differenzen – ich habe meine Anstellung verloren. In zwei Monaten werde ich zurück nach Europa kommen. Ich könnte in dem Haus wohnen. Ich würde euch selbstverständlich Miete bezahlen.“
Anders Haltung war nun eine Spur weicher. Er hatte ein Urteil gesprochen, nicht nur über das Haus. Es wurde still. Nun rührte ich in meiner Kaffeetasse. Mit einem Male fiel mir wieder ein, das Mutter tot war und zum ersten Mal begriff ich es. Eine Welt ohne sie erschien mir seltsam unwirklich.
Dennoch ahnte ich, dass es mir leichter fallen würde, Mutters Tod zu akzeptieren als die Umstände für Anders Rückkehr. Max muss es ähnlich ergangen sein. Ein paar Wochen nach der Beerdigung sandte er mir ein Photo, das er an jedem Abend kurz nach dem Gespräch aufgenommen hatte. Nur das Bild, sonst nichts. Unsere Gesichter sind noch heiß von der Diskussion. Nur Anders scheint ohne Emotion, sein Körper ist straff wie beim Appell. Seine Hände sind zu Fäusten geballt. Über den Fingerknöcheln spannt sich die Haut weiß.
Änderungen aufgrund von Anregungen von Birute, Scarlett und vor allem Klara, Danke!!
Heimkehren
genau, und dann wird er dort von den Zollbeamten aufgehalten, der Erzähler erlebt alles hautnah mit. Und dann kommen lauter andere "seltsame" Dinge zum Vorschein und Anders verhält sich halt anders,-) Das könnte eine total urige Szene werden!
Max, du siehst, da ist noch einiges drin in deiner Story! *lach*
Saludos
Magic
Max, du siehst, da ist noch einiges drin in deiner Story! *lach*
Saludos
Magic
Hallo Max,
ja, das glaube ich auch so langsam. So ist das mit Geschichten. Ich will auch immer gerne kurz schreiben, doch dann werden es meistens sehr lange Geschichten.
Aber: es ist eine Herausforderung, Max,-) Und du stehst ja nicht unter Zeitdruck, also, warum nicht? Wenn ich an so einem Punkt stehe, beginne ich erstmal damit, Ideen zu sammeln, dann formen sich die Ideen zu Szenen u.s.w....
aufmunternde Grüße!
Magic
ja, das glaube ich auch so langsam. So ist das mit Geschichten. Ich will auch immer gerne kurz schreiben, doch dann werden es meistens sehr lange Geschichten.
Aber: es ist eine Herausforderung, Max,-) Und du stehst ja nicht unter Zeitdruck, also, warum nicht? Wenn ich an so einem Punkt stehe, beginne ich erstmal damit, Ideen zu sammeln, dann formen sich die Ideen zu Szenen u.s.w....
aufmunternde Grüße!
Magic
Lieber Max,
ich habe das sehr gern gelesen, ja, und wenn es fünfzig Seiten werden wollen, ich glaube, dann werde ich sie auch gerne lesen. Du hast toll erzählt und den Spannungsbogen gut gehalten.
Übrigens ist es bei mir genau umgekehrt: Ich würde gern lang schreiben, aber dann wird es immer "nur" kurz.
Liebe Grüße
leonie
ich habe das sehr gern gelesen, ja, und wenn es fünfzig Seiten werden wollen, ich glaube, dann werde ich sie auch gerne lesen. Du hast toll erzählt und den Spannungsbogen gut gehalten.
Übrigens ist es bei mir genau umgekehrt: Ich würde gern lang schreiben, aber dann wird es immer "nur" kurz.
Liebe Grüße
leonie
Hallo Max,
prima, wenn du doch mehr schreiben willst, tu dir bloß keinen Zwang an.
Her damit, auch gern in der "Schreibstube"... Äh unter der Lupe... mein ich natürlich
Tja, mit dem Gepäck... aber das sind kleine Details, nur sollten sich die Leser das nicht fragen müssen...
Aber was mich mehr interessiert, ich bin mal wieder die Einzige, die das anmäkelt scheint mir, und das ist ein wenig mehr als eine Kleinigkeit:
Die Rückkehr Anders' aus den Staaten, die ich schon auf Grund desssen vermute, dass er mit dem halben Hausrat kommt, dazu würde ich gern etwas von dir lesen.
Liebe Grüße
Gerda
PS übrigens toller Titel oder tolle Phrase: Ich glaube sie will eigentlich mehr als 50 Seiten...
prima, wenn du doch mehr schreiben willst, tu dir bloß keinen Zwang an.
Her damit, auch gern in der "Schreibstube"... Äh unter der Lupe... mein ich natürlich
Tja, mit dem Gepäck... aber das sind kleine Details, nur sollten sich die Leser das nicht fragen müssen...
Aber was mich mehr interessiert, ich bin mal wieder die Einzige, die das anmäkelt scheint mir, und das ist ein wenig mehr als eine Kleinigkeit:
Die Rückkehr Anders' aus den Staaten, die ich schon auf Grund desssen vermute, dass er mit dem halben Hausrat kommt, dazu würde ich gern etwas von dir lesen.
Liebe Grüße
Gerda
PS übrigens toller Titel oder tolle Phrase: Ich glaube sie will eigentlich mehr als 50 Seiten...
Liebe Gerda,
hm, so war es nicht gemeint. Wenn Du das so liest, ist natürlich das ganze Skurrile an der Aktion auch weg, denn es ist ja ganz natürlich, wenn jemand seine Sachen mitnimmt, wenn er umzieht, oder?
Mal schauen,w as mir noch alles zu Anders einfällt ..
Liebe Grüße
Max
Die Rückkehr Anders' aus den Staaten, die ich schon auf Grund desssen vermute, dass er mit dem halben Hausrat kommt, dazu würde ich gern etwas von dir lesen.
hm, so war es nicht gemeint. Wenn Du das so liest, ist natürlich das ganze Skurrile an der Aktion auch weg, denn es ist ja ganz natürlich, wenn jemand seine Sachen mitnimmt, wenn er umzieht, oder?
Mal schauen,w as mir noch alles zu Anders einfällt ..
Liebe Grüße
Max
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